Kriege

„Das vom Bundestag erteilte Afghanistan-Mandat ist hinfällig“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

1280330790

Während Regierung und Teile der Presse versuchen, die Wikileakenthüllungen herunterzuspielen, zeigen die Dokumente immer deutlicher, dass der Bundeswehreinsatz auch rechtlich auf tönernen Füßen steht

Von THOMAS WAGNER, 28. Juli 2010 –

Die 90.000 überwiegend geheimen Dokumente über den Krieg am Hindukusch, die von der Website Wikileaks in der Nacht zu Montag veröffentlicht wurden, entpuppen sich als weitaus brisanter, als führende Medien und Regierungspolitiker einzugestehen bereit sind.

Abwiegelungsversuche

Misstrauisch macht die Schnelligkeit, mit der eine ganze Reihe von Medienvertretern und Politikern dem Eindruck entgegenwirkten, die Dokumente könnten relevante neue Informationen enthalten. „Das veröffentlichte Material mag Fachleuten einen einmaligen Einblick in die vielen Facetten des Konflikts am Hindukusch geben. Und in Einzelfällen wird möglicherweise bewiesen, was in der Öffentlichkeit bisher nur irgendwie gewusst oder vermutet worden ist. Eine ganz neue Beurteilung der Verhältnisse fordern diese Dokumente nicht“, kommentierte Horst Bacia am 26.07.2010 in der FAZ: „Dass die Lage ernst ist in Afghanistan, haben wir bisher auch schon gewusst.“ (1) Daher frage er sich, ob das öffentliche Interesse einen derart massiven Geheimnisverrat rechtfertige.
(2)

Die Welt, das politische Flaggschiff des Springerverlages, stellt die Legitimation der Veröffentlichung zwar nicht in Frage, aber auch sie kann in den Dokumenten wenig Neues erkennen: „Sowohl das zielgerichtete Vorgehen von US-Spezialeinheiten gegen Taliban-Führer als auch der Einsatz von bewaffneten Drohnen sind seit Jahren bekannt.“ (3)

Unglaubwürdig sind diese Äußerungen schon deshalb, weil niemand in der Lage ist, mehrere zehntausend Dokumente in nur wenigen Tagen auch nur einigermaßen verlässlich darauf zu prüfen, ob sie wirklich keine wichtigen neuen Informationen enthalten.

Gleichwohl versuchen auch führende Regierungspolitiker die Brisanz der bislang geheim gehaltenen Papiere herunterzuspielen. „Nicht gänzlich überraschend“ seien viele Dinge, die aus den Dokumenten bisher bekanntgeworden seien, sagte beispielsweise Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) im ZDF.“ (4)

Der verteidigungspolitische Sprecher der Unions-Fraktion, Ernst-Reinhard Beck (CDU), streitet zudem rundheraus ab, dass der deutsche Bundestag bislang unzureichend informiert gewesen sein könnte. „Wir haben eine turnusgemäße Unterrichtung der Obleute im Verteidigungsausschuss und im Auswärtigen Ausschuss. Da wird regelmäßig über das berichtet, was an Operationen etwa der Spezialkräfte in Afghanistan läuft“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa.

Unzureichende Information

Aber längst nicht alle Bundestagsabgeordneten fühlen sich ausreichend informiert. Grünen-Politiker Nouripour sagte, die Dokumente enthielten Details, die ihm neu seien. „Es ist nach der Lektüre der US-Dokumente aus unserer Sicht verstörend, wie wenig die Bundesregierung das Parlament über die Aktivitäten von amerikanischen Spezialkräften im deutschen Gebiet (in Nordafghanistan) unterrichtet hat“, sagte sein Fraktionskollege Jürgen Trittin gegenüber Spiegel-online. Ihm sei nicht klar, ob nicht doch Bundeswehrsoldaten an US-Aktionen zur Festnahme oder Liquidierung von Taliban beteiligt gewesen seien.

Auch der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Rainer Arnold, fühlt sich über die „Task Force 373“ ungenügend informiert. „Mein Eindruck ist, dass die Bundesregierung da auch nur einen begrenzten Einblick hat“, sagte er Spiegel-online. Der Linken-Abgeordnete Paul Schäfer wiederum forderte eine umfassende Aufklärung darüber, „ob die Bundeswehr direkt oder indirekt Unterstützung und Zuarbeit bei gezielten Tötungen geleistet hat“.

Parlamentarisches Kontrolldefizit

Grünenpolitiker Hans-Christian Ströbele sagte am Mittwoch gegenüber der jungen Welt, die nun offenliegenden Fakten, dass durch Geheimdienstoperationen der im deutschen Lager Masar-i-Sharif stationierten US-amerikanischen „Task Force 373“ Menschen gezielt getötet wurden, sei von offizieller Seite immer bestritten worden. Diese Tötungen seien „eindeutig extralegal.“ (5)

Auch widersprach Ströbele vehement der Behauptung von Unionspolitikern, die Obleute in den zuständigen Ausschüssen seien  über die Aktivitäten der „Task Force 47“, einer geheimen Einheit der Bundeswehr in Afghanistan, laufend informiert worden. „Gerade darüber, was diese geheime Einheit in Afghanistan macht, gibt es nur sehr spärliche und völlig unzureichende Informationen. Ich versuche immer wieder, mit parlamentarischen Anfragen mehr zu erfahren. Meist wird ausweichend geantwortet. Es gibt ein Kontrolldefizit: Auf der einen Seite wird gesagt, über diese Einheit wird im Verteidigungsausschuss und nicht im Parlamentarischen Kontrollgremium zur Überwachung der Geheimdienste informiert, weil das eine Sache der Bundeswehr ist. Auf der anderen Seite wird dann im Verteidigungsausschuss gesagt, die Informationen würden dem Parlamentarischen Kontrollgremium gegeben, weil es sich um eine geheime Einheit handelt.“ (6)

Einsatz durch Mandat nicht gedeckt

Dass die von Wikileaks veröffentlichten Dokumente in Deutschland immerhin so viel Sprengkraft entfalten könnten, dass die deutschen Truppen aus Afghanistan abgezogen werden müssten oder der Bundestag das Mandat für die Bundeswehr in Afghanistan zumindest neu zu debattieren hätte, geht aus einem entschiedenen Kommentar der taz-Chefredakteurin Ines Pohl vom 26. Juli hervor.

Für sie steht nach den Wikileaks-Enthüllungen eindeutig fest, „dass im deutschen Lager Masar-i-Sharif Scharfschützen beherbergt werden, die Männer, Frauen und Kinder töten – und das belegen die Dokumente –, verstößt eindeutig gegen das deutsche Mandat. Damit haben es jene, die schon lange den Abzug der Bundeswehr fordern, nun schriftlich: Auch nach Einschätzung der Militärs hat die Bundeswehr mit ihrem Mandat in Afghanistan nichts zu suchen. Sie muss abgezogen werden.“ (7)   

Auch der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Wolfgang Gehrcke, stellte das Mandat für den Bundeswehr-Einsatz vorsichtig infrage. „Das vom Bundestag erteilte Afghanistan-Mandat ist hinfällig. Es wurde auf einer falschen, zumindest unzureichenden Informationsgrundlage beschlossen“, hieß es bei dpa.  


Quellen: dpa und

(1) http://www.faz.net/s/Rub7FC5BF30C45B402F96E964EF8CE790E1/Doc~E861BA5EA0B404662A7773F0795019D78~ATpl~Ecommon~Scontent.html

(2) http://www.faz.net/s/Rub7FC5BF30C45B402F96E964EF8CE790E1/Doc~E861BA5EA0B404662A7773F0795019D78~ATpl~Ecommon~Scontent.html

(3) http://www.welt.de/politik/ausland/article8677390/Die-Anmassung-des-Wikileaks-Gruenders.html

(4)  
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,708744,00.html

(5) http://www.jungewelt.de/2010/07-28/037.php

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren

(6) http://www.jungewelt.de/2010/07-28/037.php

(7) http://www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/die-schmutzige-realitaet/

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Kriege Das Wiegenlied vom Totschlag. Wikileaks enthüllt unterdrückte Wahrheit über den Afghanistan-Krieg
Nächster Artikel Kriege Russland erweitert militärische Hilfe für US-Besatzung in Afghanistan