Medienkritik

Regierung, Journalismus, Corona: Eine Heilige Dreifaltigkeit

Die Leitmedien haben ab dem Frühjahr 2020 eine Politik unterstützt, die nichts mit Gesundheitsschutz zu tun hatte. Das war schon damals für jeden erkennbar und hat das Vertrauen in die Berichterstattung genauso erschüttert wie den Berufsstand selbst.

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Michael Meyen
Quelle: Tilo Gräser, Mehr Infos

Herbst 2024: Auftakt auf X

“Guten Tag, Herr Meyen”. Wenn ein Tweet so beginnt, schwant mir stets Böses. Aya Velazquez, fast 90.000 Follower stark, warf mir dann auch gleich im übernächsten Satz eine “Falschbehauptung” plus “Irreführung” vor. Tatzeit: 13. November 2024. Stein des Anstoßes: ein Text von Christina Berndt, erschienen zwei Tage vorher in der Süddeutschen Zeitung. Überschrift: “Zwei Impfungen an einem Tag führen nicht zu stärkeren Nebenwirkungen”. Corona in den linken Arm und Grippe in den rechten. Oder umkehrt. Ein “Doppel-Piks” jedenfalls, von offizieller Seite empfohlen und nun auch von der Spitzenfrau des deutschen Wissenschaftsjournalismus. Was soll man dazu sagen, im Spätherbst 2024 wohlgemerkt, nach Paul Schreyers grandiosem Feldzug gegen die Tarnkappen der Gesundheitsbürokratie, nach drei AfD-Symposien im Bundestag und dem Gezerre um Untersuchungsausschüsse in einigen Ost-Parlamenten? Eben. So schwer ist das nicht. Ich habe einfach mein YouTube-Video “Kampf um Definitionsmacht” beworben, hochgeladen zwei Tage nach der Wahl von Donald Trump, und einen Kommentar hinzugefügt. “Passt zu meiner These: Bevor die RKI-Protokolle nicht in den Leitmedien angekommen sind (vor allem das, was da steht), wird es weder Aufarbeitung geben noch Wandel.” Und schon war Aya Velazquez auf meinem Bildschirm als Rache-Engel all jener, die Kamera und Website mit Journalismus und Wissenschaft verwechseln.

Ich will nicht ungerecht sein. Die Pressekonferenz im Berliner Sprechsaal, bei der Aya Velazquez Ende Juli 2024 neben Stefan Homburg und Bastian Barucker saß und verkünden durfte, dass die RKI-Protokolle nun komplett und ungeschwärzt im Netz stehen, hat Wellen geschlagen, sogar in den Leitmedien. Auch wenn die dpa, wichtigster Nachrichtenlieferant, den Tenor vorgab (RKI missbilligt Veröffentlichung, Gesundheitsminister Lauterbach hat bis auf ein paar Namen nichts zu verbergen) und Christina Berndt in der Süddeutschen mit den Schultern zuckte (“Und wo ist jetzt der Skandal?”, 24. Juli 2024): Es gab eine Debatte, die selbst die Ampel zum Flackern brachte. Ein knappes Vierteljahr später hatten 28 Prozent der Deutschen von den RKI-Protokollen gehört. Nur 28 Prozent oder immerhin so viele.

Acht Millionen Menschen, lässt sich aus dieser Forsa-Umfrage hochrechnen, sehen die Corona-Maßnahmen “kritischer”, seit sie davon gehört haben, dass die Regierung der Wissenschaft nicht folgte, sondern Maskenzwang, Lockdowns, Impfdruck gegen jede Expertise und gegen jede Evidenz durchdrückte. Dass es diese Zahl gibt, grenzt genauso an ein Wunder wie die Offenlegung der RKI-Protokolle. Erst haben Paul Schreyer und seine Mitstreiter von Multipolar die Behörde knapp vier Jahre genervt, auch vor Gericht, und dann wollte Forsa kein Geld von diesem Magazin, wo auch die Idee für diese Studie geboren wurde, und musste über einen Umweg zu seinem Glück gedrängt werden.

Die Definitionsmacht der Leitmedien

Acht Millionen Menschen, die die Corona- Politik heute “kritischer” sehen: Das Publikum der Tagesschau ist größer, an jedem verdammten Abend, immer noch. Die TV- Nachrichten und andere Leitmedien wie die Süddeutsche Zeitung mit Frau Doktor Berndt, die öffentlich-rechtlichen Abendtalks oder der Spiegel produzieren das Gedächtnis der Gesellschaft – das Hintergrundrauschen, das überall ist, sobald man die eigene Wohnung verlässt. Was immer Aya Velazquez, Paul Schreyer oder ich im Internet erzählen: Es spielt keine Rolle, solange wir damit nicht ins Fernsehen kommen oder in die großen Blätter. Natürlich: Jeder dritte Erwachsene meidet die Leitmedien inzwischen. Und knapp zehn Prozent der Haushalte weigern sich, für ARD und ZDF zu zahlen, obwohl der Streitwert in keinem Verhältnis zu der Drohkulisse steht, die vom Gewaltmonopol des Staates ausgeht. Trotzdem: Nur hier, nur bei den Leitmedien können und müssen wir unterstellen, dass buchstäblich alle wissen, was dort gesendet und geschrieben wurde. Wir brauchen die Tagesschau oder die Lokalzeitung, weil wir wissen wollen, was die anderen zu wissen glauben (vor allem die, die über unser Leben entscheiden), und weil wir die Definitionsmachtverhältnisse kennen müssen, um zu überleben. Wer hat es geschafft, seine Themen, seine Perspektiven und vor allem seine Moral auf die große Bühne zu bringen, und wer hat auf dieser Bühne nichts zu suchen? Wem sollte ich mich folglich anschließen, wenn ich nicht isoliert werden möchte, und wen meide ich besser? Und auf das Thema dieses Beitrags gemünzt: Kann ich morgen meine Maske aus dem Keller holen und stolz eine Einstichstelle präsentieren, ohne von Nachbarn, Kollegen, Verwandten für verrückt erklärt zu werden?

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MICHAEL MEYEN ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München. Aktuelle Veröffentlichungen: Wie ich meine Uni verlor (2023), Cancel Culture (2024) und Der dressierte Nachwuchs (2024). Videos: https://www.youtube.com/@Michael_Meyen

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