Stéphane Hessel (1917-2013) ist tot!
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Eine Verkörperung der deutsch-französischen Aussöhnung und der Empörung über Ungerechtigkeit –
Von LOU MARIN, 1. März 2013 –
Er gehörte zu den Großen der deutsch-französischen Aussöhnung – und zwar noch in jenen, heute kaum mehr
Stéphane Hessel: Mit einer kleinen Streitschrift wurde er zum Ende seines engagierten politischen Lebens zum Initialzünder der Indignado- und Occupy-Bewegung. © Superbass / CC-BY-SA-3.0 |
vorstellbaren Zeiten, als Frankreich der Erzfeind Deutschlands war und über ein Jahrhundert hinweg von deutschen Armeen 1871, 1914 und 1940 militärisch angegriffen oder besetzt worden ist. Stéphanes Eltern waren damals frankophil und bemühten sich um die Bekämpfung eines festsitzenden Feindbilds. In dieser Ahnengalerie steht der nun im Alter von 95 Jahren gestorbene Stéphane Hessel direkt neben einsamen Vorkämpfern der deutsch-französischen Aussöhnung wie Carl von Ossietzky, Georg Glaser oder Peter Gingold.
„Jules et Jim“
Seine Eltern, Franz Hessel, deutscher Jude polnischer Abstammung, und Helene Grund, eine deutsch-jüdische Bankierstochter, lernen sich 1912 im Pariser Künstlerviertel Montparnasse im legendären Café du Dôme kennen und lieben. Sie heiraten 1913 in Berlin. Sohn Ulrich wird 1914, der zweite Sohn Stefan 1917 geboren. Der Erste Weltkrieg trennt die Eltern von ihren Pariser Freunden, was sie sehr schmerzt. Beim Wiedersehen mit einem von ihnen, Henri-Pierre Roché – seinerseits Maler, Schriftsteller und Kunstsammler – bei einem Urlaub in Bayern direkt nach Kriegsende, verliebt sich Helene in Henri-Pierre. Entgegen dem patriarchalen Besitzdenken ihrer Zeit verfällt Franz nicht der Eifersucht, sondern hält sowohl die Liebe zu Helene wie die Zuneigung zu seinem französischen Freund aufrecht. 1924 entscheidet sich Helene, zu ihrem französischen Liebhaber nach Paris zu ziehen – mit Stefan.
Diese reale Dreiecksbeziehung wird von Henri-Pierre Roché zunächst 1953 in seinem Roman mit dem Titel „Jules et Jim“ aufgeschrieben. Zehn Jahre später verarbeitet der junge Regisseur François Truffaut den Stoff des Buches zu dem gleichnamigen Kinofilm – es wird zu einem Meisterwerk der französischen „Nouvelle Vague“ und überhaupt Truffauts populärstes Werk.
Der Résistant
Die Jahre 1933/34 verbringt Stéphane zur Vollendung seiner Studien in England auf der London School of Economics und lernt perfekt Englisch. Vater Franz Hessel wird derweil von den Nazis als „jüdischer Schriftsteller“ stigmatisiert, doch – so lange es geht – vom Verlagshaus Rowohlt protegiert und mit Übersetzungsarbeiten versorgt. 1938 zieht er schließlich auf Druck von Helène mit Sohn Ulrich nach Paris. Stéphane heiratet 1939 die russische Jüdin Vitia Guetzewitsch. Er hatte schon 1927 – noch immer in einem Klima höchster Feindschaft zwischen beiden Ländern – mit Henri-Pierre Rochés Hilfe die französische Saatsbürgerschaft erhalten.
Stéphane erlebt als französischer Soldat die Kapitulation vom 22. Juni 1940: seine erste „Empörung“ (Indignation). Der gleichzeitige Aufruf de Gaulles von London aus, den Kampf fortzusetzen, gibt ihm Hoffnung. Er kann aus der deutschen Kriegsgefangenschaft mithilfe eines Priesters entkommen, lässt sich in Montauban im französischen Süden demobilisieren. Zusammen mit seinen Eltern geht er nach Marseille und hält sich mit dem Handverkauf von Zeitungen am Bahnhof über Wasser. Helène Hessel wird Mitarbeiterin von Varian Fry, der mit Geldern des von Eleanor Roosevelt und Thomas Mann finanzierten American Rescue Comittee deutsche politische Flüchtlinge und Intellektuelle die Ausreise in die USA ermöglicht. Stéphane freundet sich mit Varian Fry an; in ihrer knapp bemessenen Freizeit machen sie Ausflüge in die Provence. Stéphane ist auch einer der letzten, der den verzweifelten Walter Benjamin in Marseille spricht, bevor sich dieser zu seiner Reise ohne Wiederkehr an die spanischen Grenze aufmacht. Stéphane kann schließlich eine Schiffspassage ins algerische Oran ergattern, von dort nimmt er ein weiteres Schiff nach Lissabon. Vitia und ihre Eltern fliehen weiter nach New York, während Stéphane nach Bristol in England fliegt. Es ist der 20. März 1941, als er ankommt. Vitia trifft ihn im November 1942 in London wieder. Die in Kriegszeiten wertvollen Sprachkenntnisse Stéphanes (Deutsch, Englisch, Französisch) machen ihn wie prädestiniert für die Beteiligung am BCRA (Zentralbüro für Aufklärung und Aktion) des Freien Frankreichs in London. Seine Aufgabe besteht darin, Radioverbindungen zwischen Résistance-Gruppen innerhalb Frankreichs und der Zentrale um de Gaulle in London herzustellen.
Im März 1944 lässt Stéphane sich selbst mit ähnlichem Auftrag in Frankreich absetzen, wird aber durch unter Folter von der Gestapo erpresste Aussagen eines Radiofunkers, den er selbst in London ausgebildet hatte, verraten und am 10. Juli 1944 von der Gestapo festgenommen. Er wird mehrfach gefoltert (Unterwasserfolter; Stromstöße), macht aber falsche Angaben. Als politischer Häftling wird er am 8. August 1944 ins KZ Buchenwald deportiert. Nach einem zusammen mit Eugen Kogon geplanten, aber gescheiterten Fluchtversuch kann er schließlich am 5. April 1945 aus einem Zugwaggon nach Bergen-Belsen fliehen und trifft am 20. April in Hannover auf eine US-amerikanische Einheit.
Vom UN-Emissionär zum Indignado
Bei der UN in New York bekommt Stéphane eine organisierende Stelle bei jener Kommission, welche die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verfasst, die 1948 veröffentlicht wird. Zusammen mit der Erklärung des Nationalrats der Résistance wird sie Stéphane Hessels menschenrechtliches Credo, jedoch nicht im Sinne der Menschenrechtskrieger von heute: Er will den Krieg in einen Gegensatz zum Gesetz stellen. Sein politischer Mentor der Nachkriegszeit ist Pierre Mendès-France, der als kurzzeitiger Präsident 1954 Indochina und Tunesien in die Unabhängigkeit entlässt. Mit Stéphanes politischen Vorhaben der internationalen Kooperation, des Dialogs und der Zurückdrängung des Krieges ist jedoch nun eine Reihe von Rück- und Fehlschlägen bei verschiedenen diplomatischen Diensten sowohl bei der UNO in Genf als auch als Berater französischer Botschaften in Saigon und im unabhängigen Algier der späten Sechzigerjahre verbunden. Nach 1968 lernt er Daniel Cohn-Bendit in Paris kennen, woraus sich eine lebenslange Freundschaft und ein spätes Interesse für Ökologie entwickeln.
Über verschiedene Parteimitgliedschaften linkssozialistischer Gruppen wie Parti socialiste autonome (PSA) oder Parti socialiste unifié (PSU) hinweg nähert sich Stéphane schließlich dem Parti socialiste (PS) an, dem er 1995 beitritt. Als Regierungsbeamter von Premierminister Jospin setzt er sich 1997 für die Kirchenbesetzungen illegaler Flüchtlinge in Saint-Ambroise und Saint-Bernard ein, dem Höhepunkt der „Sans-Papiers“-Bewegung. Er erreicht eine Legalisierung aller KirchenbesetzerInnen sowie ein zeitweilig geltendes, etwas gemäßigteres Immigrationsverfahren: Endlich ein Erfolg auf diplomatischem Parkett.
Doch seine eigentliche Zeit als Kämpfer für Menschenrechte folgt erst in hohem Alter: 1991 reist er zum ersten Mal nach Gaza, wo der Sohn seiner zweiten Frau, Christiane, beim Roten Kreuz arbeitet. 2003 beteiligt er sich als „Zeuge für den Frieden“ bei einer Mission israelischer PazifistInnen und sieht die Zerstörung palästinensischer Häuser durch die israelische Armee. Noch einmal reist er in den Gaza-Streifen 2008/09, direkt nach Israels Krieg gegen Gaza. Diese Erlebnisse empören ihn zutiefst und gegen alle dann einsetzenden Anfeindungen setzt er sich fortan als international geachteter Jude für die Rechte der PalästinenserInnen ein.
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Schließlich wird er 2010 mit einer kleinen Streitschrift zum Initialzünder der Indignado- und Occupy-Bewegung: „Indignez-vous!“ (dt.: „Empört euch!“), wo er selbst den Bogen seines Lebenslaufs von der Résistance bis zur Empörung in Palästina schlägt: „Der Motor der Résistance, das ist die Empörung“ – nunmehr jedoch mit einem Aufruf zur Gewaltfreiheit verbunden. Das Büchlein verkauft sich 2,3 Mio. mal in Frankreich, weltweit über 4 Mio. mal. Am Anfang der Streitschrift steht seine Erinnerung an das Programm des Nationalrats der Résistance. Es war eine Mischung aus Nationalisierung der Schlüsselindustrien und der Wiedereinsetzung sozialstaatlicher Errungenschaften aus der Zeit der Fabrikbesetzungen und der Volksfront von 1936. Ein Programm mit teilweise dirigistischen Elementen, das ist richtig; doch, so schreibt die französische Zeitung Libération in ihrem Nachruf auf Hessel: „Ein Dirigismus, auf den sich nunmehr ein Großteil der Linken bezog, um jedoch gleichzeitig auch antistaatlich eingestellte Bewegungen in den Bereichen der Immigration, des Erziehungswesens und der individuellen Freiheiten zu unterstützen.“
Quellen:
Alain Beuve-Méry: Stéphane Hessel. Résistant, ambassadeur, in: Le Monde, 28. 2. 1913, S. 17.
Libération, 28. 2. 2013, Sonderausgabe zum Tod von Stéphane Hessel.