Zeitfragen

Wie schafft eine Minderheit, die Mehrheit in Geiselhaft zu nehmen?

Masse ohne Klasse. Eine biedere urbane Mittelschicht mit dürftiger Bildung ersetzt Handeln und Verantwortung durch Moral und Schuldkomplexe. Ein Versuch, Träger und Machtmittel der „woken Bewegung“* zu erfassen.

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Gendersprache, Critical-Whiteness-Theorie, Blackfacing? Legt eine Minderheit die gesellschaftliche Mehrheit in Ketten?
Foto: PublicDomainPictures auf Pixabay, Mehr Infos

Erster Teil eines erhellenden, analytischen Essays, in dem der Autor detailliert die Erscheinungsformen und Ursachen einer vermeintlichen „Bewegung“ untersucht, die gar keine ist. Mit spitzer Feder und geschultem Blick gelingt es ihm, unbeachtete Ecken aufzuspüren und das Phänomen einzuordnen. Gleichzeitig beschert er ein wahres Lesevergnügen. (Anm. Red., – morgen folgt Teil 2)

Eigentlich möchte ich diesen Text gar nicht schreiben und die darin manifestierten Überlegungen gar nicht anstellen. Eigentlich ist mein Verständnis ganz einfach: Jeder kann eine Idee haben oder einen Vorschlag machen, wie er will. Dann muss er versuchen, andere für seine Idee zu gewinnen, dann muss er in den Diskurs gehen und Argumente auf den Tisch legen. Im Idealfall kommt in diesem Diskurs kein Totalsieg für den einen oder den anderen heraus, sondern im Diskurs entwickeln beide Seiten Gedanken, die sie vorher nicht hatten. Und dort, wo das notwendig ist, muss man eine demokratische Entscheidung treffen, ob etwas getan wird oder nicht. Nach dieser demokratischen Entscheidung kann die unterlegene Partei selbstverständlich weiter bei ihrer Meinung bleiben und weiter versuchen, Unterstützer zu finden, aber zunächst wird ihre Idee nicht umgesetzt.

In einem solchen Diskurs ist das, was ich im Folgenden versuche, nicht vorgesehen: Eine Spekulation über die Motive des anderen und ihr Einsatz nach dem Muster „Das sagst du jetzt nur, weil du…“ hat in einem rationalen Diskurs nichts zu suchen. Ebenso halte ich wenig von einem Prägungsautomatismus nach dem Motto „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, so als könnten eine Etikettierung oder ein soziologischer Erklärungsversuch die inhaltliche Auseinandersetzung ersparen.

Wenn ich all das gegen meine methodische Grundüberzeugung im folgenden Text trotzdem machen werde, hat es einen bestimmten Grund: Es ist die unablässige Erfahrung und Beobachtung, dass alle Maßstäbe und Regeln des Diskurses ebenso wie die Regeln einer demokratischen Entscheidung offenbar fruchtlos sind und dass alle Argumentationen ins Leere laufen, wenn es um die Auseinandersetzung mit der sogenannten „woken Bewegung“ geht. Man kann dies am prominentesten Beispiel, nämlich an der ganzen Auseinandersetzung um die sogenannte Gendersprache1 deutlich machen: Niemand außerhalb winziger Zirkel praktiziert die Gendersprache, eine überwältigende Mehrheit der Menschen lehnt sie explizit ab. Alle Begründungen sind widerlegt2, es kommen seit Jahrzehnten keine neuen Begründungen hinzu und keine Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Gegenargumenten. Die Gendersprache ist inhaltlich in sich widersprüchlich und handwerklich unausgegoren. Die Menschen, denen die deutsche Sprache gehört, lachen darüber. Der Rat für deutsche Rechtschreibung lehnt sie ab. All dies sollte eigentlich ausreichen, um eine Idee ins „Museum of Failure“ zu verbannen. Aber tatsächlich geht es unbeeindruckt davon weiter: Die Gendersprache geht in amtliche Dokumente ein. Sie findet Eingang in den Duden, obwohl dieser eigentlich nur der gelebten Sprache folgen soll. Sie bestimmt Schulunterricht und Studienordnungen. Sie findet Eingang in Tagesschau und heute-journal und führt dort zu sprachlogischem Chaos. In einem Workshop werden Personalpronomina frei erfunden (el, em, dey, bla usw.) und dann geht das in eine Empfehlung der Telekom ein und 80.000 deutsche Mitarbeiter werden in einen moralisch defizitären Zustand versetzt.3 Obwohl niemand die Gendersprache spricht, wird der Eindruck erweckt, sie verkörpere Gerechtigkeit, Inklusion und Fortschritt und nur noch ein paar altlinguistische Amish-People sperrten sich gegen den überfälligen Wandel.

Und wie gesagt, das Geschehen um die Gendersprache ist nur ein Indikator unter vielen: Irgendwo auf der Welt erklärt jemand das sogenannte Blackfacing für rassistisch. Zunächst lacht man darüber, aber einige Zeit später bekommt eine Gemeindehelferin in einer dörflichen Kirchengemeinde Panik beim Gedanken, wie sie beim weihnachtlichen Krippenspiel damit umgehen soll, dass einer der Heiligen Drei Könige nach der Überlieferung schwarz ist. Seit jeher heißen Flüchtlinge „Flüchtlinge“ und auch die Flüchtlingskonvention heißt so. Plötzlich sagt jemand, Worte auf „ling“ seien negativ belegt. Und obwohl diese Behauptung angesichts von „Liebling, Frühling, Säugling, Riesling, Pfifferling, Sperling, Stichling oder Grünkernbrätling“ offensichtlicher Unsinn ist, stellen innerhalb kürzester Zeit die Medien auf „Geflüchtete“ um.

Wie kann so etwas sein? Wie sind in einer Demokratie solche Entwicklungen möglich, die man in jedem anderen Feld als Hinterzimmer-Intrigen anprangern würde? Wie kann eine Bewegung, die ständig von „Zivilgesellschaft“ redet und Basisdemokratie ganz groß auf ihre Fahnen geschrieben hat, so sendungsbewusst gegen jede Basisdemokratie verstoßen? Nach der letzten Präsidentenwahl in den USA fragten sich viele, wie es sein kann, dass jemand wie Trump so viel Zuspruch erhalten hat. Hinsichtlich der „woken Bewegung“ müsste man die Frage anders stellen: Wie kann es sein, dass Ideen ohne Zuspruch und Substanz so viel Einfluss ausüben?

Wer versucht, auf irgendeiner inhaltlich-sachlichen Ebene über Gendersprache, Critical-Whiteness-Theorie, Blackfacing, das Verdikt der kulturellen Aneignung, Neokolonialismus, Impfpflicht, biologisches Geschlecht, Übergangstechnologien bei der Verkehrswende, Kernkraft als CO2-freie Energiequelle, Gender Pay Gap oder die Verwendung von Begriffen wie „Mohr“ zu diskutieren, wird schnell scheitern. Er wird meistens gar keine Antwort erhalten und wenn doch, dann nur eine schablonenhafte Etikettierung und Selbstbeweihräucherung, die bereits das voraussetzt, was es eigentlich erst zu diskutieren oder zu begründen gilt.4 Und wenn er Pech hat, wird er von einem Shit-Storm überzogen, mitsamt seinen Kontakten einem Milieu zugeordnet oder gleich gecancelt.

Damit stellt sich erst recht die Frage, wie so etwas geschehen kann. Die Bundesregierung können wir abwählen, aber warum hat es zum Beispiel so wenig Wirkung, wenn die überwältigende Mehrheit in Wort und Tat die Gendersprache ablehnt? Und wohlgemerkt: Die Sprache gehört den Sprechern und niemand sonst. Gedanken breiten sich nicht als Geist aus, sondern sie werden von Menschen gedacht, ausgesprochen und verbreitet. Und nach jahrelanger Auseinandersetzung mit den Inhalten und nach jahrelanger Beobachtung der Fruchtlosigkeit dieser Auseinandersetzung, die eigentlich eine Nicht-Auseinandersetzung ist, möchte ich von außen auf den Vorgang blicken: Gibt es in der „woken Bewegung“ eine geniale Botschaft, die wir nur noch nicht verstehen? Wer sind diese Menschen, die Träger der „woken Bewegung“ sind? Und warum haben sie eine Macht, die in einer Demokratie nicht vorgesehen und letztlich nicht verfassungsmäßig ist? Ich möchte versuchen, die Träger dieser Ideen soziologisch näher zu bestimmen und zu charakterisieren. Und ich möchte wissen, wie es ihnen gelingt, ohne Diskurs und gegen den Willen der Mehrheit eine derartige Wirkung auszuüben.

Ist die „woke Bewegung“ eine Bewegung mit einem inhaltlichen Konzept?

Auf den ersten Blick beinhaltet die „woke Bewegung“ ein geschlossenes inhaltliches Konzept und Anliegen und sie gilt als „links“. Bei näherem Hinsehen löst sich die Einheitlichkeit und klare Orientierung schnell auf. Man tritt für Vielfalt ein, duldet aber keine Gedanken außerhalb der eigenen Lebenswelt. Man ist gegen Rassismus, merkt aber nicht, dass Critical Whiteness Theory oder Verdikt der kulturellen Aneignung übelster Rassismus sind.5 Man will den Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz entfernen, möchte aber gleichzeitig genaue Prozentzahlen der Rassenzugehörigkeit erfassen. Man spricht von Safe Space und lädt gleichzeitig eine Sängerin wegen Dreadlocks aus oder stellt ihr das Ultimatum, bis Freitag die Haare abzuschneiden. Man tritt für Geschlechterquoten ein, hält aber gleichzeitig Geschlecht für ein willkürliches Konstrukt. Man ist für den sofortigen Ausstieg aus fossilen Energien, aber gleichzeitig gegen Windräder in der Nachbarschaft – natürlich wegen des Rotmilans. Man sieht überall verdeckten Kolonialismus, will aber gleichzeitig mit „feministischer und ökologischer Außenpolitik“ deutsche Gesellschaftskonzepte unter Androhung von Sanktionen in jeden Winkel der Welt tragen. Diese Liste lässt sich lange fortsetzen.6 Mir geht es gar nicht darum, was ich persönlich favorisiere, sondern nur darum, zu zeigen, dass es keine geschlossene und halbwegs durchdachte Lehre gibt. Die inneren Widersprüche zeigen auch, warum es so schwierig ist, ein qualifiziertes Gespräch über ein behauptetes Problem und vor allem über mögliche Lösungen dieses Problems zu führen. Es erklärt auch die zunehmenden Selbstzerfleischungstendenzen innerhalb der Szene – man denke nur an die Beschimpfungen von Feministen als TERF (Trans-Exclusionary Radical Feminists).

Es gibt keine einheitliche Botschaft, kein in die Zukunft gerichtetes und in sich schlüssiges Gesellschaftskonzept. Es gibt keine Idee, die ihrer Zeit voraus wäre und deshalb von uns noch unverstanden bliebe. Es gibt keinen „Religionsgründer“ oder politischen Führer, der die Menschen mit dieser einheitlichen Vision überzeugte und begeisterte. Es gibt keine ideologische Kaderpartei, keine von einem woken Geheimbund langfristig organisierte Weltverschwörung. Eher kommt mir der Begriff des „Lebensgefühls“ in den Sinn. Auch dieser Befund verstärkt die Frage, was dann der Motor und Träger des Ganzen ist. Und wenn Lebensgefühl, wessen Lebensgefühl? Das Lebensgefühl aller kann es ja nicht sein. Douglas Murray spricht von der „Madness of Crowds“. In der deutschen Ausgabe ist der Titel mit „Wahnsinn der Massen“ übersetzt und man denkt unwillkürlich an den Begriff der Massenhysterie, wie er bei manchen Erklärungen des Nationalsozialismus verwendet wird. Aber geht es bei der „woken Bewegung“ wirklich um eine hysterische und wahnsinnige Menschenmasse? Die „woke Bewegung“ umfasst sicher mehr als die Handvoll fanatischer Aktivisten, die Bücher schreiben und Bilder mit Suppe begießen, aber eine Massenerscheinung ist sie nicht. Der Anlass dieses Artikels ist ja gerade, dass sie keine Massenbewegung ist – und gefühlt trotzdem allgegenwärtig und faktenschaffend.

Wer sind die Träger der „woken Bewegung“?

In der medialen Berichterstattung fallen oft Etikettierungen wie „links-grünes Milieu“, „links-liberales Milieu“ oder „links-progressive Aktivisten“ und als Gegenstück dazu „rechts-konservatives Milieu“. Geht es also um Fortschritt gegen Rückschritt? Geht es vielleicht um die ewige Auseinandersetzung zwischen fortschrittlicher Jugend und ewiggestrigen Alten? Ist es eine Generationenfrage? Ist es eine Bildungsfrage? Ist es eine Schichtenfrage?

Die These von der jugendlichen Fortschrittsbewegung passt nicht

Blickt man auf die Ideen, um die es geht, dann findet sich schwerlich etwas Innovatives, das wie die Aufklärung, die Demokratiebewegung, die abstrakte Malerei, die Zwölftonmusik, die sexuelle Befreiung, die Digitalisierung oder auch nur so etwas Winziges wie die Beatles-Frisuren der 1960er Jahre die Tür zu etwas Neuem aufgestoßen hätte. Wenn es um „jung = fortschrittlich“ gegen „alt = rückschrittlich“ ginge, dann müsste man das irgendwo erkennen können. Eigentlich ist es die Aufgabe und das Recht jeder neuen Generation, das Undenkbare zu denken, die Welt um neue Optionen zu bereichern, einen neuen Rhythmus und neuen Klang zu schaffen und so die Vielfalt zu vergrößern. Genau das ist jedoch nicht zu erkennen. Stattdessen zielt die „woke Bewegung“ darauf ab, die Welt enger zu machen und die Vielfalt zu verringern. Es gibt Aktivisten, die an Mozarts „Zauberflöte“ herumnörgeln, aber niemanden, der eine neue, bessere Oper komponierte, die uns die Zauberflöte vergessen ließe. So werden wir ärmer statt reicher und einheitlicher statt vielfältiger. Und irgendwann wird dasselbe passieren, was Marcel Reich-Ranicki über die Theaterszene der Nazizeit konstatierte: Es werden uns die Stücke ausgehen.

Es gibt vor allem keine grundsätzliche Umwertung von Werten, wie es etwa die Frauenbewegung hinsichtlich der Gleichwertigkeit der Geschlechter oder die Bürgerrechtsbewegung hinsichtlich der Gleichwertigkeit der „Rassen“ oder der Befreiung der Schwulen war. Alle gegenwärtigen „Protest“-Bewegungen schließen nur an Dinge an, die als Ideen, Ziele, Grundwerte, gesetzliche Regelungen und gesellschaftliche Standards schon längst etabliert sind – vieles durch frühere Generationen: Umweltschutz, Gleichheit der Geschlechter, Bildungschancen, Antirassismus, koloniale Befreiung, sexuelle Vielfalt und vieles mehr.

Ich sehe nirgendwo den Mut, der erforderlich ist, das Risiko des Neuen einzugehen und wirklich gegen den Strom zu schwimmen. Risiko nicht nur in dem Sinne, dass man persönliche Nachteile haben könnte (man denke etwa an den Radikalenerlass von 1972), sondern Risiko in dem Sinne, dass sich eine neue Idee einfach als unpraktikabel, falsch und schlimm erweisen kann – ich denke etwa an die Einbeziehung der Pädophilie in die sexuelle Befreiung oder die Verherrlichung und Verharmlosung von Diktatoren und Massenmördern wie Mao Tse-tung, Enver Hodscha oder Pol Pot in der 68er Bewegung.7 Oder ganz unpolitisch an die Gefahr des Scheiterns, der jeder Innovator und Technikpionier ausgesetzt ist. In der „woken Bewegung“ trifft man immer nur auf Ziele und Anliegen, die im Prinzip im Großen und Ganzen sowieso schon jeder teilt. Ja, die Verwendung von „umstritten“ oder „wird kritisch gesehen“ als Schimpfworte impliziert ja, dass es eigentlich nur unumstrittene Meinungen geben dürfe. „Unite behind the science“ oder Begriffe wie „alternativlos“ und „nicht verhandelbar“ beinhalten, dass es nur eine Wissenschaft gibt und neben der eigenen Wahrheit kein Platz für eine zweite Meinung ist.

Aber auch auf der Umsetzungsebene allgemein anerkannter Herausforderungen und Handlungsfelder liefert die „woke Bewegung“ keine neuen Problemlösungen, weder für Verkehrsthemen oder für die Gestaltung des ökologischen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft, also zum Beispiel Antworten auf die Fragen: Was sind Übergangstechnologien? Welche Geschwindigkeit des Umbaus kann man sich leisten? Wie verändern sich Qualifikationen? Stattdessen große Weltuntergangsszenarien, Überbietungswettbewerbe von Grenzwerten und Ausstiegsdaten, Symbolpolitik, Begriffskosmetik, Opferhaltung, ständiges „Haltung zeigen“ und „Zeichen setzen“. Und nicht zuletzt Notstandsforderungen, so als würde die Ausrufung des Klimanotstands auch nur ein einziges Problem lösen und als müsste man sich nicht auch nach Ausrufung des Notstandes ganz konkret überlegen, was man machen will, welche Nebenfolgen eine Maßnahme hat, was man sich leisten kann und in welcher Reihenfolge und Geschwindigkeit es machbar ist. Wenn man weiß, was man tun will, kann man diese Aktionsliste auch ohne Verletzung demokratischer Prozesse zur Diskussion stellen. Wenn man nicht weiß, was man tun will, hilft auch die Ausrufung des Notstands nichts.

Die naheliegende These, dass hier eine junge Avantgarde mit neuen Ideen, mit neuen Lebensformen, mit neuen Sounds oder was auch immer den Fortschritt beschleunigen möchte und ungeduldig an den Ketten zerrt, die ihnen von den ewiggestrigen Alten angelegt wurden, passt deshalb nicht auf die Situation.

Die schichtenspezifische Betrachtung führt weiter

Statt einer Kaderpartei oder einer Jugendbewegung erkennt man immer wieder eine offensichtliche Schichten- oder gar Klassenperspektive. Zum Beispiel daran, für welche Funktionen und Berufe Frauenquoten gefordert werden und für welche nicht. Etwa für Aufsichtsräte: In ganz Deutschland gibt es keine 8000 Aktiengesellschaften und davon weniger als 700, die groß genug für einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat sind. Es geht also vielleicht um ein Potenzial von 1000 oder 2000 weiblichen Aufsichtsratsmitgliedern – nicht gerade ein Massenthema. Die meisten Beschäftigten arbeiten in tariflich gebundenen Jobs oder im öffentlichen Dienst – ein Gender Pay Gap ist bei ihnen ausgeschlossen. Die Verherrlichung des Lastenfahrrads und Verteufelung der Pendler sagt viel aus über Lebensstil, Wohnviertel, Arbeitsorte und Arbeitsweisen. Auch die gebetsmühlenartige Favorisierung des öffentlichen Personenverkehrs deutet auf Leute, die die dortigen Missstände nicht aus eigener Erfahrung kennen. Auch der ganze Rummel um die Integration von Migranten lässt auf Schichten schließen, für die es neu ist, Menschen mit Migrationshintergrund als Kollegen oder Nachbarn zu haben, während es zum Beispiel in industriellen Fabriken oder in Krankenhäusern seit den 1950er Jahren Alltag ist. Die Behauptung, Frauen hätten früher nicht arbeiten dürfen, trifft allenfalls für eine kleine bürgerliche Schicht zu, während in der Landwirtschaft, in Handwerksbetrieben und in der Industriearbeiterschaft Frauen immer mitgearbeitet haben und mitarbeiten mussten.8 Auch die Tendenz, Sozialpolitik nur als Armenfürsorge und körperliche Arbeit nur als Gegenstand von Mitleid zu sehen, lässt Schlüsse zu. Für diese schichtenspezifische Perspektive gibt es zahlreiche quantifizierbare Anhaltspunkte und Belege. Es ist auch eine Schicht, die sich abschottet und offenbar nicht mehr außerhalb ihrer Szene kommuniziert. Das wird deutlich an Indikatoren wie dem Glauben, dass Gendersprache sich ausbreite – was sie leicht nachprüfbar nicht tut. Es wurde an ganz unpolitischer Stelle deutlich in der Überbewertung des Homeoffice, aber auch daran, dass Lehrer sich in der Corona-Zeit gefährdet sahen, aber ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass im Supermarkt alle Mitarbeiter anwesend sind und wie immer ihrer Tätigkeit nachgehen.9

Man redet viel von sogenannten urbanen Eliten – auch ich habe mangels Alternativen ähnliche Ausdrücke verwendet. Aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich schnell, dass es keine Eliten sind, die irgendwie als intellektuelle Vorreiter Themen trieben, bevor sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Dann stellte sich zwar immer noch die Frage des demokratischen Diskurses, aber immerhin gäbe es etwas zu diskutieren – im Sinne des Ausspruches von Karl Kraus: „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.“ Auffällig ist vielmehr die intellektuelle Dürftigkeit, die einem immer wieder entgegenschreit. Das betrifft den ganzen Konstruktivismus und Dekonstruktivismus – einer soziologisch-philosophischen Richtung des vergangenen Jahrhunderts, die vielleicht auf einige Zusammenhänge aufmerksam gemacht hat, aber schon vor Jahrzehnten an ihren eigenen Widersprüchen scheiterte. Ebenso ist es frustrierend, wie wehrlos und fröhlich wieder Bücher umgeschrieben und Straßennamen umbenannt werden, so als hätte es siebzig Jahre Auseinandersetzung mit totalitären Systemen nie gegeben. Die ganzen Begründungen etwa zur Straßenumbenennung in München, die Geschehnisse um die Documenta oder um die Berliner Schlosskuppel oder die WM in Qatar und unzählige Beispiele zeigen eine geistige Enge, die nichts mehr außerhalb des eigenen kleinen Denkhorizonts zulässt.10 Wenn die satirische Sendung „Ein Herz und eine Seele“, die mit Alfred Tetzlaff das Spießertum der 1970er Jahre aufs Korn nahm, heute mit einem Warnhinweis vor der darin enthaltenen Sprache und Haltung versehen wird, dann geht diese geistige Schlichtheit nahtlos in Realsatire über.11

Der Träger der „woken Bewegung“ ist also keine übermotivierte geistige oder sonstige Elite, kein mutiger Vorkämpfer auf imaginären Barrikaden, sondern eine biedere urbane Mittelschicht mit dürftiger Bildung, mit risikolosen administrativen Tätigkeiten im öffentlichen Sektor. Nicht unternehmerisch oder gar arbeitermäßig-handwerklich geprägt, nicht arm und nicht besonders reich, mit begrenztem lebensweltlichem Erfahrungshorizont, mit begrenztem Interesse an den praktischen Gestaltungsaufgaben ihres Verantwortungsbereiches, aber großem Standesdünkel. Das alles deutet wirklich nicht auf eine rebellische junge Generation, nicht auf eine geistig-technische-politische Avantgarde, sondern es sind Kennzeichen eines Spießertums, aber – das ist durchaus neu – eines Spießertums, das sich mit den Insignien der Fortschrittlichkeit und des Protestes schmücken will. Und deshalb redet man zu Recht vom „Mainstream“. Symbol für diese Sehnsucht, mit gefälligsten und konventionellsten Wohlfühlthemen unter Gleichgesinnten als mutiger Zeichensetzer erscheinen zu wollen, ist der allgegenwärtige und bis zur Inhaltslosigkeit inflationierte Regenbogen.

Was macht die urban geprägte Verwaltungsschicht beruflich? Was ist ihr Beitrag zur Gesellschaft? Zeigt sie hier Exzellenz? Nun, die urban-administrative Mittelschicht ist nicht die Brutstätte von Nobelpreisträgern, nicht von Pionier-Milliardären, auch nicht von Bäckermeistern oder von Fabrikarbeitern. Eigentlich besteht die Aufgabe dieser urban-administrativen Mittelschicht darin, die öffentlichen Verkehrsmittel am Laufen zu halten, den Schulbetrieb auch in Corona-Zeiten zu gewährleisten, Menschen bei einer Hochwasserkatastrophe zu schützen, in den Medien die Themen abzubilden, die die Menschen tatsächlich bewegen, die Digitalisierung in Gesundheitsämtern und anderen Behörden durchzuführen, Verteidigungstechnik zu beschaffen und zu warten, die Versorgung mit Masken oder Fiebermittel sicherzustellen, die demographische Entwicklung oder den Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt zu bewältigen und vieles mehr. Das genau wäre der Mehrwert einer Mittelschicht im Bildungssystem, in der öffentlichen Verwaltung und in öffentlichen Dienstleistungen, im Kultur- und Medienbetrieb und auch in Verwaltungsbereichen von Unternehmen. Und hat es nichts mit dieser Schicht zu tun, wenn diese Dinge immer schlechter funktionieren? Dreht es sich bei der allgemeinen Unzufriedenheit und Politik- oder gar Demokratieverdrossenheit nicht gerade darum, dass diese Schicht nicht mehr ganz handwerklich und sekundärtugendhaft ihre Arbeit macht? Das berühmt-berüchtigte „Bitte noch gendern. CampingplatzbesitzerInnen. Ansonsten Freigabe“12 der damaligen rheinland-pfälzischen Umweltministerin Anne Spiegel bei der Flutkatastrophe an der Ahr im Jahre 2021wurde ebenso zum Symbol einer von jeder Realität abgekoppelten Führungsschicht wie der One-Love-Binden-Auftritt von Ministerin Faeser bei der WM in Qatar, während das deutsche Fußballspiel schon in der Gruppenphase scheiterte. Wie man in Gesprächen feststellen kann, gibt es eine wachsende Unzufriedenheit mit denjenigen, die alles besser wissen, aber nichts besser können. Aber trotzdem fährt der woke Zug einfach weiter.

Damit stellt sich erneut die Ausgangsfrage: Wie kann etwas, was niemand will, was inhaltlich so substanzlos ist, was seine Aufgaben nicht mehr erledigt, was jedem auf den Geist geht, gleichzeitig eine solche Wirkung und Dominanz entfalten? Wie kann sich etwas, was unendlich spießig ist, nichts Neues enthält, Menschen aufeinanderhetzt, sich trotzdem als gerecht, inklusiv und fortschrittlich aufführen? Wie kann eine Schicht, Szene, Gruppe oder was auch immer es ist, die weder über die Macht der Gewehrläufe noch über viel Geld verfügt, trotzdem ganz real eine Macht ausüben?

Weiter zu Teil 2.

* Anm. des Autors:

Mir ist bewusst, dass der Begriff „woke Bewegung“ vollkommen untauglich ist, und ich verteidige ihn in keiner Weise. Aber ich habe ehrlich gesagt noch keinen besseren gefunden. Auf jeden Fall erscheint mir ein Begriff wie „links-liberales Milieu“ noch ungeeigneter, denn das Problem dieses Milieus besteht ja gerade darin, dass es weder links noch liberal ist. Dies gilt für die Selbstglorifizierung als „links-progressiv“ ebenso wie für die Beschimpfung durch die AfD als „links-versifft“. Vielleicht ist es auch zu früh, einen Begriff zu prägen, bevor man selbst richtig den Sachverhalt und Zusammenhang verstanden hat, den der Begriff vertreten soll.

Anmerkungen:

1 Ich betone ausdrücklich, dass es in diesem Text nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Gendersprache und anderen Themen geht. Es geht mir allein um den Verbreitungsprozess und die Schichtenherkunft der „woken“ Themen. Ich kann jedoch über dieses Phänomen nicht reden, ohne auf die Beispiele Bezug zu nehmen.

2 Nur zwei Beispiele: Das zentrale und gebetsmühlenartig wiederholte Argument, dass man bei „Bäcker“ an einen männlichen Bäcker denkt, weil der Begriff generisches Maskulinum besitzt, ist längst durch den Befund widerlegt, dass man an das biologische Geschlecht des persönlich bekannten Funktionsträgers denkt. Ebenso passt die Behauptung, dass die deutsche Sprache männlich dominiert sei, nicht zur Tatsache, dass im Deutschen 46 Prozent weibliches Genus haben und nur 32 Prozent männlich und 22 Prozent sächlich sind.

4 Siehe dazu den Erfahrungsbericht von Florian Payr, Gendersender in der F.A.Z. vom 6.12.2022, den ich aus eigenen Erfahrungen voll bestätigen kann.

5 Der Ursprung des Rassismus im 19. Jahrhundert liegt in der Vorstellung, dass eine bestimmte Kombination von Ursprungsgebiet, genetischen Eigenschaften und Kultur zu einer naturgegebenen Identität führe und deshalb reingehalten werden müsse. Das Reinheitsgebot ist dem Rassismus viel näher als der Anspruch der Überlegenheit. Die Autoren der Nürnberger Rassegesetze von 1935 vertraten dasselbe Verbot der kulturellen Aneignung: „§4 (1) Juden ist das Hissen der Reichs- und Nationalflagge und das Zeigen der Reichsfarben verboten. (2) Dagegen ist ihnen das Zeigen der jüdischen Farben gestattet.“

6 Douglas Murray, The Madness of Crowds hat sich ausführlich mit den inneren Widersprüchen auseinandergesetzt.

7 Vgl. etwa die Biografie des einstigen KBW-Vorsitzenden und späteren Referatsleiters im Außenministeriums Joscha Schmierer https://de.wikipedia.org/wiki/Joscha_Schmierer

8 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht beschreibt diesen schichtenspezifischen Unterschied sehr deutlich.

9 Vgl. die Studien Ortsbesichtigung. Warum manche Arbeiten an Orte gebunden sind und wie sich das durch
die Virtualisierung verändern könnte. Eine Studie des Goinger Kreises. Dezember 2022, von Axel Klopprogge, Anne Burmeister, Christina Erdmann, Eberhardt Jakobi, Heiko Mauterer, Nadja Sauerwein. Ebenso Überbrückungshilfe. Zusammenhalt der Gesellschaft – wodurch er gefährdet wird und was wir in Unternehmen für ihn tun können. Eine Studie des Goinger Kreises. Erster Zwischenbericht Oktober 2022, von Axel Klopprogge, Jürgen Deller, Carola Eberhardt, Katharina Heuer und Karen Hoyndorf. Dort auch weitere Literaturhinweise.

10 Der Philosoph Robert Pfaller schrieb schon 2020 zur Documenta 14 von 2017: „Nur wenige der gezeigten Arbeiten vermochten der Betrachtung irgendein Element zu bieten, das sich nicht in der erzählenden Beschreibung erschöpfend hätte wiedergeben lassen. Doch wurde die Form nicht wirklich zugunsten eines politischen Inhalts unterdrückt. Vielmehr waren die Inhalte der Arbeiten politisch meist ebenso platt. Sie appellierten meist – und ausschließlich auf der imaginären Achse – an einen moralischen Konsens, der unter documenta-Betrachtern ohnehin vorherrscht und der nicht im Geringsten in Frage gestellt, differenziert oder wenigstens gereizt wurde.“

11 Der Warnhinweis lautet: „Das folgende fiktionale Programm wird in seiner ursprünglichen Form gezeigt. Es enthält Passagen, deren Sprache und Haltung aus heutiger Sicht diskriminierend wirken können.“ Natürlich gibt es bereits Stimmen, denen auch das noch zu wenig ist.

12Spiegel gab am Nachmittag des 14. Juli eine Pressemitteilung frei. Darin hieß es, dass „kein Extremhochwasser“ zu erwarten sei. In der Mitteilung wurden auch Ratschläge und Hinweise für Betreiber von Campingplätzen veröffentlicht, sollten ufernahe Bereiche überspült werden. Anne Spiegel soll ihrem Team vor Veröffentlichung der fraglichen Mitteilung geschrieben haben: „Konnte nur kurz draufschauen“. Und weiter: „Bitte noch gendern: CampingplatzbetreiberInnen. Ansonsten Freigabe.“ Das berichtete die Rhein-Zeitung. Quelle

 

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Der Autor

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen.

Das Essay erschien zuerst bei Freie Akademie für Medien und Journalismus. Es wurde vom Autor für Hintergrund ergänzt und etwas erweitert.

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