Selbststrangulation der Linken
Die Partei „Die Linke“ bewegt sich in einem Zirkel der Gewissheit. Sie sieht sich auf der richtigen Seite und bekämpft alle, die anderer Meinung sind als sie. Dass sie sich dabei auf der Seite der Herrschenden wiederfindet und keine eigene Vorstellung einer neuen Gesellschaft mehr entwickeln kann, fällt dieser Linken nicht auf. Eine Analyse im Angesicht der Bundestagswahl, die aber weit darüber hinaus geht.

Eine neue politische Kraft muss den „Geist des Bruchs und der Unterscheidung“ (Gramsci) der eigenen politischen Position entwickeln. Diese Aufgabe einer neuen politischen Kraft, die eine Alternative zur bestehenden Gesellschaft sein will, hat Antonio Gramsci im faschistischen Kerker formuliert (Gramsci 1993/5, S. 1052). Es gelte in der Folge, diese in der Gesellschaft zu verbreiten, um Allianzen gegen den herrschenden Block zu bilden. Eines der grundlegenden Probleme der Linkspartei besteht genau in der fehlenden Ausarbeitung eines derartigen Geistes. Sie setzte in den letzten Jahren stattdessen auf Anschlussfähigkeit, die Regierungsreife und Regierungsbereitschaft dokumentieren sollte. Der Preis dieses Strebens nach Anschlussfähigkeit war der Verlust eines eigenständigen politischen Profils und besiegelte die Anpassung an etablierte Regierungsparteien. Es ist zu befürchten, dass sich dieser Trend nach der Bundestagswahl im Februar 2025 ungemindert fortsetzen wird.
In sämtlichen Großkonflikten wie dem Ukraine-Konflikt, der ‚Corona-Krise‘, der Migration hat die Linkspartei kläglich versagt (vgl. Brie 2024; Lieberam 2024a). Wo sie an Regierungen beteiligt war, wie etwa in Berlin, hat sie eine katastrophale neoliberale Politik unterstützt. Eine eindeutig friedenspolitische Position ist nicht mehr erkennbar, stattdessen wurde und wird immer wieder eine sukzessive Annäherung an die NATO empfohlen, steht doch die Forderung nach einem Austritt aus dieser Militärorganisation einer möglichen Regierungsbeteiligung im Wege. Man erinnere sich daran, dass Linke wie Katja Kipping oder Christoph Spehr diese Forderung nach einem NATO-Austritt torpedieren, die NATO gar als notwendigen Bestandteil einer internationalen Friedensordnung (Spehr) sehen! Die Linke trifft das gleiche ‚Schicksal‘ wie einst die Grünen, die nach der Entsorgung ihres ökosozialistischen Flügels sich immer stärker und rasanter an die bestehende Gesellschafts- und Herrschaftsordnung anpassten. Anstatt eigene gesamtgesellschaftliche Alternativen zu entwickeln, klebt die Linkspartei bis heute wie eine Klette an rot-grüner Ideologie, unterscheidet sich kaum noch von den Konzepten der Regierenden. Deren Schlagwörter wie frühkindliche Bildung, Inklusion, Klimaneutralität, sozialökologische Umbau, Nachhaltigkeit, gendergerechte Sprache, um nur einige wenige zu nennen, werden nicht mehr auf ihre Herkunft untersucht, sondern kritiklos angeeignet und in die eigene Programmatik übernommen. Die erste und größte Baustelle: Es fehlt dieser Linken jegliche politische Vision, eine reale Utopie, eine Idee, die über die Grenzen der bestehenden Gesellschaft hinausführen könnte. Sie verfügt nicht über einen Geist des Bruchs und der Unterscheidung!
In die politische Sackgasse führen auch – die zweite Baustelle – die ständigen, fast schon an Glaubensbekenntnisse erinnernden Abgrenzungsrituale gegen ‚rechts‘ (siehe schon Lieberam 2024b), ohne dass freilich einmal definiert würde, wer unter diese Kategorie fällt. Es ist wohlfeil, gegen ‚rechts‘ zu sein in einer Zeit, in der die Regierenden selbst gegen ‚rechts‘ mobilisieren, um von der eigenen desaströsen Politik abzulenken. Mit Zivilcourage hat dies wenig zu tun, noch weniger mit Antifaschismus, ein großes Wort, das viele sich stolz ans Revers heften, ohne einen Begriff von diesem Wort zu haben. Ein sich links einordnender, älterer Kollege erzählte mir vor Kurzem stolz, er sei gegen die Rechten auf die Straße gegangen. „Ah, ja, also gegen die Neoliberalen und gegen die Grünen?“, fragte ich, woraufhin er mir verlegen antwortete: „Nein, gegen die richtigen Rechten.“ Auf die Frage, ob es denn ‚richtige‘ und ‚falsche‘ Rechte gebe, kam er in die Bredouille, und er konnte darauf keine Antwort geben. Der Inhalt dieser Anekdote ist symptomatisch für große Teile des linken Spektrums: mangelndes Differenzierungsvermögen. Zu oft wird pauschal geurteilt. Wer die Corona-Maßnahmen kritisch sieht, ist rechts, wer gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ist, ist rechts, zumindest aber Putinist, wer der EU imperiale Motive unterstellt, ist rechts! Das Etikett ‚rechts‘ ersetzt in der Linken oftmals die differenzierte Analyse und vor allem: die politische Auseinandersetzung. Dabei wäre es für die politische Strategie doch nicht unerheblich, genauer zu unterscheiden, was ‚rechts‘ bedeutet: Trifft die Etikettierung schon zu, wenn jemand traditionsbewusst bzw. konservativ eingestellt ist, oder erst, wenn man von reaktionären, völkischen, rassistischen oder faschistischen Einstellungen sprechen kann? Wäre diese Unterscheidung nicht wichtig, wenn es darum geht, im bürgerlichen Lager Menschen von den eigenen Ideen zu überzeugen, anstatt mit martialischer Rhetorik nur Abwehrhaltungen zu provozieren?
Die Rechte als Fetisch der Linken
Aus einer Außenperspektive muss man den Eindruck gewinnen, dass links nur das ist, was nicht rechts ist. Eine rein negative, äußerst schwammige Bestimmung! Damit aber werden die Zuordnungen ‚links‘ und ‚rechts‘ völlig wertlos. Anstatt die eigene Position inhaltlich zu entwickeln, werden Energien damit verschwendet, gegen Parteitage und Kundgebungen der AfD zu mobilisieren, ungeachtet des zu erwartenden Bumerangeffektes dieser Aktionen. Hätte es nach den Anschlägen in Magdeburg und Aschaffenburg nicht erst einmal eines reflektierenden Innehaltens und Nachdenkens bedurft, anstatt reflexhaft, ohne Sinn und Verstand, unmittelbar danach sich an Demos ‚gegen rechts‘ zu beteiligen? Es zeugt keineswegs von moralischer Überlegenheit der Linken, obwohl sie diese doch immer wieder für sich reklamiert, wenn der rechten Instrumentalisierung dieser Anschläge eine linke Instrumentalisierung entgegengesetzt wird. Macht es die Linke nicht misstrauisch, wenn ausgerechnet ein kommerzielles Protestunternehmen wie Campact Demonstrationen gegen ‚rechts‘, den „Aufstand der Anständigen“, organisiert? Und wenn die Regierenden dazu Beifall klatschen? Und wenn die Energie der Empörung auf rechtspopulistische Bewegungen gelenkt und damit der Zusammenhang zu denjenigen politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen und Strukturen aufgelöst wird, denen Nationalismus, Rassismus und Rechtsextremismus ihre Entstehungsbedingungen verdanken? Die Rechte in Form der AfD ist der Fetisch, den die Linke pflegt, und während sie diesen pflegt, vergisst sie, was ihre Hauptaufgabe wäre: die Kritik der Herrschenden und Regierenden (Žižek 2018).

Äußerst ungünstig auf die Entwicklung der Linkspartei wirkt sich eine seit Jahrzehnten an den Hochschulen beobachtbare Tendenz aus: Die Preisgabe des Terrains kritischer Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie in den Sozialwissenschaften. Diese Tendenz lässt sich symptomatisch in der Konzentration von linken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf scheinbar unverbundene Einzelphänomene ablesen (wie z. B. Diversität; sexuelle Identität; Inklusion), in deren Folge das Denken in übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhängen verlorenging. Weitgehend gekappt wurde die Verbindung mit den theoretischen Wurzeln von Gesellschaftskritik: mit Theorien des utopischen Sozialismus mit der Philosophie von Marx und seiner Kritik der Politischen Ökonomie, mit den ökonomischen Schriften Rosa Luxemburgs, den Gefängnisheften Antonio Gramscis und den Philosophen und Ökonomen der frühen Kritischen Theorie. Befördert wurde diese Tendenz ausgerechnet durch eine Stiftungsarbeit, die nur den Namen, nicht aber den Geist Rosa Luxemburgs trägt. Wo die Gedankengänge, Instrumente und Begriffe dieser Traditionslinie aber nicht mehr bemüht, gegenwartsrelevant aufbereitet und fortentwickelt werden, fehlt der theoretische Kompass, aus dem die Linke Schlussfolgerungen für ihre politische Programmatik und für das politische Handeln ziehen könnte.
Insbesondere an den Universitäten hat sich ein links-grünes akademisches Milieu herausgebildet, das die großen Gesellschaftsfragen aus dem Blick verloren hat und sich von Forschungsgegenständen ködern lässt, die in der Linie einer herrschaftsförmigen Forschungslandschaft liegen. Der Druck auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Drittmittel einzuwerben und nur noch in bestimmten wissenschaftlichen Zeitschriften zu publizieren, verstärkt diese Tendenz. Sich als politisch links einstufende Ansätze haben sich in der Folge dieser mehr oder weniger bewusst vollzogenen Distanzierung weit von der Analyse und Diskussion globaler Gesellschaftsfragen und der Thematisierung des Problems der Herrschaftsstrukturen entfernt.1 Dies schlägt sich bis in die Gegenwart hinein in den begrifflichen Formulierungen gravierend nieder: Soziales Milieu statt Gesellschaftsklasse, Macht statt Herrschaft, Kultur statt Ökonomie, Heterogenität statt gesellschaftlicher Ungleichheit, Diversität statt Orientierung an Gemeinsamkeit, Identitätspolitik statt Gesellschaftspolitik, Diskurs statt Klassenkampf. Diese Tendenz bildet sich auch im Wahlaufruf für die Linkspartei „Warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Linke wählen“ vom Februar 2025 ab, in der noch nicht einmal das kapitalistische Wirtschaftssystem oder die globale Friedensfrage Erwähnung fanden. Kein Wort in diesem Aufruf zur Kriegsgefahr in Europa, kein Wort zur katastrophalen Außenpolitik der Grünen! Kein Wort zur Notwendigkeit einer Friedenspolitik!
Gesellschaftliche Fragestellungen werden zunehmend jenseits der ökonomischen Konstruktion der Gesellschaft, der Klassenfrage, der Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen bearbeitet. Eine schwindende „Oppositionsfähigkeit“ (Leisewitz/Lütten 2018, S. 37) der jungen, sich links verstehenden akademischen Gruppierungen ist die Folge. Damit entfallen Forschungs- und Theoriearbeiten, die für das Profil einer handlungsfähigen Linken unverzichtbar sind.
Identität statt Alltagsprobleme
Die US-amerikanische Soziologin Nancy Fraser hat unter dem Begriff des progressiven Neoliberalismus die politischen Folgen der Liaison von neuen sozialen, linken Bewegungen und Finanzmarktökonomie für die USA in beeindruckender Weise herausgearbeitet (vgl. Fraser 2017). Mit den notwendigen Veränderungen dürften einige Einsichten von Frasers Studien auf deutsche Verhältnisse anwendbar sein. Durch die unkritische ‚linke‘ Adaption herrschaftlich vorgegebener Diskurse wird Gesellschaftskritik völlig entschärft und in ihr Gegenteil verkehrt: „Die pseudolinke Politik – mit ihrem Fokus auf Hautfarbe, Nationalität, Geschlecht und sexuelle Neigungen – trägt mittlerweile entscheidend dazu bei, Opposition gegen den Kapitalismus zu unterbinden, indem sie den Begriff der Klasse als wesentliche gesellschaftliche Kategorie zurückweist, stattdessen auf individuelle ‚Identität‘ und ‚Lifestyle‘ setzt und imperialistische Interventionen und Kriege im Namen der ‚Menschenrechte‘ legitimiert.“ (North 2016, S. 11 f.) Postmodernistische und konstruktivistische Positionen werden von der akademischen Linken begierig aufgegriffen, weil jene nicht mehr auf die gesellschaftlichen Grundwidersprüche fokussieren: Michel Foucault statt Karl Marx, Judith Butler statt Rosa Luxemburg, Gilles Deleuze statt Antonio Gramsci. Die bestehenden Produktions-, Eigentums- und Besitzverhältnisse lösen sich in der Folge der klammheimlichen Distanzierung von kritischer Gesellschaftstheorie „in ein unbestimmtes Nebeneinander von diskriminierenden, menschenfeindlichen Ideologien, Denkformen und kulturellen Praktiken“ auf (Leisewitz/Lütten 2018, S. 39).
In praktischer Hinsicht ist eine weitere, vierte Baustelle zu nennen: die fehlende Brücke vieler, sich als links einstufender Gruppierungen zu den Alltagsproblemen und den sozialemotionalen Stimmungslagen der in diesem Land heimischen Menschen. Es fehlt das unerlässliche Differenzierungsvermögen hinsichtlich der in den Menschen sedimentierten Weltanschauungen, ihrem Alltagsbewusstsein. Die Unfähigkeit (oder der Unwille?), die sozialemotionale Grundlage und die Denkmuster dieses Alltagsbewusstseins als Ausgangspunkt für eine kritische Bildungsarbeit wahrzunehmen, zieht sich vom Beginn der sozialistischen Arbeiterbewegung bis in große Teile der gegenwärtigen politischen Linken. So prominente Vertreter wie Antonio Gramsci, Max Adler oder Otto Felix Kanitz haben – offensichtlich vergeblich – immer wieder darauf hingewiesen, dass Überzeugungsarbeit nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Menschen in ihren Gemütsverfassungen und in ihren Alltagsvorstellungen ernst genommen werden. Mit ihrer penetranten Ignoranz gegenüber der Erfahrung, dass ein kritisches Bewusstsein nur dann initiiert und aufgebaut werden kann, wenn die in der Bevölkerung verbreiteten Weltbilder, Einstellungen und Gefühlsstimmungen als zentrale Bezugspunkte von Bildungsarbeit respektiert werden, entziehen sich große Teile der Linken der Aufgabe, tatsächliche Bewusstseinsbildungsprozesse anzuregen.
Dieses Defizit dürfte einer der wichtigen Gründe für die „Entfremdung der LINKEN von der lohnarbeitenden Klasse“ (Brie 2024, S. 11) sein. Aus einer Position der vermeintlichen geistigen Überlegenheit, der Selbstgerechtigkeit, gar der Verachtung gegenüber alltagsweltlichen Vorstellungen kann jedoch keine Gesellschaftskritik entfaltet werden. Die emotionalen und intellektuellen Blockierungen im Hinblick auf die Anbahnung veränderter Denk- und Handlungsweisen können weder mit dem weit verbreiteten linksintellektuellen Maulheldentum noch mit paternalistisch den Menschen aufgezwungenen ‚Diskurs‘- und Sprachregeln der Political Correctness (vgl. Buttkereit 2023) aufgebrochen werden. Dieses künstliche, aufgenötigte, nicht aus den Lebensverhältnissen organisch entstandene Neusprech, eine intellektuelle Kunstsprache, beraubt die Menschen ihrer eigenen Ausdrucksmöglichkeiten und wird in seiner Unwahrhaftigkeit intuitiv wahrgenommen. Diese Kunstsprache provoziert nur Abwehrhaltungen, aber keine Denkanstöße. Das kann jedoch wohl nicht das Ziel einer Politik sein, die sich emanzipatorische Zielsetzungen auf die Fahnen geschrieben hat! Gesellschaftskritik setzt im Gegenteil Zuwendung zu menschlichen Angelegenheiten, die Achtung vor Andersdenkenden und ihren sozialisierten Einstellungen, voraus. Erfahrungen können nur verändert werden, wenn, wie Gramsci betont, die Bereitschaft besteht, sie aufzugreifen und sie in ihrer emotionalen Verankerung intellektuell und gefühlsmäßig nachzuvollziehen. Auf diese Weise erst entsteht die Möglichkeit, jene mit Reflexionen anzureichern, die das Denken und Handeln der Menschen in emanzipatorischer Hinsicht umgestalten können (vgl. Gramsci 1994/6, S. 1490). Das grundlegende Defizit an sozialer Sensitivität und Phantasie stellt eine chronische Behinderung der praktischen Wirksamkeit einer jeden Aufklärungsarbeit dar, die nicht in links-grünen Klimbim-Formulierungen und Begriffs-Wortblasen ihre Erfüllung findet, sondern tatsächliche Provokationen zum Denken und Weiterdenken freizusetzen versucht.
Respekt ist notwendig
Eine letzte Baustelle darf nicht unerwähnt bleiben: Die „Fähigkeit zur Unmenschlichkeit“, von der Rosa Luxemburg einmal sprach, findet sich durchaus auch im linken Spektrum. Eine Linke muss jedoch menschlicher sein als die Kräfte, die sie bekämpft, muss eine bessere Welt in ihrem Handeln zumindest ansatzweise repräsentieren. Auch eine intolerant agierende Antifa, die den Begriff des Antifaschismus in sein Gegenteil zu verkehren droht, ist mit diesem Grundsatz nicht vereinbar. Nur über einen Vorschuss an Humanität und Antiautoritarismus sind solidarische Gesellschaftsverhältnisse entwickelbar. Dies gilt auch für den Umgang mit dem politischen Gegner. Ja, es geht um einen antiquiert erscheinenden Begriff: um Respekt gegenüber Andersdenkenden, aber auch um Respekt im internen linken Spektrum. Eine Linke, die in ihren eigenen Reihen diese Prinzipien nicht ansatzweise vorlebt, kann keinerlei Anspruch auf die Initiierung von Emanzipationsprozessen erheben. Sie bleibt unglaubwürdig.
Der linke Mainstream bewegt sich oftmals in einem „Zirkel der Gewissheit“ (Freire 1973, S. 28), der nur der selbstgerechten Bestätigung der eigenen Position dient. In diesem Zirkel der Gewissheit, den man an konservativen Positionen gerne kritisiert, aber selbst ungeniert praktiziert, existiert eine Unfülle von Tabus, Denkverboten und Glaubenssätzen, die diesen Zirkel abdichten, die linksinterne Debattenkultur verengen und damit die solidarische Weiterentwicklung extrem behindern – eine Form der Selbststrangulation. Diejenigen, die es wagen, den Zirkel zu durchbrechen, werden in Reaktionen, die an einen Konditionierungsvorgang erinnern, sofort als ‚rechts‘ oder ‚rechtsoffen‘ diffamiert. Ihnen droht die Exkommunizierung. Sahra Wagenknecht ist diesbezüglich der prominenteste Fall. Als Beispiele für diese Tabuisierungen seien die Themen der Corona-Aufarbeitung, der Migration, des Verhältnisses zur EU und der Inklusion genannt. Denn in ihnen wirkt der erkenntnisverhindernde Zirkel der Gewissheit am stärksten. Wie ist es aber um die linksinterne Demokratie bestellt, wenn schon die Forderung nach einer Corona-Aufarbeitung auf Unverständnis stößt oder die Benennung von Problemen der Migration unmittelbar den Vorwurf nach sich zieht, rechtem Gedankengut aufgesessen zu sein?
Ungeschminkt muss angesichts dieser nur unvollständigen Auflistung von Baustellen von einem linken Desaster gesprochen werden. Daran ändern auch die Zugewinne bei der letzten Bundestagswahl nichts. Linke Häme angesichts des Scheiterns des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) an der Fümfprozentklausel verbietet sich, sind für die Linke durch die selbstverschuldete Abspaltung doch herausragende kritische Köpfe wie Sevim Dağdelen, Andrej Hunko, Fabio de Masi, Amira Mohamed Ali, Sahra Wagenknecht etc. verloren gegangen. Ungewiss bleibt, auf welche Weise die skizzierten Baustellen, von denen einige durchaus hausgemacht sind, aufgehoben werden können. Die Rückbesinnung auf die klassischen Themen linker Politik: der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, die krassen Gegensätze von arm und reich, Armut und Unterernährung, der Antagonismus zwischen Kapitalismus und Ökologie wäre eine Bedingung. Eine konsequente Friedenspolitik gegen Kriegsertüchtigung, Waffenexporte und Feindbildkonstrukte die andere. Der „Geist des Bruchs und der Unterscheidung“ müsste wieder deutlich werden. Insbesondere wäre die erwähnte Entfremdung von der lohnabhängigen Bevölkerung zu überwinden und eine vernünftige Migrationspolitik anzustreben, die den sozialen Verwerfungen den Boden entzieht. Als allererstes aber wäre der Zirkel der Gewissheit aufzubrechen, weil nur durch die Überwindung seiner Barrikaden die Linke wieder entwicklungsfähig werden kann.
Fußnote
1 Hinzu kommt eine Geschichtsvergessenheit, die gerade im Hinblick auf die nach vorne gerichtete Verarbeitung der Niederlagen der Linken, als Voraussetzung neuer Versuche der Befreiung, kontraproduktiv ist (siehe die Arbeit von Traverso 2019).
Literatur
Brie, Michael (2024): Linksliberal oder dezidiert sozialistisch? Zur aktuellen Situation der Linken. In: Sozialismus. H. 3, S. 10-13
Buttkereit, Helge (2023): Ein Buch als Ausdruck des Niedergangs (Rezension des Buches von Sven Brajer zur Krise der Linkspartei), Hintergrund.de: https://www.hintergrund.de/feuilleton/literatur/ein-buch-als-ausdruck-des-niedergangs/
Fraser, Nancy (2017): Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus. In: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.): Die große Regression. Berlin: Suhrkamp, S. 77-91
Freire, Paulo (1973): Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek: Rowohlt
Gramsci, Antonio (1992 ff.): Gefängnishefte. Berlin u. Hamburg: Argument
Leisewitz, André/John Lütten (2018): Neue Klassendiskussion. Anmerkungen zu Klassentheorie, Klassenverhältnissen und zur linken Strategiekrise. In: Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung. Nr. 116, S. 26-39
Lieberam, Ekkehard (2024a): Umbruch im linken Parteienspektrum: Das BSW als letzter Ausweg? In: Der Hintergrund. H. 5-6, S. 22. 38-41
Lieberam, Ekkehard (2024b): Kriegsvorbereitung, Faschismusgefahr und Demokratiefrage. In: Der Hintergrund. 22. 8. 2024
North, David (2016): Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken. Essen: Mehring Verlag
Traverso, Enzo (2019): Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition. Münster: Unrast Verlag
Žižek, Slavoj (2018): Die Linke pflegt ihre Fetische statt die Mächtigen zu kritisieren. In: Neue Züricher Zeitung. 5. 2. 2018
Der Autor
Armin Bernhard, Erziehungswissenschaftler, von 2003-2023 Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Letzte Veröffentlichungen: Pädagogik des Widerstands. Impulse für eine pädagogisch-politische Friedensarbeit, 2017; Die inneren Besatzungsmächte. Fragmente einer Theorie der Knechtschaft, 2021; Praxisphilosophische Pädagogik. Ein materialistisch-humanistisches Projekt gegen die Enthumanisierung der Gesellschaft, 2024.