Zeitfragen

Rechte Ideologie und Propaganda in israelischen Lehrbüchern

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

1361348937

„Schreckliche Erziehungsmethoden“

20. Februar 2013 –

Palästinensische Bankangestellte, Kindergärtner, Zahnärzte und Automechaniker – in israelischen Schulbüchern existieren Araber als „normale Personen“ nicht. Sie würden lediglich als „Bedrohung“ und „Problem“ reflektiert.  Die Lehrbücher dienten als Werkzeuge zur „Einimpfung diskriminierender und rassistischer Anschauungen“ und „Ignoranz“ gegenüber den arabischen Nachbarn, sagt Nurit Peled-Elhanan, Autorin einer Studie mit dem Titel „Palästina in israelischen Schulbüchern. Ideologie und Propaganda in der Bildung“*. Mit prästabilisierten Negativ-Klischees und Zerrbildern würden jüdische Jugendliche in die Armee eingezogen, „um die israelische Politik gegen die Palästinenser durchzusetzen, deren Lebenswelt ihnen unbekannt ist und deren Existenz sie fürchten und ablehnen gelernt haben“. Der Staat Israel habe zu keinem Zeitpunkt die Friedenserziehung und die Koedukation von jüdischen und palästinensischen Schülern gefördert.

Peled-Elhanan ist Literaturwissenschaftlerin und Professorin an der Hebrew University of Jerusalem, wo sie Spracherziehung lehrt. Sie ist Friedensaktivistin und Mitbegründerin des Russell-Tribunals zu Palästina, das 2009 nach der Operation „Cast Lead“ der israelischen Armee auf dem Gaza-Streifen ins Leben gerufen wurde. 2001 erhielt sie den Sacharow-Preis des Europäischen Parlamentes. Susann Witt-Stahl sprach kurz vor der Knesset-Wahl mit Nurit Peled-Elhanan über die Erziehung zum Rassismus und Militarismus im israelischen Bildungssystem sowie den Rechtsruck in ihrem Land.  

Hintergrund: Sie gehen, wie Sie sagen, in Ihrer Forschung der Frage nach, wie es möglich ist, dass israelische Jugendliche, die „angeblich gemäß aufgeklärten humanistischen Werten erzogen werden“, oftmals in der Armee „zu schrecklichen Monstern werden“. Welche Reaktionen ernten Sie auf Ihre Arbeit?

Nurit Peled-Elhanan: Mein Buch wird hier weder akzeptiert noch wird es in irgendeiner Weise diskutiert. Ich werde zu keiner einzigen Konferenz oder zu Projekten über israelische Lehrbücher eingeladen. Die Kritik, die ich von anderen Wissenschaftlern, wie beispielsweise von dem Historiker Elie Podeh, bekomme, lautet, ich würde den Fortschritt, der in den Schulbüchern erkennbar sei, missachten.

Gibt es denn Fortschritte?

Nach der Meinung dieser Leute ist das schon der Fall, wenn der Begriff „Nakba”** verwendet wird.  In den Schulbüchern von heute gibt es mehr historische Details über den Krieg von 1948. Vereinzelt werden die Massaker an den Palästinensern erwähnt. Ich sehe aber keinen wahren Fortschritt, denn die Ideologie ist die gleiche geblieben.

Zu dieser Ideologie gehört die negative Darstellung der Palästinenser. Sie sagen, diese kämen nur als Ali-Baba-Karikaturen, Terroristen, primitive Bauern oder Flüchtlinge oder gar nicht vor. Welche Botschaft wird mit diesen Bildern bzw. mit dem Bilderverbot transportiert?

Wenn man so viele Menschen unterdrücken und kontrollieren will, dann muss man ihnen ihr menschliches Antlitz nehmen und es durch Stereotype ersetzen. Die Palästinenser werden nicht als Individuen gezeigt, nicht als Menschen mit einer Kultur, sondern nur als Problem und als Bedrohung, die beseitigt werden müssen. Es ist viel einfacher, jemanden zu töten, der keine menschlichen Züge trägt, als jemanden, den man kennt und der einem vertraut ist. Es geht darum, gute Soldaten aus den Schülern zu machen. Je weniger sie wissen, desto besser.

Wann tauchte die antipalästinensische Propaganda in den Schulbüchern auf?  Ist sie seit der Staatsgründung vorhanden und gehört zur Matrix des israelischen Bildungssystems? Gab es Unterschiede zwischen der Zeit vor dem Sechs-Tage-Krieg und danach und während der beiden Intifadas, dem Oslo-Friedensprozess und nach 9/11?

Nein. Es findet sich durchgehend eine kolonialistische Haltung. Die Judaisierungsideologie geht mit der Forderung der Entarabisierung des Landes einher. Und 9/11 wird als Ereignis rezipiert, das nur noch beweist, dass wir die ganze Zeit im Recht waren.

Sie kritisieren, dass auf den israelischen Landkarten Palästina und seine arabische Bevölkerung nicht existieren. Ist das nicht die logische Konsequenz aus dem zionistischen Mythos, dass Palästina ein „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land ist“?

Das ist seit jeher der Slogan aller kolonialen Projekte. Die Eingeborenen werden nicht zu den menschlichen Wesen gezählt. Schon Kolumbus war der Meinung, der amerikanische Kontinent sei menschenleer gewesen. Dass es Palästina auf israelischen Landkarten nicht gibt, ist eine politische Entscheidung. Israel will Palästina nicht als Nation anerkennen.

Die Landkarten zeigen auch nicht die „grüne Linie”, die mit dem Waffenstillstand von 1949 gezogene Grenze Israels zum Westjordanland, sondern nur das „Heilige Land”, das auch das seit 1967 besetzte Samaria und Judäa einschließt und in dem mittlerweile Hundertausende von Juden illegal siedeln. Heißt das, im israelischen Bildungssystem wird eine Zwei-Staaten-Lösung gar nicht in Erwägung gezogen? Welche Friedenslösung wird propagiert?

Es ist keine Lösung vorgesehen. Es gibt nur die Botschaft, die Palästinenser wollen keinen Frieden. Sie wollen uns töten, und sie wollen die Juden auslöschen. Die Frage Ein-Staat-Lösung oder Zwei-Staaten-Lösung wird nicht erörtert.

Werden in den Schulen auch keine anderen Konzepte für einen Friedensprozess diskutiert?

Nein, nie. Das gilt für das gesamte Bildungssystem in Israel. Es wird nur gelehrt, dass Yitzhak Rabin es versucht habe, aber gescheitert sei, weil die Palästinenser nicht einlenken wollten und das Oslo-Abkommen nicht eingehalten hätten.

Israel hat sich 2005 vom Gaza-Streifen zurückgezogen, hält aber an seiner Belagerung fest. Wie werden Gaza und seine Bewohner in den Lehrbüchern reflektiert?

Darüber wird nicht gesprochen. Die Kinder erfahren, dass der Sinai zurückgegeben wurde, um Frieden mit Ägypten zu schließen. Sie erfahren, dass Gaza ein sehr gefährlicher Ort, die Hamas eine terroristische Organisation sei, die Raketen auf Israel abfeuert. Deshalb muss unsere Armee, so die Begründung, dort reingehen.

Und was lernen israelische Kinder über den Iran? Wird Kriegspropaganda betrieben?

Ja. Egal, ob es um den Iran geht, um Libanon, Syrien oder Jordanien – alles, was die Kinder lernen, ist, dass wir von Feinden umgeben sind, die uns vernichten wollen. Die Schüler erfahren viel über Europa, aber kaum etwas über unsere Nachbarn. Vielleicht einmal etwas über die iranische Wirtschaft aus einem Geographiebüchern, aber nichts über die Literatur, nichts über die Menschen, die dort leben. Nie.

Sie forschen auch intensiv zu dem Umgang mit dem Tod in den Schulbüchern. Die israelische Jugend wird dazu erzogen, sich zu opfern und es akzeptabel zu finden, andere zu töten. Ist es nicht völlig normal, dass in einem Land, das seit 65 Jahren mehr oder weniger in einem konstanten Kriegszustand lebt, eine entsprechende „Moral“ – der Auflösung zivilgesellschaftlicher Tabus und der Brutalisierung der Bevölkerung – entwickelt wird? Oder haben sich in Israel besondere heroistische Mythen herausgebildet?

Nein. Wie überall heißt es: Wir müssen wachsam sein, unsere Feinde schlagen. Niemand hilft uns, alle sind antisemitisch. Die Nation, das zionistische Narrativ und die Loyalität zum Staat und zu den Streitkräften ist das Wichtigste. In den USA gibt es eine ähnliche Erziehung. Aber deren Feinde sind weit entfernt. Das einzig Besondere an Israel ist: Es ist nicht ein Staat, der eine Armee hat – es ist eine Armee, die einen Staat hat. Sie ist heilig und erfährt eine Bewunderung, die herausragend ist in der Welt. Es ist eine merkwürdige Melange aus Faschismus und Religiosität, die sie zum zentralen Wert des Lebens erheben. Jeder will zur Armee. Sie ist die Eintrittskarte in die Gesellschaft.

Ist das nicht auch ein Ergebnis der Tatsache, dass die Bevölkerung das kollektive Trauma der Shoah zu bewältigen hat und mit dem partikuralen Imperativ „Es darf uns nie wieder passieren“ und nicht mit dem universellen Imperativ „Es darf nie wieder passieren“ sozialisiert wurde?

Mit der Shoah wird in einer sehr manipulativen Art umgegangen. Die Idee eines Staates Israel ist lange vorher entstanden. Die zionistische Führung hat nichts unternommen, um den verfolgten Juden zu helfen. Ben Gurion hat sich nicht um sie gekümmert. Und heute benutzt die Regierung die Shoah, um die Kinder zu traumatisieren und sie die nichtjüdischen Anderen fürchten zu lehren. Jedes Jahr zum Holocaust-Gedenktag werden den Schülern Horror-Bilder gezeigt und von den „Gojim“ erzählt, die die Juden ermorden wollen. So ist es sehr einfach zu sagen, töte deinen Nachbarn – er ist einer von ihnen. Die Shoah ist ein geeignetes Werkzeug, um eine permanente Panik und Hysterie zu erzeugen. Das ist eine schreckliche Erziehungsmethode.

Die israelischen Schüler werden für einen Besuch der Holocaust-Gedenkstätte in Auschwitz nach Polen geschickt.

Es sind vorwiegend die Kinder der Eliten, die dorthin fahren, bevor sie in die Armee eintreten. Die Eltern müssen das Geld für die Reise aufbringen. Aber alle Jugendlichen möchten mit. Sogar die arabischen, in der Hoffnung, auch einen Platz in der Gesellschaft zu bekommen. Bei dem Auschwitz-Besuch lernen sie, dass wir eine starke Armee brauchen, damit das nie wieder passieren kann und dass die Araber, vor allem die Palästinenser, die „Nazis von heute“ sind. Über die historischen Geschehnisse damals und die Ursachen, auch über Polen, erfahren die Kinder kaum etwas. Daher sind viele Holocaust-Forscher gegen diese Fahrten. Einige Schulen gehen analytischer mit der Shoah um und behandeln beispielsweise die Frage, wie jemand zum Massenmörder wird oder dazu kommt, andere Kriegsverbrechen zu begehen. Aber ein kritischer Bezug zu den Taten unserer eigenen Armee wird dabei niemals hergestellt. „Es darf nie wieder irgendjemanden passieren“, hört man allerdings nirgendwo, nicht in Europa, nicht in Amerika –  und natürlich nicht bei uns. Uns ist es egal, wer der Feind ist, solange er nicht Jude ist. Er ist antisemitisch und will uns umbringen. Daher müssen wir ihm zuvor kommen und ihn töten.

Welche Rolle spielt der Mythos, die israelische sei die „moralischste Armee der Welt“?

Vielleicht stimmt es, und andere Armeen sind noch schlimmer. Oh ja, wir sind moralisch – sehr moralisch!

Und zwar weil…?

a, natürlich weil wir Juden sind! Wir haben humanistische Werte, die alle aus dem Judentum stammen. Vor allem die Schulbuch-Veröffentlichungen der letzten Jahre enthalten eine Unterrichtseinheit, die „Die israelische Kultur“ genannt wird. Da wird gelehrt, dass wir die am höchsten entwickelte Moral haben, die wir die Welt lehren. Daher können wir auch kein Unrecht begehen. Sogar Massaker – es wird immer ein Weg gefunden, sie zu legitimieren. Beispielsweise mit der Behauptung, sie seien nötig gewesen, um einen jüdischen Staat für eine jüdische Mehrheit aufzubauen.

Wie gehen israelische Lehrer mit Rassismus und Geschichtsfälschungen in den Schulbüchern um?  Gibt es Protest?

Nein. Die Lehrer sind ja nach demselben Muster erzogen. Sie haben in der Regel kein Problem damit. Die eine oder andere Diskussion gibt es, aber nur in einer Bewegung mit dem Namen „Politische Lehrer“ – eine private Initiative.

Gibt es keine Interventionen, beispielsweise von kritischen Gewerkschaftern aus dem Bereich Erziehung?

Nein. Die kümmern sich lediglich um die Gehälter. Es gibt einen Gewerkschaftschef, der linke Kritik gegen die Okkupation geäußert hat. Der wird nun gefeuert. Er ist eine Ausnahme. Die Leute hier haben Angst. Sie wollen einen Job und keinen Ärger. Sie schwimmen mit dem Strom.

Was ist aus den kritischen Diskursen geworden, die die Neuen Historiker in Israel angeschoben haben? Benny Morris beispielsweise hat eine Hundertachtziggrad-Wende vollzogen und unterstützt heute die israelischen Rechten…

Die meisten Neuen Historiker haben das Land verlassen, beispielsweise Ilan Pappé und Avi Shlaim. Sie hatten keinen Einfluss auf die Schulbücher, nur innerhalb der israelischen Linken. Oder sie sind wie Benny Morris, der sagt: Ja, es ist wahr, wir haben ethnische Säuberungen vorgenommen, aber zu unserem Besten. Morris spielt eine wichtige Rolle in vielen Lehrbüchern – immer wenn der Standpunkt der Palästinenser gefragt ist. Es wird nicht geduldet, dass arabische Historiker zu Wort kommen, also wird an ihrer Stelle Benny Morris zitiert.  

Es gibt Schulbücher, die kritische, zumindest ausgewogene Positionen beziehen, die aber nicht verwendet werden. Wie ist das möglich – es gibt keine Zensur in Israel?

Die Lehrbücher werden von privaten Verlagen für den freien Markt produziert. Die Auswahl ist groß. Aber es gibt Komitees, die die Bücher prüfen. Alle, die beispielsweise Zitate von Palästinensern enthalten oder zu links sind, werden einfach nicht autorisiert.

In einem Interview von 2011 sagten Sie, Israel „nähert sich dem Faschismus in einer Geschwindigkeit, die sich niemand vorstellen konnte“. Was sagen Sie heute?

Nun ist der Faschismus fast da. Als Lieberman mitregierte, sagte ich, wir werden ein faschistisches Regime bekommen. Eigentlich ist es schon längst Wirklichkeit. Leute werden entlassen, weil sie eine unbequeme Meinung haben. Die Menschen sind sehr eingeschüchtert. Harte Zeiten, vor allem für die Palästinenser.

Und für Sie?

Als ich an der Universität von Tel Aviv gelehrt habe, musste ich eine schriftliche Erklärung abgeben, dass ich auf politische Äußerungen vor den Studierenden verzichten werde – das repressive gesellschaftliche Klima wirkt. Aber das ist nicht so tragisch. Den Palästinensern ergeht es weitaus schlechter.

Und welche Perspektive haben die Juden in der israelischen Gesellschaft?

Eigentlich ist das israelische Bildungssystem sehr gut; es wird viel darin investiert. Es besteht ein Widerspruch zwischen den humanistischen Werten, zu denen die Schüler erzogen werden, und der Tatsache, dass jene nur für Juden gelten. Der Rassismus macht ja nicht bei den Palästinensern Halt. Er richtet sich auch gegen die jüdische Bevölkerung. Man holt arabische und äthiopische Juden aus demographischen Gründen in das Land und behandelt sie wie Dreck. Israel ist der einzige Ort, an dem Juden im Namen des Judentums diskriminiert werden, weil sie angeblich nicht jüdisch genug sind. An keinem Ort der Welt leiden Juden so sehr für ihr Jüdisch-Sein. Rassismus und Militarismus beherrschen hier alles. Es gibt so viele wunderbare Jungen und Mädchen, die Gutes tun wollen, aber zu Dingen getrieben werden, die sie den Rest ihres Lebens für sich rechtfertigen müssen. Die jüdische Kultur – Universalismus, umfangreiche Sprachkenntnisse, soziales Engagement –  geht hier völlig den Bach runter. Es gibt eine Melange aus Ignoranz und Kleingeist. Wissen wird nur noch auf Hebräisch vermittelt. Literatur und Philosophie spielen keine Rolle mehr. Alles fließt in die Maschinerie von Rassismus, Besatzung und Unterdrückung. Das ist sehr traurig.

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren

Vielen Dank.


*  Der englische Originaltitel lautet: „Palestine in Israeli School Books. Ideology and Propaganda in Education“. Das Buch ist 2012 in dem Londoner Verlag L.B. Tauris erschienen Eine deutsche Übersetzung liegt (noch) nicht vor.
** Arabisch: Katastrophe, Unglück; Begriff für die Vertreibung und Flucht von rund 700.000 Palästinensern während und nach der Staatsgründung Israels.

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Zeitfragen Bruder Betto
Nächster Artikel Zeitfragen Stéphane Hessel (1917-2013) ist tot!