„Blaue Linie“ unter Feuer
Als Reaktion auf den Tod von Zivilisten im Süden des Libanon durch Beschuss der israelischen Armee hat die libanesische Hisbollah am Wochenende (14./15. Oktober) gezielt Vergeltung geübt.
Nach Angaben der Organisation wurden an verschiedenen Orten Stellungen der israelischen Armee sowie Kommunikations- und Überwachungseinrichtungen mit Gewehrfeuer und Panzerabwehr-Lenkraketen zerstört. Bereits am Samstag waren fünf israelische Militärstellungen von der Hisbollah angegriffen worden.
Ein Sprecher der Israelischen Armee bestätigte die Angriffe und sprach von einem Toten und fünf verletzten Soldaten. Nach Angaben des Armeerundfunks waren bereits zuvor aufgrund „eines operativen Fehlers während militärischer Marineaktivitäten nahe der Grenze zum Libanon“ eine Soldatin getötet und ein Soldat verletzt worden. Die Bevölkerung in verschiedenen Siedlungen in dem Gebiet südlich der „Blauen Linie“ wurde aufgefordert, die Schutzräume aufzusuchen. In der Siedlung Matulla wurde die Bevölkerung aufgefordert, Türen geschlossen zu halten, weil mit „Infiltrationen“ zu rechnen sei.
Am ganzen Wochenende griff die israelische Armee libanesische Dörfer unweit der „Blauen Linie“ aus der Luft und mit Artillerie an. Am Sonntag, den 15. Oktober, wurde schließlich eine vier Kilometer breite Pufferzone entlang der „Blauen Linie“ und die Evakuierung von 28 israelischen Siedlungen in dem Gebiet angeordnet.
UNIFIL-Hauptquartier getroffen
Die „Blaue Linie“ ist nach den blauen Tonnen mit UNO-Markierung benannt, mit denen die Organisation der Vereinten Nationen nach dem Abzug der israelischen Besatzungstruppen aus dem Libanon im Jahr 2000 eine Waffenstillstandslinie markierte. Die Linie folgt der von Frankreich und Großbritannien 1916 gezogenen „Sykes-Picot-Linie“, die das Gebiet willkürlich in eine britische und eine französische Interessensphäre zerteilte. Inzwischen hat Israel entlang der „Blauen Linie“ eine Mauer gebaut. Eine Grenze gibt es zwischen dem Libanon und Israel nicht, die sich im Krieg befinden.
Am Sonntag meldete das Hauptquartier der UNO-Friedenstruppen im Libanon, UNIFIL, den Beschuss ihres Hauptquartiers. Niemand sei zu Schaden gekommen, unklar sei, von wo der Beschuss gekommen war. Niemand übernahm die Verantwortung.
Hisbollah warnt vor Angriffen auf Journalisten
Die Hisbollah veröffentlichte zu ihren Angriffen auf israelische Stellungen ausführliche Erklärungen und Videoaufnahmen, um die Angriffe zu dokumentieren. Sie seien eine Antwort auf den anhaltenden Beschuss libanesischer Dörfer seitens der israelischen Armee, bei denen am Freitag und Samstag Zivilisten getötet worden waren. Zwei ältere Personen starben, als am Samstag ihr Haus in Scheeba von der israelischen Armee beschossen worden war. Ein Journalist war am Freitag (13.10.) auf libanesischem Territorium auf dem sogenannten Journalistenhügel an der „Blauen Linie“ bei Beschuss durch die israelische Armee getötet worden.
Am frühen Freitagabend war das Fahrzeug einer Journalistengruppe, die den ganzen Tag über entlang der „Blauen Linie“ unterwegs gewesen war, gezielt von der israelischen Armee beschossen worden. Issam Al Abdullah, ein libanesischer Videofilmer der Nachrichtenagentur Reuters, wurde getötet, zwei weitere Journalisten von Reuters, zwei Journalisten von Al Jazeera und ein AFP-Journalist wurden verletzt. Abdullah saß einige Meter von dem Fahrzeug entfernt auf einer Mauer, um ein Live-Signal mit seiner Kamera herzustellen, damit die Kollegen übertragen konnten, als er getötet wurde. Dann wurde das Fahrzeug direkt beschossen und die anderen Journalisten verletzt. Das Fahrzeug war mit einer Satellitenschüssel auf dem Dach deutlich als Pressefahrzeug zu erkennen und auch die Journalisten waren klar mit Helm und Schutzwesten als „Presse“ gekennzeichnet.
Die israelische Armee erklärte, sie werde „den bedauerlichen Zwischenfall“ untersuchen. Zu dem Zeitpunkt soll „eine Gruppe Männer“ versucht haben, die Sperrmauer zu überwinden. Aus nicht näher benannten libanesischen Sicherheitskreisen hieß es, die Männer hätten sich vom Grenzzaun bereits zurückgezogen, als die israelische Armee auf die Journalisten feuerte.
Journalisten im Fokus israelischer Armee
Gezielte Angriffe der israelischen Armee auf Journalisten und Medieneinrichtungen gehören offenbar zur Kriegsstrategie. In Gaza wurden seit Beginn der israelischen Bombardierungen bis zum Sonntag (15.10.) mindestens elf Journalisten getötet. Büros von ausländischen Medien, die aus dem Gazastreifen berichten, wurden zerbombt.
In Tel Aviv wurde ein Team von BBC Arabisch gestoppt, als es auf dem Rückweg zum Hotel war. Die Journalisten wurden an eine Wand gestellt und ihr Auto komplett durchwühlt. Als der Kameramann den Vorgang mit seinem Handy filmen wollte, wurde es ihm aus der Hand geschlagen und er wurde verprügelt. Sollten sie sich bewegen, würden sie erschossen, erklärten die israelischen Militärs laut einem Bericht der BBC zu dem Vorfall.
Europäischer Satellitengigant stoppt palästinensischen Sender
Am Sonntag wurde bekannt, dass die französische Firma EUTELSAT die Übertragung des palästinensischen Satellitensenders Al Aqsa unterbrochen hat. Das europäische Satellitenunternehmen ist das drittgrößte Unternehmen weltweit. Das Medienbüro der Hisbollah kritisierte die Entscheidung als Angriff auf die Pressefreiheit. Die Unterdrückung der Palästinenser solle vor den Augen der Welt verborgen bleiben. Der Vorgang mache deutlich, was unter westlicher Pressefreiheit zu verstehen sei, man mache sich mit dem brutalen Krieg Israels gegen schutz- und wehrlose palästinensische Bürger gemein. Das Verbot sei eine Fortsetzung der Tötung von Journalisten in Gaza und im Libanon, hieß es in der Erklärung.
Iran fordert Hilfe für Menschen in Gaza
Der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian erklärte bei einer Pressekonferenz in der iranischen Botschaft in Beirut am Samstag (14.10.) den anwesenden Journalisten seine Solidarität angesichts des Todes des Reporters Issam Abdullah und anderer bisher getöteter Journalisten in Gaza. Der Iran sei sich mit Saudi-Arabien einig, dass die Palästinenser geschützt und das Morden in Gaza sofort aufhören müsse, sagte Abdollahian. Teheran und Riad sowie die Mehrheit der Führer der arabischen Staaten seien sich einig, dass die Operation Al-Aqsa-Flut eine „spontane Antwort auf die zionistische Aggression als auch auf den Extremismus von (dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin) Netanjahu“ sei. Israel habe in der vergangenen Woche nichts erreicht, außer noch mehr palästinensische Zivilisten zu töten.
Der iranische Außenminister hatte sich in Beirut u. a. mit dem UNO-Beauftragten für den Frieden im Mittleren Osten, Tor Wennesland, und dem Leiter des Libanesisch-Palästinensischen Dialogkomitees, Basil Al-Hassan, getroffen. Aus Kreisen der UNO wurde bekannt, dass der Iran offenbar in einem Schreiben an die UNO Israel aufgefordert habe, seine „Kriegsverbrechen und den Völkermord“ in Gaza einzustellen. Andernfalls werde die Situation „weitreichende Konsequenzen“ haben und könnte außer Kontrolle geraten. Im Falle einer Bodenoffensive Israels in den Gazastreifen sehe sich der Iran gezwungen, eine Antwort zu geben.
Töten oder verhungern lassen
Westliche Medien und Politiker interpretierten die iranische Erklärung als „Kriegsdrohung“ und verstärkten ihre Unterstützung für Israel. Die USA entsandten einen zweiten Flugzeugträger mit Begleitschiffen ins östliche Mittelmeer, die nach Analyse westlicher Medien die libanesische Hisbollah „in Schach halten“ sollen.
Der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh berichtete unter Berufung auf einen namentlich nicht genannten altgedienten israelischen „Nationalen Sicherheitsberater“, die israelische Armeeführung überlege, welches Vorgehen sie gegen Hamas einschlagen sollten, um eine gefährliche Bodenoffensive zu vermeiden. Dabei werde das sogenannte „Leningrad-Vorgehen“ geprüft, mit dem – nach dem Vorbild der fast drei Jahre währenden Blockade der Stadt Leningrad durch die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges – die Hamaskräfte im Gazastreifen ausgehungert werden sollten. Die „Alternative“ sei, 100.000 Zivilisten zu töten.
Dafür könnten die neue Variante von sogenannter Joint Direct Attack Munition (JDAM) eingesetzt werden, mit der „normale“ Bomben in präzisionsgelenkte Bomben aufgerüstet würden. Diese neue Munition könne bis zu 50 Meter tief in die Erde eindringen und dort explodieren. In der Folge würde jegliches Leben im Umkreis von rund 2,6 Kilometern ausgelöscht.
Im Rahmen einer Videokonferenz mit Mitgliedern von AIPAC, einer zionistischen US-amerikanisch-israelischen Lobbyorganisation, erklärte Oberstleutnant Jonathan Conricus von der israelischen Armee am vergangenen Donnerstag, man brauche die Unterstützung, auch wenn aus Gaza wirklich „hässliche Bilder“ bekannt würden. „Die Bilder aus Gaza werden schwer zu ertragen sein“, sagte Conricus nach Angaben der Zeitung Times of Israel. Aber das sei genau der Zeitpunkt, wenn Tel Aviv die Unterstützung derjenigen brauche, die „die Freiheit lieben“ und „aufstehen für das, was richtig ist“.
Die Qassam-Brigaden setzten auch am Montag (16.10.) ihren Raketenbeschuss von israelischen Städten fort. In Tel Aviv wurde erneut der internationale Flughafen Ben Gurion getroffen. Zahlreiche internationale Fluglinien haben ihre Verbindungen nach Israel eingestellt.
Keine Entspannung in Sicht
Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Ahmed Aboul Gheit, forderte am Montag in Bagdad die sofortige Einstellung der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen. Humanitäre Hilfe müsse die Menschen erreichen, die Einstellung der Zufuhr von Wasser, Nahrungsmitteln, Strom und Benzin nehme den Palästinensern ihre Würde und ebne „den Weg zu einer ethnischen Säuberung“.
Die Außenminister von Ägypten und Frankreich forderten die Öffnung des Grenzübergangs Rafah vom Gazastreifen nach Ägypten, damit Ausländer den Gazastreifen verlassen könnten. Offiziell kontrolliert Ägypten den Grenzübergang, allerdings wird jede Person, die den Gazastreifen Richtung Ägypten verlässt, vorher in einem Register erfasst, das von den israelischen Behörden kontrolliert wird.
Ein namentlich nicht genannter US-amerikanischer Diplomat sagte gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP, Ägypten und Israel hätten eine Vereinbarung getroffen, wonach USA-Bürger aus dem Gazastreifen nach Ägypten ausreisen könnten. Der ägyptische Außenminister Samih Schukri hingegen erklärte, Ägypten fordere von den israelischen Behörden, Hilfsgüter aus Ägypten in den Gazastreifen bringen zu können.
Das Büro des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu erklärte, nichts dergleichen werde derzeit umgesetzt. Nachrichten, wonach ein Waffenstillstandsabkommen bevorstehe, wurden seitens der Hamas dementiert. Man habe keinerlei Informationen darüber, sagte ein Sprecher.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz stattete Israel am Dienstag (17.10.) einen „Solidaritätsbesuch“ ab. Unklar ist, ob Deutschland eine frühere Rolle aufnehmen und bei der Freilassung der israelischen Gefangenen im Austausch gegen palästinensische Gefangene helfen kann und will. Der deutsche Bundesnachrichtendienst hat jahrelang Gefangenenaustausch zwischen der libanesischen Hisbollah und Israel vermittelt und könnte an diese Tradition anknüpfen, um die Lage zu entspannen.
Am Tag vor dem Scholz-Besuch wurde bekannt, dass die Hamas 199 Gefangene festhält, darunter acht Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Unbestätigten Berichten zufolge sollen neun Gefangene bei den israelischen Bombardierungen ums Leben gekommen sein.
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Aus China besuchte der Sonderbeauftragte für den Mittleren Osten, Zhai Jun, ebenfalls in der vergangenen Woche die Region. China tritt für eine internationale Friedenskonferenz und einen sofortigen Waffenstillstand ein.