Zeitfragen

„Linker Antisemitismus“ im Visier

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Von MOSHE ZUCKERMANN, 30. September 2011 –

Eine Studie mit dem Titel „Antisemiten als Koalitionspartner?“ von dem Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn und Sebastian Voigt, Gründungsmitglied des BAK Shalom in der Linksjugend solid, sorgte Ende Mai für großen Wirbel. Die gegen die Partei DIE LINKE zahlreich erhobenen Antisemitismusvorwürfe schienen nun endlich bewiesen. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP fühlten sich sogar veranlasst, eine Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag einzuberufen. Die Debatte im höchsten Parlament der Republik mit beschämend niedrigem Niveau geriet zeitweise zum Tribunal gegen die LINKE – ebenso die darauf folgende Medienkampagne. Die Redaktion Hintergrund interessieren die Fragen: Was taugt diese Studie eigentlich wissenschaftlich? Und welche ihrer Inhalte und Thesen machen sie so geeignet für die politischen Gegner, sie als ideologisches Geschütz gegen die LINKE in Stellung zu bringen? Wir baten den israelischen Historiker Moshe Zuckermann um eine kleine Expertise.

Für kämpferische Feindbildungen gibt es verschiedene effektive Techniken. Bekannt und beliebt: Man benennt den erkorenen Feind und zeichnet sodann die Kreise der Zielscheibe um ihn herum. Dass es sich bei dieser Vorgehensweise um einen Circulus vitiosus handelt, stört den Zielenden nicht, denn der Erschießungsakt soll ja gerade die Legitimation für die Erklärung des Feindes zum Feind bieten, die performative Affirmation mithin die Zielscheibe, welche ihrerseits durch ihr schieres Bestehen die raison d‘être des Schießenden begründet, rechtfertigen. Eine andere mit Vorliebe verwendete Technik: Man stellt die Zielscheibe (zuweilen Paradigma genannt) auf und zerrt das zu erschießende Objekt in ihren Blickbereich, sodass die prästabilisierte Existenz der Zielscheibe und das vor sie gestellte Erschießungsobjekt den Akt des Schießens suggestiv zur Selbstverständlichkeit geraten lassen – denn zur Zielscheibe und dem ihr beigesellten Erschießungsgegenstand gehört „natürlich“ auch das Schießen aufs Erschießliche (um es mit Heine zu formulieren).

Der Wissenschaft – der Sozial- und Geisteswissenschaft zumal – sind derlei Praktiken nicht fremd. Nicht selten wird um das Objekt der Wissensbegierde das Paradigma seiner Erschließung gebildet. Oft genug wird auch in den Geltungsbereich des Paradigmas, wenn nicht alles, so doch möglichst Vieles hineingezwängt, um seine Erklärungskapazität zu erweisen. Worauf aber Geistes- und Sozialwissenschaften, die ja erst in der Moderne zu solchen geworden sind, stets zu achten gezwungen waren, ist die Plausibilität ihrer Grundannahmen, die Klarheit ihrer Begriffsbildungen, die Distinktion ihrer Theoriegebilde, die regelgerechte Handhabung ihres empirischen Materials und die Stringenz ihrer Argumentation. Dass Paradigmata dabei miteinander kollidieren können, ist eine Sache; gewichtiger ist das Insistieren auf Einhaltung der inneren Spielregeln und strenge Beachtung der Vorgaben von selbst auferlegter Methodik und theoretischer Stimmigkeit. Denn gerade weil sich Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften wissenschaftsgeschichtlich oft dem Vorwurf ausgesetzt sahen, keine Wissenschaften im strikten Sinn der Naturwissenschaften zu sein, oblag es ihnen stets, sich Scharlatanerien zu entledigen, jener erkenntnisarmen Machwerke, die sich die Maske der äußeren sozialwissenschaftlichen Form aufsetzen, um die Dürftigkeit ihrer geistigen bzw. intellektuellen Substanz zu kaschieren.

Nun hat der allgemeine deutsche Diskurs letztens beschlossen, dass es höchste Zeit sei, einen in der deutschen Linken vorgeblich grassierenden Antisemitismus aufzuspießen und politisch anzuprangern. Das ist löblich: Wenn es einen Antisemitismus in der Linken gibt, gehört er selbstverständlich bekämpft – wie jeder Antisemitismus, wo immer er auftaucht und sich artikuliert. Man wundert sich gleichwohl, was es mit diesem plötzlichen Erwachen der Besorgten, vor allem aber dem akuten Auftauchen dessen, was traditionell rechtsgerichteter Ideologie und antilinken Lebensentwürfen zugeschrieben worden ist, auf sich haben mag. Gesinnungslogisch ließe sich eine Verbindungslinie zur Tendenz des deutschen Feuilletons nach dem Zusammenbruch der DDR ziehen, die braune und die rote deutsche Vergangenheit in den Vergleich zu zerren, wenn nicht gar gleichzusetzen. Während aber die damalige ideologische Bestrebung aufseiten antilinker Autoren zu Buche schlug (und von Jürgen Habermas entsprechend aus gedenkethischen Gründen dekonstruiert wurde), findet sich der Aufruf, mit dem antisemitischen Unwesen in der Linken, vor allem in der Partei der LINKEN, aufzuräumen, vornehmlich im Diskurs jener, die sich selbst für Linke halten und als solche ausgeben. Dies geschieht mit solcher Verve, dass man zuweilen den Eindruck gewinnen mag, in der Berliner Republik habe der Antisemitismus eine neue Heimat gefunden: das Lager der deutschen Linken und ihren institutionalisierten Verband im deutschen Parlament.

Ein verfänglicher Titel

Was sich nun aber seit einigen Jahren als polemisches Gezeter in diversen Foren, Blogs, zuweilen auch in Stiftungsveranstaltungen austobt und zunehmend verfestigt, sollte offenbar endlich die würdigere, mithin fundiertere Form der wissenschaftlichen Untersuchung erhalten, ein Anliegen, das mit der Schrift von Samuel Salzborn und Sebastian Voigt jüngst verwirklicht worden ist. Die Untersuchung der jungen Autoren trägt den Titel Antisemiten als Koalitionspartner? Die Linkspartei zwischen antizionistischem Antisemitismus und dem Streben nach Regierungsfähigkeit. Der Titel selbst ist schon verfänglich: Ungeachtet der Frage, um welche Partnerschaft in welcher Koalition es den Autoren geht – hat man zu verstehen, dass das Kriterium für den Abscheu vor Antisemiten in ihrer Tauglichkeit als Koalitionspartner zu sehen sei? Welchen Stellenwert nimmt der Antisemitismus gegenüber einer Koalitionspartnerschaft in einem solchen Titel ein? Im Untertitel wird die Verfänglichkeit noch deutlicher: Gesetzt den Fall, das Streben nach Regierungsfähigkeit wäre gerade mit dem Antisemitismus in der Partei garantiert – würde er sich dadurch als ein den Zweck heiligendes Mittel legitimieren? Und aus dem gleichen Geist geboren: Handelt es sich lediglich um die Erkenntnis, dass Regierungsfähigkeit im heutigen Deutschland den Lackmustest des Anti-Antisemitismus zu bestehen habe, die die Verfasser der Denkschrift zu ihrer zweckrational gefärbten Mahnung angetrieben hat? Da aber ein schlecht gewählter Titel nicht zwangsläufig den Inhalt des Betitelten wiedergibt, Salzborn und Voigt zudem ihr moralischer Impuls nicht abgesprochen werden soll, ist es geboten, sich auf die Substanz des Untersuchungstextes selbst einzulassen.

Entsorgung von Kategorien der Marx‘schen Kapitalismuskritik

Hier nun stößt man auf das eigentliche Problem der gesamten Untersuchung. In den einleitenden Sätzen (der Kurzfassung) heißt es: „In jüngerer Vergangenheit nehmen antisemitische Positionierungen innerhalb der Partei ‚DIE LINKE’ deutlich zu. (…) Die These ist, dass der antizionistische Antisemitismus innerhalb der ,Linken‘ inzwischen zu einer weitgehend konsensfähigen Position geworden ist.“ Im Weiteren wird dann behauptet, dass die antisemitischen Positionen „innerparteilich immer dominanter zu werden (scheinen) und (…) inzwischen die äußere Wahrnehmbarkeit der Partei (prägen)“. Wer eine solch starke These aufstellt, wird (sozialwissenschaftlich) bemüht sein, sie empirisch möglichst umfassend zu belegen und das Schillernde ihrer Aussage in eine faktenreiche Eindeutigkeit zu lotsen, mithin ihre Suggestivkraft durch unabweisbare Dokumentation zu steigern und zu kräftigen. Vergebens sucht man danach in der vorliegenden Untersuchung. Die wenigen „exemplarischen“ Beispiele, die sich in ihr finden (und im Folgenden gesondert anvisiert werden sollen), reichen nach keinem wissenschaftlichen Maßstab aus, um die beherzte Generalisierung der These auch nur ansatzweise zu rechtfertigen.

Dessen scheinen sich auch die Autoren zumindest unterschwellig bewusst zu sein und greifen daher zu zwei probaten Mitteln, mit denen ihrem Text offenbar der Anstrich von Wissenschaftlichkeit verliehen werden soll. Zum einen betten sie die Frage von linker Gesinnung (mithin von tendenziell linkem Antisemitismus) und Juden bzw. Judentum geistesgeschichtlich ein. Keine minderen Referenzpunkte werden dafür erkoren als Marx und Kautsky. Bei Marx wird der emanzipatorische Ansatz in seiner Schrift Zur Judenfrage zwar angedeutet, zugleich aber hervorgehoben, dass seine Position „unkritisch rezipiert worden“ und Marx selbst im Übrigen auch „offener Antisemitismus“ vorgeworfen worden sei. Die Dürftigkeit dieses Extraktes mag hier unerörtert bleiben. Angeraten sei den Autoren stattdessen, sich bei Gelegenheit die Lektüre des Aufsatzes From Theology to Sociology: Bruno Bauer and Karl Marx on the Question of Jewish Emancipation (1992) des israelischen Politologen Yoav Peled vorzunehmen. Kautskys Rasse und Judentum wird zwar ausführlicher referiert, aber auch dies primär, um Kautskys Zionismuskritik herauszustreichen und zur Einsicht der Beschränktheit des ökonomistischen Ansatzes (Kautskys und seiner Nachfolger in der Arbeiterbewegung) bei der Erörterung der „Judenfrage“ zu gelangen. Dass Kautsky den Zionismus als Komplizen des Antisemitismus deutet, ihm mitunter auch die tendenzielle Schaffung eines jüdischen „Weltghettos“ in Palästina beimisst, wird von Salzborn und Voigt in polemischer Absicht angeführt. Sie täten gut daran, sich ernsthafte Gedanken darüber zu machen, ob sich diese Prognosen Kautskys nicht in beunruhigender Art und Weise bewahrheitet haben: Die raison d‘être des Zionismus war von jeher auf die Perpetuierung des Antisemitismus angewiesen und ist es heute mehr denn je. Und eher mehr als weniger deutet in Israels politischer Praxis darauf hin, dass die emanzipativen Verheißungen des klassischen Zionismus gerade im Israel unserer Tage in die politische Kultur eines stickigen „Weltghettos“ eingegangen sind, um sich in diesem zu verflüchtigen. Und wenn die Autoren die in der Nachkriegszeit neu belebte Kritische Theorie Frankfurter Provenienz heranziehen, um (mit Bezug auf die Dialektik der Aufklärung) darauf zu verweisen, dass sie „eine Neubestimmung der Gesellschaftsanalyse“ vorgenommen habe, dann mögen sie dreierlei bedenken: dass zumindest Adorno und Marcuse (trotz Versuchen ideologisierender Umwertung im Adorno-Jahr 2003) die zentralen Marx‘schen Kategorien nie aufgegeben haben; dass „Elemente des Antisemitismus“, das letzte Kapitel der Dialektik der Aufklärung (wie denn diese insgesamt), ohne die grundlegenden ökonomischen Kategorien der Marx‘schen Kapitalismuskritik schlechterdings nicht denkbar ist; und dass hinter dem zum Schlagwort geronnenen Begriff des „Zivilisationsbruchs“ nicht zuletzt ebendiese ökonomischen Kategorien (freilich in Verbindung mit anderen) als konstitutiv für die gesamte (in Auschwitz kulminierende) Zivilisation zum Vorschein kommen. Der Antisemitismus ist, so besehen, ein Epiphänomen, das aus dem Kontext seiner Genese erklärt werden muss, wenn seine Kritik nicht zum verdinglichten Fetisch verkommen soll.

Schlechte Begriffsbestimmung

Nun haben aber die präzionistische Erörterung der „Judenfrage“ von Marx und die präisraelische Zionismuskritik Kautskys mit der Lage der Juden in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts herzlich wenig zu tun. Und selbst die Radikalsten unter den „antideutschen” Alarmisten werden sich hüten, den Antisemitismus im heutigen Deutschland mit dem nazistischen Vernichtungsantisemitismus, welchen noch Horkheimer und Adorno im Blick hatten, gleichsetzen zu wollen. Entsprechend mussten die Autoren der Untersuchung über den Antisemismus in der LINKEN-Partei eine neue Form dessen, was sie für Antisemitismus erachten, ins Spiel bringen und fanden sie im sogenannten „antizionistischen Antisemitismus“. Berufen durften sie sich dabei auf Vorgaben des European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) aus dem Jahr 2004, welche angeblich als „gegenwärtiger Minimalkonsens innerhalb“ der Antisemitismusforschung angesehen werden können. Als zentrale Bestandteile dieser Variante des Antisemitismusbegriffs werden folgende Faktoren aufgelistet: (a) „Das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung“; (b) „Die Anwendung doppelter Standards“ bei den Erwartungen von Israel im Vergleich zu anderen demokratischen Staaten; (c) „Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen“; (d) „Vergleich der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten“; (e) „Das Bestreben, alle Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen“.

Das – muss man sagen – ist ein gutes Beispiel für eine schlechte Begriffsbestimmung. Von seriösen Sozialwissenschaftlern darf man mehr Reflexionsvermögen und Differenzierungskapazität erwarten, wenn sie sich schon auf derlei Vorgefertigtes einlassen. Um es kurz zu machen: Keines dieser aufgelisteten Kriterien hat für sich genommen oder auch mit anderen zusammengefasst zwangsläufig etwas mit Antisemitismus per se zu tun: (a) Die Selbstbestimmung des jüdischen Volkes ist unter Juden selbst ein so heiß umstrittenes Thema, dass man sich im israelischen Verfassungsdiskurs bis zum heutigen Tag noch nicht darauf einigen konnte, wer oder was ein Jude sei. Orthodoxe Juden bestreiten Recht und Geltung der säkular-zionistischen Selbstbestimmung des jüdischen Volkes. Jüdische Kommunisten, aber auch viele jüdische Nichtzionisten haben ihre eigene Vorstellung von emanzipativer Selbstbestimmung, die nicht unbedingt etwas mit der des ohnehin prekären Begriffs des „Volkes“ zu tun hat; (b) Die Anwendung doppelter Standards ist dort ein Problem, wo es sich um die Bewertung gleicher Protagonisten in einem homogenen Spielfeld handelt. Aber kein anderer demokratischer Staat der Welt unterhält schon seit über vier Jahrzehnten ein brutal-repressives Okkupationsregime, wie es Israel als Teil seines Selbstverständnisses den Palästinensern gegenüber tut; (c) Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit dem traditionellen Antisemitismus in Verbindung stehen, ist in der Tat verwerflich. Das sollten Salzborn und Voigt vor allem den meisten säkularen Israelis bei ihrem Umgang mit israelischen orthodoxen Juden vorhalten. Bei den vorletzten Wahlen zur israelischen Knesset hat Yosef Lapid einen beispiellosen Wahlerfolg mit genau diesem Mittel politischer Perfidie errungen. War also Yosef Lapid, inzwischen verstorbener Shoah-Überlebender, ein Antisemit? (d) Wenn mit „Politik der Nationalsozialisten“ Auschwitz gemeint ist, dann ist in der Tat jeder Vergleich der Politik heutiger Staaten mit ihr unhaltbar. Aber wer macht schon einen solchen Vergleich? Vor allem aber: Wer in der LINKEN macht ihn? Wenn hingegen unter „Politik der Nationalsozialisten“ gewisse Formen der ungesetzlichen Landnahme, der ethnischen Säuberung und der schleichenden Exklusion von Bürgern aus der Zivilgesellschaft im eigenen Land gemeint ist, dann muss man den Vergleich nicht machen (und sollte es auch nicht tun, wenn man eine wüste Polemik vermeiden möchte), aber er lässt sich strukturell halten; (e) Die Forderung, dass nicht alle Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen seien, ist völlig berechtigt. Man unterlasse es aber dann gefälligst, Judentum, Zionismus und Israel (und davon abgeleitet: Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik) in eins zu setzen. Nicht zuletzt wäre daher zu reflektieren, inwieweit gerade der Begriff des „antizionistischen Antisemitismus“ eine solche Gleichsetzung, wenn nicht direkt intendiert, so doch effektiv suggeriert.

Die Fallbeispiele: Gerüchte und Mythen statt Fakten und Begründungen

Wo die Bestimmung der Begriffe zur Analyse von Empirischem so mangelhaft vorgenommen wird, muss der Umgang mit den Fallbeispielen des Empirischen erbärmlich ausfallen. So wird (im Zuge der Nachzeichnung der Geschichte des Antisemitismus in der Linken) der DDR vorgeworfen, dass „das antifaschistische Selbstverständnis der DDR eine staatliche Legitimationsideologie (war), die zur Feindschaft gegen Israel und zur Unterstützung arabischer Diktatur im antiimperialistischen Kampf diente“. Man muss kein Apologet der DDR sein, um dies Wenige zu begreifen: Die DDR war ein Teil des moskauhörigen kommunistischen Blocks im Kalten Krieg. Und obwohl die Sowjetunion zu den Ersten gehörte, die 1948 in der UNO für die Gründung des Staates Israel stimmte, wurde Israel, nachdem es sich in der Blockordnung positioniert hatte, als wichtiger Faktor des kapitalistischen Gegenblocks (im Nahen Osten) befehdet, so wie eben die prosowjetischen Feinde Israels von den USA angegriffen und späterhin auch bekriegt wurden. Das hatte einiges mit ideologischem Machtkampf, viel mit geopolitischen Interessen, aber herzlich wenig mit Antisemitismus per se zu tun. Wenn man aber Antizionismus als Antisemitismus abstempelt, kommt man eben zum irrigen Schluss, die DDR-Politik sei per se antisemitisch durchzogen gewesen. Um das sehen und auseinanderhalten zu können, muss man nicht einmal seriöser Sozialwissenschaftler sein. Salzborn und Voigt aber meinen: „Die machtpolitische Konstellation der Blockkonfrontation stellt jedoch keine ausreichende Erklärung für die Feindschaft der DDR gegen Israel dar. Der antisemitische Antizionismus resultierte vielmehr aus einer Ideologie, die in enger Verbindung zur nationalsozialistischen Vergangenheit stand.” Vergebens sucht man nach einer Begründung für eine dermaßen dezidiert-selbstgewisse Behauptung. Sie bleibt in der Luft hängen, einem Gerücht gleich – erprobte polemische Taktik und bewährtes Mittel ideologischer Schmutzkampagnen.

Als Beispiel für den Antisemitismus der deutschen Linken in der BRD wird u.a. das Folgende angeführt: „1976 entführte ein palästinensisch-deutsches Kommando ein Flugzeug nach Entebbe und selektierte die Passagiere in Juden und Nicht-Juden.“ Man liest „deutsches Kommando”, „Juden”, „Selektion” und erschaudert. Nun konnte man aber am 3. Juli 2011 in der israelischen Tageszeitung Haaretz lesen, dass Ilan Hartuv, eine der Geiseln an Bord der entführten Maschine und Sohn der von Idi Amins Schergen ermordeten Dora Bloch, dem „Mythos“, dass die „Terroristen Juden von Nicht-Juden  in einer Weise getrennt haben, die an die von den Nazis an den Juden in den Vernichtungslagern vorgenommenen Selektionen gemahnen“, ein Ende setzen möchte: Es habe keine Selektion der Juden gegeben, „Entebbe war nicht Auschwitz“. Die Terroristen hätten anhand der Pässe die Israelis von den Nicht-Israelis getrennt; eine Selektion in Bezug auf Juden hätte es nicht gegeben. Die deutsche Terroristin Brigitte Kuhlmann habe sich zwar wie eine hysterisch brüllende „Nazifrau” aufgeführt. Anders aber ihr Terrorkollege Wilfried Böse: Als ihm einer der Entführten, die KZ-Nummer auf seinem Arm zeigend, sagte, es sei ein Fehler gewesen, seinen Kindern zu erzählen, es gebe ein anderes Deutschland, habe dieser – „erbleichend und zitternd“ – erwidert: „Sie irren sich. Ich habe in Westdeutschland Terroranschläge verübt, weil das herrschende Establishment Nazis und Reaktionäre in seinen Dienst aufgenommen hat. (…) Meine Freunde und ich befinden uns hier, um den Palästinensern zu helfen, weil sie der Underdog sind. Sie leiden.” Das hatte etwas mit den terroristischen Irrwegen jener Generation zu tun, die gegen den allzu wohlfühlig-wirtschaftswunderlichen Übergang vom NS-Grauen in die „Normalität“ der alten Bundesrepublik aufbegehrte; das verband sich mit einer aus Solidarität mit den Palästinensern allzu kurzschlüssig erwachsenen Israelfeindschaft; mit Antisemitismus per se hatte das sehr wenig, wenn überhaupt etwas, zu tun.

Man ahnt schon die Dürftigkeit, mit welcher der „antizionistische Antisemitismus“ Salzborn-Voigtscher Couleur bezüglich der LINKEN-Partei belegt werden soll. Etwa die: Am 27. Januar 2010 hielt Israels Staatspräsident Schimon Peres eine Rede im Deutschen Bundestag. Dazu die Autoren: „Demonstrativ blieben mehrere Abgeordnete der Linkenpartei nach der Ansprache von Peres, dessen Großvater von den Nazis ermordet wurde, sitzen, während sich das übrige Parlament erhob.” Unerörtert sollen hier Inhalt und Substanz der Peres-Rede bleiben. Ich habe sie an anderer Stelle ausführlich analysiert. Aber was soll die Anführung von Peres‘ Familiengeschichte in diesem Zusammenhang? Peres trat im deutschen Parlament nicht als Privarperson, sondern als Repräsentant eines Staates auf, dessen Politik von vielen auf der Welt nach humanem und völkerrechtlichem Maßstab als unzumutbar, wenn nicht gar als verbrecherisch angesehen wird. Dagegen darf, dagegen soll man politisch kämpfen. Peres‘ ermordeten Großvater lasse man dabei tunlichst aus dem Spiel, wenn man sich nicht auf eine buchhalterische Aufrechnung von ausgelöschtem Menschenleben einlassen möchte, welches nicht zuletzt die von Peres vertretene Politik und der von ihm repräsentierte Staat zu verantworten hat. Gleiches gilt auch für die von Salzborn und Voigt mit besonderer Emphase vorgenommene Erörterung der Gaza-Flottille vom Mai 2010. Der unerhörte Sündenfall: Mitglieder der LINKEN-Partei haben an ihr teilgenommen. Die Steigerung des Unerhörten: Sie haben sich dabei mit auf dem Schiff befindlichen „antisemitischen”, weil antiisraelischen Terroristen verbandelt. Auch dieser gesamte Vorfall bleibe hier unerörtert; ich habe seine Analyse an anderer Stelle bereits vorgenommen. Was aber auch in diesem Zusammenhang ins Auge fällt, ist der schlichte Umstand, dass die vorgeblich sozialwissenschaftlich und historisch argumentierenden Autoren der Untersuchung offenbar unfähig sind, das Minimum an Darlegung und Analyse von strukturellem Kontext und geschichtlichen Wirkstrukturen zu leisten. Ausgeblendet bleibt, wie es zur Hamas-Regierung im Gaza-Streifen und somit zu der von Israel eiligst initiierten Blockade, mithin zum humanitären Notstand im blockierten palästinensischen Raum kam; ausgeblendet bleibt entsprechend, was linke Aktivisten bewogen haben mag, an der Durchbrechung der Blockade teilzunehmen; ausgeblendet bleibt daher auch, was Israels gravierender Anteil an alledem ist.

Sozialwissenschaftler oder nur „antideutsche” Ideologen?

Das verwundert freilich nicht. Denn die gesamte Untersuchung weist ein elementares Defizit auf: Da ja der Antisemitismus in der ihr unterliegenden Begriffsbestimmung dem Antizionismus verschwistert wird, darf es erst gar nicht dazu kommen, dass der staatliche Träger des Zionismus – Israel – irgendetwas dazu beigetragen haben könnte, ihn kritikwürdig zu machen. Wenn man Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik in eins setzt, muss Israel als ein Unschuldslamm, mithin als naives Opfer einer a priori bestehenden und wirkenden Verschwörung erscheinen. In einem solchen Selbstverständnis hat sich der israelische Diskurs immer schon gesuhlt; darin hat sich die israelische Propaganda seit Jahrzehnten zu spezialisieren verstanden. Nun ist Israel aber mitnichten ein Unschuldslamm. Zu dieser Erkenntnis bedarf es nicht eines Zurückgehens auf das Jahr 1897 und der Darstellung des Zionismus als einer Kolonialbewegung; eher, aber auch nicht unbedingt, bedarf es der Rückschau auf 1948 und die Einsicht in den Kausalnexus von jüdisch-israelischer Unabhängigkeit und palästinensischer Nakba. Worum man aber auf keinen Fall kommt, ist die unabweisbare Tatsache, dass Israel seit 1967 ein anderes Volk knechtet, ein brutales, oft gewalttätiges Regime fortwährender Okkuption betreibt, welches sich seit den 1970er Jahren zunehmend durch religiös-messianische Heilsverheißungen „legitimiert“. Was Israel in das völkerrechtswidrige Siedlungswerk an Infrastruktur, militärischer Absicherung und manipulativer Ideologie investiert hat, übersteigt bei Weitem das reale Problem der Besatzung, lässt mithin mehr als Zweifel am demokratischen Selbstbild der Israelis aufkommen, insofern Demokratie übers Formelle der hohlen Struktur und des zynischen Lippenbekenntnisses hinausgeht. Da kann man noch so viel von „jüdisch-demokratischem” Staat schwafeln: Wer das Jüdische zum Kriterium der Ausgrenzung und systematischen Diskriminierung der nichtjüdischen Bürger des eigenen Landes erhebt, darf sich nicht rühmen, demokratisch zu sein. Und dass es dabei nicht lediglich um Nomenklatur geht, beweist die gegenwärtige israelische Legislative in monatlichem Takt: Maschinengewehrartig ratifiziert die Knesset Salven neuer Gesetze: Allein in diesem Jahr das Nakba-Gesetz (welches öffentlichen Institutionen, in denen die Nakba erwähnt oder Flagge und Wappen des Staates entehrt werden, die Finanzierung entzieht); das Gesetz der Aufnahmekomitees (welches Ortsgemeinden im Norden und Süden des Landes erlaubt, unliebsamen Anwärtern, also Arabern, die Aufnahme in die Gemeinde zu verweigern); das Gesetz der Annullierung der Staatsbürgerschaft israelischer Staatsbürger bei Terror- und Spionagevergehen (welches wiederum auf arabische Bürger Israels gemünzt ist); das Gesetz des Boykott-Verbotes (welches besagt, dass jeder, der einen ökonomischen, akademischen und kulturellen Boykott über die Siedlungen in den besetzten Gebieten verhängt, belangt werden kann). Der Ratifizierung harren darüber hinaus ein Gesetz, dass Subventionierung von Filmen nur der erwarten darf, der einen Treueid auf Israel als einen „jüdisch-demokratischen Staat“ leistet (womit filmische Israelkritik unterbunden werden soll); ein Gesetz, das eine 45-prozentige Besteuerung der Spenden aus fremden Staaten, die an von Israel nicht subventionierten Organisationen gehen, vorsieht (man kann sich denken, wer damit gemeint ist); ein Gesetz, das eine fortlaufende Berichterstattung über derlei Spenden fordert; sowie noch eine ganze Reihe von Gesetzen, die darauf aus sind, die Aktivität von Menschenrechts- und Oppositionsorganisationen zu beschränken bzw. diese unverhohlen zu schikanieren.

All dies (und vieles mehr, das hier unerörtert bleiben muss) müsste jedem reflektierten und einigermaßen aufrechten Menschen zu denken geben. Dass der holländische Rechtspopulist Geert Wilders, der Vorsitzende der freiheitlichen Partei in Österreich, Hans-Christian Strache, der amerikanische Prediger Glenn Beck, der ehemalige italienische Neofaschist Gianfranco Fini alle „in der israelischen Hauptstadt gern gesehene Gäste“ sind, wie es jüngst in der Deutschen Welle hieß, mag vielleicht einen Henryk Broder, deutsche Neonazis und bundesrepublikanische „Antideutsche“ nicht weiter bekümmern. Aber Sozialwissenschaftler, die über Antisemitismus in der Linken schreiben, müssten sich zumindest Rechenschaft darüber ablegen können, was sie tun, wenn sie Antisemitismus mit Antizionismus und Israelkritik attribuieren – es sei denn, sie selbst sind letztlich nichts als „antideutsche“ Ideologen. Dass sich CDU und FDP im deutschen Bundestag auf das „sozialwissenschaftliche“ Erzeugnis von Salzborn und Voigt wie ein gefundenes Fressen stürzten, gibt zu denken. Viel mehr aber, zu was sie damit die Partei DIE LINKEN veranlassten.

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Der Artikel erschien zuerst in Hintergrund Heft 3 / 2011

Der Autor:
Prof. Moshe Zuckermann, Jahrgang 1949, lehrt Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Von 2000 bis 2005 leitete er dort das Institut für Deutsche Geschichte. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind: Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus, Bonn 2009; „Antisemit!“ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Wien 2010

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