Amerikanische Linke und die WikiLeaks-Dokumente
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Von DAVID WALSH, 9. August 2010 –
Die Veröffentlichung von 92.000 Geheimdokumenten durch WikiLeaks hat viel dazu beigetragen, den brutalen neokolonialistischen Charakter des amerikanischen Krieges in Afghanistan aufzudecken.
Die Dokumente belegen die Gräueltaten des US-Militärs an der afghanischen Bevölkerung, weisen nach, welches Ausmaß die Opposition gegen die ausländische Besatzung angenommen hat und zeigen das Marionettenregime in Kabul so wie es ist: als eine Vereinigung großindustrieller Interessenverbände, von Drogenbaronen und sadistischen Killern.
Neun Jahre lang wurde die amerikanische Öffentlichkeit nicht nur über die Ziele, sondern auch über die tatsächliche Art der Kriegsführung belogen. Ein Herz und eine Seele mit dem Weißen Haus und dem Pentagon vertuschten die US-Medien die abscheulichen Tatsachen des Konflikts.
Trotzdem ließ die amerikanische Bevölkerung, auch aus Opposition und Misstrauen gegenüber den Machenschaften des amerikanischen Militärs im Irak und in Afghanistan, die Republikaner in den beiden Wahlen 2006 und 2008 durchfallen. Die Regierung Obamas, die dann mit dem Versprechen eines „Wandels“ an die Macht kam, intensivierte die militärische Invasion dann jedoch noch.
Seit der Veröffentlichung von WikiLeaks bemühen sich New York Times und andere etablierte Medien, die Bedeutung der Dokumente herunterzuspielen, und betonen, diese enthielten „nichts Neues“. Weiter versuchen sie, das durchgesickerte Material zur Rechtfertigung einer weiteren Ausdehnung des Krieges zu nutzen und behaupten, es belege, dass das amerikanische Militär in Afghanistan „gehemmt“ würde und die pakistanische Regierung ein Doppelspiel treibe.
Der amerikanische Liberalismus und die “Linke” reagieren als Bestandteil des Establishments. Sie regen politische Korrekturmaßnahmen an, einen unabhängigen Kampf gegen den Krieg auf der Grundlage des Bruches mit der Demokratischen Partei lehnen sie dagegen strikt ab.
Im Leitartikel „Raus aus Afghanistan“ der Zeitschrift Nation vom 29. Juli wird wie folgt argumentiert: „Wir haben genug gesehen – genug, um Bescheid zu wissen, dass diese (Obamas gegenwärtige) Strategie nicht funktioniert, und genug um zu verstehen, dass die Kosten für die Fortsetzung des Krieges allen denkbaren Nutzen bei Weitem übersteigen.“ Was für einen denkbaren Nutzen?
Der Autor argumentiert weiter: “Nach beinahe neun Jahren Krieg ist augenfällig, dass Afghanistan – mit seinen komplexen regionalen und ethnischen Spaltungen, seiner langen Geschichte erbitterten Widerstands gegen Besatzungsarmeen, seinen dezentralisierten Verwaltungsstrukturen und seinem Stammessystem, sowie seiner Zurückweisung jeglicher nachbarschaftlicher Einflussnahme – für eine erfolgreiche Aufstandsbekämpfung untauglich ist.“
“Erfolgreiche Aufstandsbekämpfung”? Die Autoren beklagen das Scheitern der massiven und skrupellosen Einsätze, mit denen der breite Widerstand gegen die amerikanisch dominierten Truppen in Afghanistan gebrochen werden sollte.
Nicht ein einziges Mal werden in dem Artikel Kriegsverbrechen, Gräueltaten und die Ermordung Tausender Männer, Frauen und Kinder durch das amerikanische Militär und seine Verbündeten erwähnt. Es gibt einen einzigen beiläufigen Hinweis auf die getöteten Zivilisten, als festgestellt wird, wie kontraproduktiv derartige Gewalttätigkeiten aus amerikanischer Sicht seien: „Das Pentagon stellt die Aufstandsbekämpfung als das bestmögliche Mittel zum Schutz der Bevölkerung dar, aber – wie die Enthüllungen über den Tod von Zivilisten zeigen – ist sie auch extrem schädlich und destabilisierend und könnte einer Versöhnung zuwiderlaufen.“
Dieser mörderische Krieg, der auch unter Einsatz von Todesschwadronen geführt wird, ist “schädlich” und “destabilisierend”. Die Wortwahl enthüllt: Auf ihre typische Art und Weise trägt die Nation dazu bei, das Ausmaß der gegenwärtigen Kriegsverbrechen mit Hilfe der Medien herunterspielen.
Stoßrichtung des Leitartikels ist, dass der Krieg eingestellt werden sollte, da „es keine Aussicht auf Erfolg gibt“. Was wäre, wenn es eine Aussicht auf Erfolg gäbe? Vermutlich würde die Nation den Einsatz dann unterstützen.
Die Herausgeber der Nation stehen viel weiter rechts als Senator Robert Kennedy zur Zeit seiner Nominierungskampagne für die Kandidatur der Demokraten für die Präsidentschaftswahl 1968. Kennedy war ein ausgekochter bürgerlicher Politiker, gleichwohl verurteilte er den Vietnamkrieg nicht nur, weil er nicht erfolgreich verlief, sondern weil er ein moralisches Verbrechen war.
Kennedy sagte: “Wir töten Kinder, wir töten Frauen, wir töten unschuldige Menschen….Haben wir hier in den Vereinigten Staaten das Recht, zu beschließen, wie wir es getan haben, Zehntausende Menschen umzubringen und Millionen zu Flüchtlingen zu machen, Frauen und Kinder zu töten?…Das müssen wir bedenken, wenn wir Napalm einsetzen, ein Dorf zerstört wird und Zivilisten umgebracht werden.“
Nichts davon im Leitartikel der Nation, in dem kaum noch Mitgefühl für die Leiden und Sorgen des afghanischen Volkes geheuchelt wird. Tatsächlich wird in ihm der gleiche scharfe Ton angeschlagen, der bei den halb-kriminellen Elementen gang und gäbe ist, die in Washington ganz an der Spitze angekommen sind. „Selbst wenn wir in der Lage wären, viele Talibanführer zu eliminieren, würden jüngere und radikalere ihren Platz einnehmen“, wird im Folgenden räsoniert. „Das amerikanische Militär hat viele Anführer der Aufständischen getötet, die Taliban wurden jedoch umso stärker und entschlossener.“ Nicht einmal moralische Entrüstung, nur schlichtes Bedauern, weil der Massenmord keinen Erfolg gebracht hat.
Wegen der wachsenden Probleme geben die Autoren zu bedenken: „Deshalb muss der Präsidenten seine Politik ändern“ und die amerikanischen Truppen zurückziehen, vermutlich an Orte, wo ihre Bemühungen ersprießlicher sind.
Das ist keine Opposition gegen den Imperialismus, sondern das sind wohlwollende Ratschläge für ihn.
Im Artikel von Robert Dreyfuss in der Ausgabe der Nation vom 26. Juli, der mit „Die WikiLeaks-Papiere und die Verbindung zwischen pakistanischem Geheimdienst und Taliban“ überschrieben ist, werden die amerikanischen Verbrechen und das Sterben in Afghanistan vollständig ignoriert und eine Thematik angesprochen, die allenfalls für politische Entscheidungsträger im Außenministerium interessant sein könnte. Ganz auf der Linie der New York Times reitet Dreyfuss auf „dem Engagement Pakistans, seiner Armee und seines Geheimdienstes ISI bei der Unterstützung der Taliban“ herum.
Diese Herangehensweise an die durchgesickerten Dokumente führt dazu, dass er schließlich als Berater in Realpolitik argumentiert: „Die Regierung hat keine andere Wahl, als sich nüchtern mit Pakistan zu befassen, dem wirklichen Pakistan – dem Bestehenden – und nicht mit dem eingebildeten, glücklichen und sonnigen Pakistan. Präsident Hamid Karzai hat das schon kapiert.“ Und so etwas steht in einer „linken“ Publikation.
Die Nation identifiziert sich mit dem „nationalen Interesse“ des amerikanischen Kapitalismus. Wenn in der Zeitschrift von „unseren Truppen“, „unserem Einfluss“ und „unserer Strategie“ die Rede ist, ist das nicht Resultat sprachlicher Ungenauigkeiten.
Wie wir festgestellt haben, besteht in liberalen und linken Kreisen eine Art Arbeitsteilung. Die New York Times gibt den Ton an, die Nation verpasst der Argumentation einen leicht „linken“ Anstrich und gibt sie dann als ihre eigene aus. Publikationen wie der Socialist Worker verpassen dem dann noch einen markanteren „linken“, oder gar „sozialistischen“ Drall, aber stets innerhalb der Schranken der Honorigkeit.
Ein paar Tage lang, bis zum 29. Juli, reagierte die Website SocialistWorker.org überhaupt nicht auf die Veröffentlichung der 92.000 Dokumente.
Wie bei der Nation geht man beim Socialist Worker davon aus, dass der Krieg nicht zufriedenstellend verläuft. Auf die Behauptung der Regierung eingehend, die WikiLeaks-Dokumente seien ‚Nachrichten von gestern’ heißt es weiter: „dieser letzte Punkt sollte sicherlich der Schadensbegrenzung dienen – die Dokumente von WikiLeaks belegen die verheerenden Zustände im amerikanischen Krieg gegen Afghanistan eindrücklich.“
Wieder die Frage, was wäre, wenn sie nicht „verheerend“ wären? Welche Auswirkungen hätte das auf die Haltung der Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO) zum Afghanistankrieg?
Im Gegensatz zur Nation berichtet der Socialist Worker über die amerikanischen Kriegsverbrechen. Aber seine Orientierung auf eine Änderung der etablierten öffentlichen Meinung und der Politik der Obama-Regierung ist im Wesentlichen die Gleiche. In seinem Artikel wird James Fallows vom Atlantic ausführlich zitiert. Dieser war früher Redenschreiber von Jimmy Carter und hat sich jetzt offenbar vorgenommen, eine Wende in der „herrschenden öffentlichen Meinung über den Krieg“ herbeizuführen.
Fallows’ Kritik an der Regierung hat mit taktischen Differenzen innerhalb der herrschenden Elite zu tun, wie die geopolitischen Ziele der USA optimal zu verfolgen sind. In einem nicht zitierten Abschnitt aus dem Artikel im Atlantik, auf den sich SocialistWorker.org bezog, zitiert Fallows zustimmend folgenden Kommentar eines Leserbriefschreibers: „Wenn die Debatte auf die Thematik ’Sicherung von ganz Afghanistan oder Teilgebieten zum eigenen Nutzen’ konzentriert worden wäre, solange das unseren strategischen Interessen nützt, hätte dies der Debatte eine viel konstruktivere Wendung geben können….Die Frage ist, welche Taktiken am besten geeignet erscheinen, um die Kosten (an Menschenleben und Dollars) zur Sicherung Afghanistans zu unserem Nutzen so gering wie möglich zu halten, solange wir die Region kontrollieren wollen/müssen.“
Nach ihrem Rückgriff auf Fallows meint die ISO: “Es ist zu früh um die Implikationen aus den WikiLeaks-Dokumenten abzuschätzen” und fügt noch hinzu: “Wie dem auch sei, die Regierung Obama wird den US-Krieg in Afghanistan nicht beenden, nur weil die Umfragewerte sinken oder WikiLeaks-Dokumente sie in Verlegenheit bringen.“
Die Absicht dabei ist, die scharfe Ablehnung des Krieges in Druck auf Obama und die Demokraten umzumünzen, und damit zu verhindern, dass diese Opposition zu einem Bruch mit dem Zwei-Parteien-System führt. Die Ablehnung des Krieges im Socialist Worker unterscheidet sich nicht von der zahlreicher liberaler Medienprodukte und Organisationen, die ’die Massaker und das Blutvergießen’ zwar beim Namen nennen und dennoch fest im Dunstkreis der Demokratischen Partei verharren.
Es gibt kaum etwas Aussichtsloseres und politisch Sinnloseres als den Versuch, die „vorherrschende öffentliche Meinung“, d.h., die tonangebenden Kreise in Washington zu beeinflussen. Die WikiLeaks Episode zeigt anschaulich, dass es in der amerikanischen Elite keinen Widerstand gegen Kolonialismus gibt.
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Quelle: wsws.org – geringfügig gekürzt