Jean Zieglers nicht gehaltene Rede gegen die „kannibalische Weltordnung“ ausgezeichnet
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Von REDAKTION, 3. Januar 2012 –
Ein glattes Eigentor für die Sponsoren der Salzburger Festspiele: Die Rede des Schweizer Soziologen Jean Ziegler zur Eröffnung des Spektakels 2011 für die oberen Zehntausend, die aus deren Reihen offenbar wegen der angekündigten Kritik an ihrem „neoliberalen Profitwahn“ verhindert worden war, bekam nicht nur große öffentliche Aufmerksamkeit – nun wurde sie auch noch mit einer renommierten Auszeichnung geehrt.
Das von dem Literaturhistoriker Walter Jens gegründete Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen versah Zieglers „unverblümte Anklage der Großbankiers und Konzern-Mogule und leidenschaftliches Plädoyer für den Kampf gegen die weltweite Hungersnot“ mit dem Prädikat „Rede des Jahres 2011“, wie am 21. Dezember bekannt gegeben wurde. „An die Stelle einer festlichen, höchstens an manchen Stellen ein wenig nachdenklichen oder mahnenden Wohlfühlrede, wie sie oft genug gehalten wird, setzt Ziegler einen aufrüttelnden Appell, ja, eine Provokation“, begründete die Jury ihre Entscheidung.
Im Frühling dieses Jahres war Ziegler als Eröffnungsredner der Salzburger Festspiele 2011 zunächst ein-, zwei Monate später aber wieder ausgeladen worden (HINTERGRUND berichtete). (1) Daher veröffentlichte er seine Rede in dem Videoportal Youtube. Dort erreichte sie eine überwältigende Zuschauerzahl – eine, die sie vor Publikum in Salzburg plus Medienberichterstattung über den Festakt nie erreicht hätte.
In seiner 18-minütigen Ansprache erinnerte Ziegler daran, dass alle fünf Sekunden ein Kind verhungert und rund eine Milliarde Menschen permanent an Unterernährung leiden, obwohl die Weltlandwirtschaft heute problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte – knapp das Doppelte der derzeit auf der Erde lebenden Bevölkerung. Die reichen Geberländer des UN-Welternährungsprogramms , vor allem die westlichen Demokratien, hätten ihre Unterstützung für die Hungerbekämpfung drastisch reduziert, einige sogar eingestellt, skandalisierte Ziegler, weil sie tausende von Milliarden Euros an „Spekulanten und Halunken“ des Finanzkapitals zahlen müssten, obwohl der „Banken-Banditismus“ selbst für die Krise verantwortlich zeichne. „Die Verursacher dieser kannibalischen Weltordnung“, forderte Ziegler, gehörten vor ein „Tribunal wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Die Kunst besitze zwar Waffen, über die der analytische Verstand nicht verfüge, stellte der „Rebell“, wie ihn sein Biograph Jürg Wegelin nennt, den Bezug zu den Festspielen her, aber gegen „das eherne Gesetz der Kapitalakkumulation“ seien selbst Beethoven und Hofmannsthal machtlos.
Ziegler ist nicht nur ein wütender Kämpfer auf der Seite der Verdammten dieser Erde: An den polarisierten öffentlichen Meinungen über sein Lebenswerk – darunter zahlreiche Bücher, wie „Die Schweiz wäscht weißer“ über die „Finanzdrehscheibe des internationalen Verbrechens“ oder „Die Barbaren kommen“ – lassen sich auch die ansonsten ideologisch verhüllten Klassengrenzen sehr gut ablesen: Den „Reichen und Schönen“ der westlichen Welt, denen der 77-jährige Globalisierungskritiker seine Ansprache unter dem Titel „Aufstand des Gewissens“ gewidmet hatte, gilt der Sohn eines Richters aus dem beschaulichen Ort Thun im Kanton Bern als „Verräter“ und „Nestbeschmutzer“. Besonders in der eidgenössischen Oberschicht ist der ehemalige Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen verhasst. Er wurde in seinem Heimatland mit Prozessen überzogen und erhielt Morddrohungen. „Ziegler gelangte zu der Überzeugung, dass die Schweiz für die Misere der armen Länder nicht nur mitverantwortlich sei, sondern bei der wirtschaftlichen Ausbeutung des Südens sogar eine zentrale Rolle spiele“, nennt Biograph Wegelin einen wesentlichen Grund. Vor allem mag den Verwaltern des Elends gar nicht behagen, dass Ziegler Auswege aufzeigt, die „in der aktiven, unermüdlichen, solidarischen, demokratischen Organisation der revolutionären Gegengewalt“ bestehen, wie er am Schluss seiner aufrührerischen Rede sagte. „Es gibt ein Leben vor dem Tod. Der Tag wird kommen, wo Menschen in Frieden, Gerechtigkeit, Vernunft und Freiheit, befreit von der Angst vor materieller Not, zusammenleben werden.“
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