Zeitfragen

Nicht religiös? Das sollten Sie vielleicht noch einmal überprüfen

Gibt es eine grundlegende Kluft zwischen Mensch und Natur? Kann und soll er die Geheimnisse der Schöpfung entschlüsseln? Die moderne Weltanschauung beinhaltet eine Reihe von Glaubenssätzen. Früher lehrte sie die Kirche, die Religion. Heute lehrt sie der Staat, der gesellschaftliche Konsens. Betrachtungen einer Moderne des Spektakels.

1675583197

Arnaldo Pomodoro: Sfera con sfera
Foto: Smirkybec Lizenz: CC0 1.0, Mehr Infos

Wir alle sind Kinder der Moderne, d. h. jener intellektuellen und sozialen Bewegung, die vor etwa fünf Jahrhunderten in Europa ihren Anfang nahm und den Menschen mit seiner Fähigkeit zu denken und zu gestalten in den Mittelpunkt des Universums stellte. Das gilt sogar für diejenigen, die sich selbst als postmodern bezeichnen. Auch sie sind auf den Bezugsrahmen der Moderne angewiesen, um ihre Identität zu definieren.

Die moderne Weltanschauung beinhaltet eine Reihe von Glaubenssätzen. Einer davon ist die Vorstellung, dass es eine grundlegende Kluft zwischen Mensch und Natur gibt. Letztere ist vor allem dazu da ist, dem Menschen zu dienen. Ein anderer Glaubenssatz ist die Überzeugung, dass der Mensch mit der Zeit die meisten Geheimnisse der Schöpfung entschlüsseln wird – wenn er in Ruhe gelassen wird, um seine Beobachtungsgabe immer weiter zu schärfen.

Die tiefgreifenden Veränderungen, die diese Art der Weltbetrachtung im letzten halben Jahrtausend bewirkt hat, sind für jedermann zu erkennen. Und ich bin dankbar dafür, dass ich von vielen der positiven Veränderungen profitiert habe.

Aber was ist mit den schwarzen Löchern in diesem mentalen Paradigma?

Was ist zum Beispiel mit der Vorstellung, die in der zweiten oben erwähnten Idee enthalten ist, dass ein einzelner Mensch oder sogar ein eingespieltes Team von Menschen die Welt annähernd präzise oder unvoreingenommen beobachten kann?

Wir glauben gerne, dass wir dies können. Und manchmal kommen wir dem vielleicht sogar nahe.

Aber wir sind aus einem ganz einfachen Grund dazu verdammt, bei diesem Versuch immer zu scheitern. Mit der möglichen Ausnahme der ersten Sekunden nach dem Verlassen des Mutterleibs werden alle menschlichen Empfindungen und Beobachtungen durch die Wahrnehmungen anderer vermittelt. Eine Fülle von Wahrnehmungen, die jene im Laufe der Zeit von den gleichen und/oder ähnlichen Phänomenen hatten. Durch soziale Institutionen aller Art, angefangen bei der Familie, wurden sie an uns weitergegeben.

Das Beste, was wir tun können, scheint zu sein: Uns so weit wie möglich bewusst zu machen, wie diese kognitiven und kulturellen Filter unsere eigene Rezeption der Realität beeinflussen. Und: Eine Haltung skeptischer Bescheidenheit demgegenüber einzunehmen, was wir zu sehen und zu wissen glauben.

Kann man zu viel von dieser Skepsis an den Tag legen? Sicher, und wir alle kennen Menschen, die unter diesem Druck in eine regelrechte Erstarrung gefallen sind.

Der Schlüssel scheint darin zu liegen, in der Hoffnung, dass man dem analytischen Ziel mehr oder weniger nahe kommt, voranzugehen und gleichzeitig für die Möglichkeit offen zu sein, dass dies vielleicht gar nicht der Fall ist.

Klingt gut. Oder?

Aber hier ist der Haken. Der Mensch ist trotz seiner beeindruckenden kognitiven und gestalterischen Fähigkeiten auch ein sehr ängstliches Lebewesen.

Verängstigt vor allem aus einem Grund: Menschen wissen, dass sie krank werden können und sterben müssen. Und so sehr sie sich auch bemühen, sie können diese beunruhigende und in vielerlei Hinsicht überwältigende Wahrheit mit ihrem rationalen Verstand nicht erfassen. Das bedeutet, dass viele, wenn nicht sogar die meisten von ihnen, auch religiöse Wesen sind. Auch wenn sie es nur ungern zugeben.

Wenn ich in diesem Zusammenhang von Religiosität spreche, so tue ich dies nicht in dem Sinne, dass ich eine Vorliebe für den Kirchgang oder gar das Gebet meine. Es ist vielmehr in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs gemeint, der vom lateinischen religare kommt und so viel bedeutet wie zusammenfügen, was aus einzelnen Teilen besteht.

Wenn es um die Bewältigung unserer existenziellen Dilemmata und einer ganzen Reihe anderer Lebensfragen geht, sehnen wir Menschen uns nach Einheit und der Fähigkeit, unsere Schwierigkeiten zu überwinden. Als Folge dieser Sehnsucht suchen wir nach großen und daher oft allzu simplen Theorien über die Natur der Probleme in unserem fragmentierten Leben sowie über deren mögliche Lösungen.

Was jedoch, wenn jemand nicht weiß, dass er dieses Verlangen hat? Oder was, wenn er anerkennt, dass dieses Verlangen besteht? Aber was, wenn er es ausschließlich mit „anderen Menschen“ und/oder mit dem in Verbindung bringt, was viele moderne Überlieferungen oft als ihr einziges Refugium dargestellt haben: formale, historisch verbriefte religiöse Institutionen?

Dann, so würde ich vermuten, befindet man sich genau in der sehr verletzlichen Position, in der sich viele bekennend säkulare Menschen heute befinden. Sie geloben mit einer geradezu religiösen Inbrunst Loyalität gegenüber Konzepten der Gruppenidentität. Entwürfe, die auf religiösen Traditionen basieren. Genau wie jene, die sie gerlernt haben, nicht ohne Grund mit großer Skepsis zu betrachten. Diese Konzepte wurden oft von zynischen Eliten entworfen, um ihre Lebensdilemmata zu vereinfachen und sie auf diese Weise ihrer eigenen individuellen kritischen Fähigkeiten zu berauben.

Diese Translationsdynamik ist nicht neu. Wie zahlreiche Nationalismusforscher festgestellt haben, ist es kein Zufall, dass sich der Nationalstaat als vorherrschendes Modell der sozialen Organisation in Europa fast genau zu dem Zeitpunkt konsolidierte (in der zweiten Hälfte des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts), als der Säkularismus als weit verbreitetes Gesellschaftsideal aufkam. Viele neue Nationalisten übertrugen ihre Sehnsucht nach Einheit und Befreiung von ihrer entfremdeten individuellen Realität einfach von der Kirche auf den Staat.

Tatsächlich schufen die neuen nationalistischen Bewegungen oft institutionelle Strukturen wie Athenäen (Athenäum, ursprünglich Tempel der Athene, Anm. Übers.) mit ihren cenáculos oder Oberkammern (vgl. „upper chamber“, britisches Oberhaus. Die Vertretung der Oberschicht eines monarchistischen Staates, Anm. Übers.), in denen sich die neue Priesterschaft der lohnabhängigen Intellektuellen (ein Phänomen, das durch das Aufkommen von Massenmedien ermöglicht wurde) versammelte, um neue soziale Glaubensbekenntnisse für die neuen Bildungsbürger zu etablieren.

Waren sich die meisten dieser neuen weltlichen Priester der hochgradig nachäffenden Eigenschaft ihrer Verhaltensweisen bewusst? Waren es die meisten Mitglieder ihrer Anhängerschaft? Offenbar nicht.

Als „Bekehrte“ der Moderne mit ihrem „Credo“ des kontinuierlichen Fortschritts waren die meisten davon überzeugt, dass sie alles hinter sich ließen, was auch nur im Entferntesten mit der Religion und ihren – für sie selbst – offensichtlich falschen Versprechungen zu tun hatte.

Die Fähigkeit des Staates, als zentrale Vermittlungsinstitution zu fungieren und auf diese Weise zahlreiche und relativ direkte (wenn auch immer noch gefilterte) Erkenntnismöglichkeiten zu eliminieren, war zwar beträchtlich, verblasst aber im Vergleich zu den Fähigkeiten, die Guy Debord in seinem gleichnamigen Buch von 1967 in diesem Zusammenhang vorausschauend als „Gesellschaft des Spektakels“ bezeichnete.

Nach Debords Ansicht hat das Aufkommen der Konsumkultur, d. h. das Aufkommen einer Kultur, in der Fragen des physischen Überlebens für die große Mehrheit der Gesellschaft nicht mehr an erster Stelle stehen, uns alle in eine sich selbst erhaltende und immer umfassendere Welt der Illusion geführt, die das Großkapital nur zu gerne aufbläht und aufrechterhält. Im Rahmen des „Spektakels“ begannen illusorische Wünsche und Sehnsüchte die realitätsstiftende Anziehungskraft altbekannter menschlicher Bedürfnisse zu verdrängen.

Und als das Ausmaß des materiellen Komforts und der materiellen Möglichkeiten innerhalb des Spektakels weiter anstieg, begannen sich die Menschen nicht ohne Grund zu fragen, ob der scheinbar immerwährende menschliche Drang nach „etwas Größerem“ zu suchen und daran zu glauben, endlich überwunden worden war. Das Credo der Moderne hatte ihnen dieses „Größere“, das sie gewissermaßen zusammenschweißt, suggeriert.

Die Tatsache, dass diese konsumorientierten „Fortschritte“ offenbar nicht zu einem spürbaren Anstieg des menschlichen Glücks geführt haben, schien den Triumphalismus derjenigen, die in das lineare und nunmehr spektakelgesteuerte Konzept des menschlichen Fortschritts investiert hatten, nicht sonderlich zu beeinträchtigen.

Es kam ihnen auch nicht in den Sinn, dass das, was sie oft als Triumphe für alle darstellten, in den meisten Fällen nichts dergleichen war.

Wie C.S. Lewis bereits 1943 in seinem Buch „The Abolition of Man“ (Die Abschaffung des Menschen) andeutete, sind fast alle Dinge, die uns als Triumphe der „Menschheit“ über die Natur oder irgendeinen Aspekt der Natur präsentiert werden, in Wirklichkeit Triumphe einer Fraktion der Menschheit, in der Regel einer bereits etablierten Elite, über eine andere.

Seit jeher haben die Supereliten eifrig daran gearbeitet, die Eliten der zweiten Ebene und die Massen weiter unten davon zu überzeugen, dass ihre hochgradig klassenspezifischen „Siege“ im Gegensatz zu dem, was uns einfache Beobachtungen sagen würden, von großem Nutzen für die Gesellschaft als Ganzes seien. Und sie haben sich auf ihr Quasi-Monopol über die Kommunikationsmittel verlassen, um diese falsche Botschaft zu verbreiten und zu untermauern.

Dies alles führt mich zu einer interessanten Frage.

Was würde ich tun, wenn ich heute ein skrupelloses Mitglied der Superelite wäre, das ein Interesse daran hätte, sich die Zustimmung der zweitrangigen „buchstabengetreuen“ Eliten und von dort aus die der breiten Masse für seine Pläne zu sichern, sich auf deren Kosten zu bereichern?

Ganz einfach. Ich würde mir ihre Leichtfertigkeit und ihre Fähigkeit zunutze machen, Dinge abzutun, große Dinge, die die Menschen seit Jahrhunderten beschäftigt haben, bevor sie sich auch nur fünf Minuten Zeit genommen haben, sie zu erforschen. Anders ausgedrückt: Ich würde an etwas appellieren, von dem ich als Kulturwissenschaftler weiß, dass sie es wahrscheinlich haben, von dem sie aber aufgrund des Fortschrittsmythos und des einhüllenden Nebels des Spektakels kein historisches Bewusstsein mehr haben: ein tiefes Verlangen nach Solidarität und Transzendenz.

Und dann würde ich durch die Hintertür eintreten und ihnen alles geben, was eine Religion ihnen geben würde, wenn sie nicht von vornherein gegen das Konzept wären: allwissende Autoritäten (Fauci, [Im Falle Deutschlands Wieler, Drosten, Anm. Übers.]), heilige Texte und Phrasen („sicher und wirksam“), sichtbare Talismane, um ihre Treue gegenüber anderen zu demonstrieren (Masken), rituelle Bekräftigungen (die Spritze) und vieles mehr.

Ich würde ihnen sogar kurze, leicht auswendig zu lernende Skripte an die Hand geben, mit denen sie diejenigen, die noch nicht so erleuchtet sind wie sie selbst, abwimmeln, auf deren Basis sie aber niemals debattieren könnten – weil das angesichts ihrer sehr dünnen Wissensgrundlage gefährlich werden könnte.

Dabei würde ich nie etwas über Gott oder Transzendenz oder gar Gruppensolidarität erwähnen. Und da sie sich zumeist nie die Zeit genommen hatten, zu ergründen, wie religiöse Bekehrungsversuche im Laufe der Jahrhunderte funktioniert haben und wie ähnliche Techniken der Rekrutierung und des Aufbaus von Solidarität in allen Religionen angewandt werden, konnten die neuen Adepten weiterhin glauben, dass sie dieselben völlig säkularen, rationalen und stark individualistischen Menschen sind, für die sie sich immer gehalten hatten.

Kein Drama, kein Trauma. Nur mehr Fußsoldaten für mich in meinem Kampf, so viel Macht und Reichtum wie möglich zu erlangen, bevor ich die Erde verlasse.

Klingt nach einem Plan. Nein?

Der moderne Impuls, der in unserer Zeit in der desorientierenden und betäubenden Form des Spektakels gipfelt, war in vielerlei Hinsicht ein notwendiges Korrektiv zu einer Weltsicht, die – so wurde uns gesagt – die Willens- und Kreativkräfte des einzelnen Menschen oft zu kurz kommen ließ.

In ihrer Eile, sich von der Weltanschauung abzugrenzen, die sie zu verdrängen trachteten, haben ihre Befürworter die Fiktion vom rationalen Menschen geschaffen, der durch den Gebrauch seines Intellekts in der Lage ist, den Schrecken zu überwinden, der die meisten Menschen auf dieser Erde schon immer begleitet hat: das Wissen um die eigene Endlichkeit.

Es mag zwar einige Menschen geben, die einen Zustand ruhiger Akzeptanz dieser Tatsache erreicht haben, aber die große Masse nicht. Sie sind daher ängstlich. Und in ihrer Angst werden sie in der Hoffnung, ein gewisses Maß an existenziellem Trost zu finden, unweigerlich Bindungsmuster schaffen und übernehmen.

Solche Menschen sind zumindest nach einer Definition religiös.

Und während die meisten Versuche, uns an andere zu binden, ein gewisses Maß an Trost mit sich bringen, bieten sie ebenso skrupellosen Menschen die Möglichkeit, die kollektiven Kräfte, die sie erzeugen, für skrupellose Zwecke zu nutzen. Auch das wissen wir.

Und das wirft eine weitere interessante Frage auf. Welche Art von religiösem Wesen ist am besten darauf vorbereitet, sich vor so etwas zu schützen?

Meine Vermutung? Wahrscheinlich diejenige, die sich im Bewusstsein ihrer eigenen Verwundbarkeit auf die Suche nach Geborgenheit macht.

Und wer sind diejenigen, die am ehesten Opfer werden?

Meiner Meinung nach sind es diejenigen, die sich – wie so viele bekennende Säkularisten in der heutigen Konsumkultur – auf der rationalen Ebene ihrer tiefen Sehnsucht weitgehend nicht bewusst sind: Die Einsamkeit und Zerbrechlichkeit ihres individuellen Lebens zu überwinden. Also schließen sie sich einem verlockenden Gruppenziel an, das ihnen durch das Spektakel unerbittlich angepriesen wird.

__________________________________

Der Autor

Thomas Harrington, Senior Brownstone Scholar und 2023 Brownstone Fellow, ist emeritierter Professor für Hispanistik am Trinity College in Hartford, CT, wo er 24 Jahre lang lehrte. Seine Forschungsschwerpunkte sind die iberischen Bewegungen nationaler Identität und die zeitgenössische katalanische Kultur.

Abo oder Einzelheft hier bestellen

Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.

Hintergrund abonnieren

Dieser Artikel wurde vom Brownstone Institute übernommen. Not Religious? Might Want to Check on that Again, dort erschienen am 20. Januar 2023.

Übersetzung und Bearbeitung: Hintergrund.

Newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Der Hintergrund-Newsletter

Wir informieren künftig einmal in der Woche über neue Beiträge.

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Drucken

Drucken

Teilen

Voriger Artikel Zeitenwende Über das Gewaltpotential in der Gesellschaft
Nächster Artikel Zeitfragen Wie schafft eine Minderheit, die Mehrheit in Geiselhaft zu nehmen?