Der hohe Preis der Befreiung vom IS
Für die Befreiung vom „Islamischen Staat“ zahlen die Bewohner der irakischen Kleinstadt einen hohen Preis
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Rund dreißig Kilometer südlich von Mossul liegt die irakische Kleinstadt al-Qayyara. Sie war 23 Monate Teil des vom „Islamischen Staat“ (IS) ausgerufenen Kalifats und wurde am 24. August durch die irakische Armee, „internationale Koalitionskräfte“ (CJTF–OIR) und selbstorganisierte Bürgerwehren befreit.
Seit Ende August brennen hier die Ölfelder. Mehr als zwanzig zündete der IS an, als die Offensive zur Befreiung der Stadt begann. Die riesige, pechschwarze Wolke sollte den Himmel bedecken und damit den Hubschraubern und Kampfjets die Sicht nehmen. Während der blutigen Kämpfe, die mehrere Tage andauerten, befanden sich schätzungsweise noch 25 000 Zivilisten in der Stadt. Als die Stadt am 24. August dann endgültig den Händen des Kalifats entrissen wird, ist die Wolke immer noch da.
„Sie zwingt uns dazu, uns an Daesh zu erinnern“, sagt Athir Ibrahim – Daesh ist das arabische Akronym für den „Islamischen Staat“. Sein Haus und seine zwei Läden sind komplett zerstört. Durch einen Raketenangriff und durch das Öl, dessen klebrige Masse über jedem Quadratzentimeter liegt. Das Leben unter dem IS beschreibt er als grausam. „Wer geraucht hat, wurde bestraft, alle mussten sich die Haare lang wachsen lassen, man durfte nach 9 Uhr abends nicht aus dem Haus.“ Mit rußverschmierten Händen unterlegt er seine Worte: „Das Erste, was ich gemacht habe, als die weg waren, ist auf dem Weg zum Friseur eine Zigarette anzuzünden“.
Obwohl Athir wieder Freiheiten besitzt, die unter der Herrschaft des IS undenkbar waren, hat ihn die Befreiung alles gekostet, was er besitzt. Das Bild, das sich von der Kleinstadt am Tigris zeichnen lässt, ist eines von absolutem Elend. Es gibt keine Arbeit, kaum eine Schule hat noch regelmäßig Betrieb. Große Teile der Bevölkerung leiden unter ähnlich Symptomen: Atembeschwerden, Kreislaufprobleme, Kopfschmerzen. Das größte Krankenhaus der Stadt wurde jedoch während der Kämpfe komplett zerstört, es steht nur noch die Fassade. An medizinische Versorgung zu gelangen, ist eine gewaltige Herausforderung.
Das nächste funktionale Krankenhaus liegt in der von kurdischen Perschmergas kontrollierten Stadt Erbil, auf der anderen Seite des Flusses Tigris. Doch die Kurden tun sich schwer, damit Zivilisten durchzuwinken. Zu groß ist die Angst der Behörden vor Terrorismus, der in der Fluchtwelle versteckt herüber schwappen könnte. Ohne Sondergenehmigung, Sicherheitsprüfung oder Geld haben die Kranken und ihre Familien wenig Chancen. Sie stecken fest in einer Stadt, dessen bestialischer Gestank einen überall hin verfolgt. Nichts und niemand in al-Qayyara wird vom dem schwarzen Ruß verschont, der sich wie ein Tuch über die Stadt legt und sie erstickt. Sogar die Kühe sind schwarz gefärbt. Die Verantwortung für den Wiederaufbau möchte jedoch niemand übernehmen. Ein einziges, einsames Löschfahrzeug der staatlichen Ölfirma bekämpft die schier unbeugsamen Flammen.
Die Menschen hier leben zwischen den Ruinen des alten Kalifats und dem neuen Irak; jenem neuen Irak, der nach der Schreckensherrschaft des IS gravierende politische und humanitäre Missstände aufweist, die die Verwirklichung des Traums von einem besseren Leben noch deutlich hinauszögern werden. Die irakische Armee ist durch al-Qayyara nur durchmarschiert. Den strategisch günstig gelegenen Flughafen und die Brücke über den Tigris haben sie noch unter Kontrolle. Ansonsten patrouillieren bewaffnete Zivilisten die Straßen und sorgen in der Stadt für Ordnung. Sie bekennen sich zu den al-Haschd al-Shaabi.
Diese Milizionäre, lose organisiert unter einem von Bagdad genehmigten Dachverband, haben mit den prunkvoll gekleideten schiitischen Kämpfern, die für ihre Entschlossenheit gefürchtet werden, wenig zu tun. Es sind meist arme Jugendliche, die das hinterlassene Machtvakuum füllen. „Die Leute vertrauen uns mehr, weil wir von hier kommen“, erzählt ein Kämpfer, während er auf das brennende Öl blickt. „Und bevor ihr fragt, ja, wir bekommen Unterstützung vom Iran, aber nur sehr wenig“, und er fügt noch hinzu: „Und ich bin Sunnit!“. Oft sind es noch Kinder, die mit einer Kalaschnikow in der Hand die Autos auf den Straßen inspizieren. Man sieht ihnen die Nervosität an, die Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben, denn Selbstmordattentate an Kontrollpunkten sind keine Seltenheit.
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Die groß angekündigte Kampagne zur Befreiung des Iraks vom „Islamischen Staat“ hinterlässt Spuren. Die Straße von Bagdad nach Mosul wurde überhastet freigekämpft, wie das bei den Kampfhandlungen zerstörte Kriegsgerät bezeugt, das einfach zurückgelassen wurde. Noch immer befinden sich Kämpfer des IS in der Umgebung der Stadt. In den letzten Wochen sind öfters Raketen mit Senfgas in al-Qayyara eingeschlagen. Nachts kommt es zu sporadischen Blitzangriffen. Dass der IS zu dieser Zeit die Stadt wieder einnimmt, gilt als sehr unwahrscheinlich. Es geht wohl eher darum, die Menschen nicht vergessen zu lassen, dass die Gefahr immer noch an jeder Ecke lauern kann.
(Der Artikel stammt von Andreas Schmidt, die Fotos von Sylvio Hoffmann)