Horror vacui – Die Angst vor dem Schlupfloch
Warum es bei Bürokratie um mehr geht als um ineffiziente Prozesse und ihre Verbesserung durch Digitalisierung und weniger Formulare. Außerdem geht es in diesem Essay über viele absurde Auswüchse der Überregulierung als Erziehung zur Unselbstständigkeit.
„Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: Damit machen sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Haustiere.“
(Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra)
Ist Bürokratie nur schlechte Organisation?
Vor einigen Jahren musste ich nach längerer Unterbrechung wieder ein Fahrzeug zulassen. Da ich in Erinnerung hatte, dass der ganze Prozess mindestens einen halben Tag dauert, machte ich mich mit Buch, Butterbrot und Trinkflasche auf den Weg zur Kfz-Zulassungsstelle. Meine Überraschung: Obwohl ich keinen Termin gebucht hatte hatte und der Vorgang aus mehreren Schritten an verschiedenen Schaltern bestand und sogar das Prägen der Schilder in einem Laden auf der anderen Straßenseite beinhaltete, war nach zehn Minuten alles erledigt und ich machte mich mit meinem Butterbrot wieder auf den Heimweg. Irgendetwas musste hier passiert sein – eine dramatische Prozessverbesserung.
Dies ist ein Beispiel dafür, wie viel sinnlose Ineffizienz in vielen Prozessen steckt. Ein halber Tag sinnloses Raumstehen. Bei rund drei Millionen Zulassungsvorgängen für neue und gebrauchte Fahrzeuge sind dies 1,5 Millionen sinnlose Arbeitstage. Und da die meisten Menschen weder Selbständige noch Führungskräfte mit Arbeitszeitsouveränität sind, müssen sie dafür Urlaub nehmen oder jemanden für den Job bezahlen.
Ja, solche Beispiele gibt es an vielen Stellen, nicht nur in der öffentlichen Verwaltung, sondern auch in Unternehmen. Übrigens bedeuten Prozessverbesserungen nicht zwangsläufig, dass die Mitarbeiter schneller arbeiten oder unter höherem Leistungsdruck stehen. Im Gegenteil, in einer gut organisierten Fabrik herrscht keine Hektik, manchmal hat man als Besucher den Eindruck, es werde gar nicht gearbeitet. Gut organisierte Prozesse können für alle Beteiligten, egal ob Mitarbeiter oder Kunden, eine Erleichterung sein. Ich bin sicher, dass die Mitarbeiter im Beispiel der Zulassungsstelle nicht mehr, sondern weniger Hektik haben. Dafür mehr positive Rückmeldung von den Kunden.
Bürokratie als Selbstvermehrung
Ja, es gibt auch die Selbstvermehrung der Bürokratie. In einem Unternehmen wollten wir die operative Tätigkeit von zwanzig Standorten in der Geschäftsführung abzubilden. Zwanzig Vertreter in die Geschäftsführung aufzunehmen, wäre natürlich Unsinn. Aber wir wollten keine Zwischenebene, etwa nach Regionen einführen. Eine solche Zwischenebene hätte keinen Mehrwert, sie würde jedoch vom ersten Tag an beginnen, sich mit Stabsfunktionen aufzurüsten und zu vergrößern, mit anderen Worten, sich selbst die Arbeit zu verschaffen, die dann wachsende Kapazitäten unbedingt notwendig machten. Solche Vorgänge kann man in Unternehmen ebenso wie in öffentlichen Verwaltungen immer wieder beobachten, mit Koordinationsstellen oder Querschnittsverantwortlichen.
Auch die allgegenwärtigen Beauftragten für Umwelt, Gleichstellung oder Integration entwickeln sich nach einem ähnlichen Muster. Niemals werden sie sagen, dass sie nach fünf Jahren guter Arbeit die Probleme gelöst und sich selbst überflüssig gemacht hätten. Nein, sie werden alarmierende Berichte verfassen, verzweifelt nach Fällen suchen, die Grenzwerte verschärfen und gleichzeitig sagen, das alles sei nur die Spitze des Eisberges. Man müsse die Schlupflöcher schließen, brauche mehr Meldestellen, mehr Kapazitäten und mehr Geld für irgendwelche Programme.
Während man sich bei einer Sanierung oder Restrukturierung eines Unternehmens die operativen Prozesse sehr genau anschauen muss, um nicht durch Streichungen an falscher Stelle Schaden anzurichten, muss man bei Verwaltungs- oder Managementbereichen genau umgekehrt vorgehen. Mit sorgfältigen Analysen hat man hier sofort verloren. Man muss einfach mit dem Rasenmäher darüber gehen und der Organisation selbst überlassen, mit 30 Prozent weniger Kapazität zurechtzukommen.
Bürokratie als sinnloses Aktenwälzen
Und ja, es gibt auch das sinnlose Wälzen von Akten. Einige Jahre lang hatte ich geschäftlich regelmäßig in Algerien zu tun. Jedes Mal musste ich einen Visums-Antrag stellen auf einem Formular, dessen Felder gar nicht den Platz hatten, um das einzutragen, was verlangt war. Lesen konnte es ohnehin niemand. War aber egal. Außerdem musste ich immer wieder mehrere Passfotos beifügen – die Botschaft besitzt vermutlich die weltgrößte Sammlung meiner Passbilder. Natürlich wurde alles mehrfach gestempelt und mit Gebührenmarken versehen.
Ähnliche Vorgänge erlebt man immer wieder – sowohl im geschäftlichen wie im privaten Umfeld. Warum muss man eigentlich eine (auch noch beglaubigte) Geburtsurkunde vorlegen, wenn das Geburtsdatum auf dem Ausweis klar einsehbar ist? Mich macht immer wahnsinnig, wenn in Anträgen Fragen von Menschen formuliert wurden, die offenbar von der Sache, um die es geht, nicht die geringste Ahnung haben. Und es macht mich nervös, wenn ich zunehmend das Gefühl bekomme, dass keine der Fragen auf die eigene Situation passt. Und oft genug frage ich mich, wer um Himmels willen alle diese Zettel liest oder prüft oder abheftet.
Regelungsdichte als Ideal
Ja, alle diese Beispiele gibt es und gewiss noch mehr – in der öffentlichen Verwaltung genauso wie in Unternehmen. Sie sind ärgerlich, unnütz und vergeuden Volksvermögen und Lebenszeit der arbeitenden und steuerzahlenden Menschen. Das Beispiel der Kfz-Zulassungsstelle zeigt, welche Potenziale hier liegen und dass es dabei nicht um Kleinigkeiten geht.
Ich möchte jedoch in diesem Artikel über etwas anderes reden, das nicht nur unbeabsichtigt zu mehr Bürokratie führt, sondern das in bester Absicht sozusagen Bürokratie als Programm beinhaltet. Es sind Beispiele für eine Haltung, die auf den ersten Blick wenig, auf den zweiten Blick jedoch umso mehr mit der bürokratischen Lähmung unserer Gesellschaft zu tun haben.
Regelungsdichte als Paradies der Schreibstube
Kürzlich am Bäckereistand eines Supermarktes. Auf der Theke steht ein Schild: „Kundeninformation zur Bio-Verordnung: Auf der Schneidemaschine in dieser Abteilung werden sowohl konventionelle Produkte als auch Bio-Produkte geschnitten.“ Offenbar geht man in einer archaisch-religiösen Vorstellung davon aus, dass in der Brotschneidemaschine eine Art Kontaktkontamination zwischen Bio-Brot und konventionellen Backwaren stattfinden könnte. Vor allem impliziert der Warnhinweis, dass man idealerweise in jeder Bäckerei und an jeder Brottheke zwei getrennte Schneidemaschinen haben sollte – vielleicht noch eine dritte, vierte oder fünfte für vegan, koscher und halal. Drittens kann die Schneidemaschine nur der Anfang sein. Konsequenterweise müsste man auch verschiedene Verkäuferinnen und Schneidemaschinenreinigungskräfte mit getrennten Reinigungstüchern haben oder aber warnend darauf hinweisen, dass die Verkäuferin mit denselben Händen beide Brotsorten anfasst. Oder ein Display müsste in Echtzeit informieren, dass die für Bioprodukte zuständige Verkäuferin Geschlechtsverkehr mit jemand hatte, der nur konventionelles Brot verspeist. Das Ganze natürlich über das Lieferketten-Gesetz weltweit ausgerollt und lückenlos dokumentiert.
Die entsprechende Regelung gibt es offenbar schon länger – bereits 2007 mokierte man sich im Netz darüber. 2018 wurde sie novelliert.1 Rund hundert Seiten mit pedantischsten Regelungen für alles und jedes. Wahrscheinlich steht jeder Bauer und jeder Ladenbesitzer mit einem Bein im Gefängnis – oder er käme nicht mehr zum Arbeiten. Das Einzige, was Bauern und Bäcker rettet und uns als Konsumenten noch Brot beschert, ist offenbar, dass niemand diese Pedanterien liest und niemand es kontrollieren kann. Das Ideal der lückenlosen Regelung geht nebenbei davon aus, dass die materiellen und personellen Ressourcen für die Umsetzung unbegrenzt sind. Das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens scheint hier noch nicht bekannt zu sein.
Realitätsverlust durch Prozessgläubigkeit
Bei der Entwicklung des großen Airbus A 380 gab es Verzögerungen, die für das Unternehmen nicht nur peinlich, sondern auch teuer waren. Da ich selbst etliche Jahre in der Luft- und Raumfahrtindustrie gearbeitet habe, fragte ich einen Experten, wie das geschehen konnte – vor allem mit einer solchen Ursache: Wenn beim größten jemals gebauten Passagierflugzeug in irgendeinem Grenzbereich der Konstruktion Probleme auftauchten, wäre das nicht überraschend, aber Probleme mit zu kurzen Kabeln? Der Experte erklärte mir den technischen Zusammenhang und kam dann zu seiner eigentlichen Botschaft: „Wissen Sie, Herr Klopprogge, die Spezifikationen, die einer Konstruktionsarbeit zugrunde liegen, stimmen nie vollständig. Man kann nicht die Folgen der Folgen der Folgen genau vorhersehen und vorab definieren. Das war früher nicht anders als heute. Aber früher wäre man zum Kollegen gegangen und hätte gesagt: ‚Schau mal, hier steht etwas, das passt nicht auf mich, das ist glaube ich etwas, was du machen musst.‘ Nach den heutigen durch ISO-Normen bis ins Kleinste definierten Prozessen ist das jedoch eine Todsünde.“ In dieser Philosophie muss man die Regeln abarbeiten, egal welche Folgen das in der realen Welt hat.
Ähnliches passiert etwa in der Altenpflege. Die Mitarbeiter, deren Motivation eigentlich auf die Sorge für ältere Menschen gerichtet ist, werden durch pedantische Dokumentationspflichten sauer gefahren. Böse ausgedrückt: Wie es dem alten Menschen tatsächlich geht, ist egal. Hauptsache, die Pflegekraft dokumentiert, dass sie um 11:13 Uhr ein Glas Wasser gebracht hat.
Mehr und mehr fallen so Plan und Realität auseinander. Durch Straßenbauarbeiten um uns herum waren wir und unsere Nachbarn plötzlich von der Außenwelt abgeschnitten – nicht nur mit dem Auto, sondern auch als Fußgänger. Als wir uns bei der Gemeinde beschwerten und darauf hinwiesen, dass die zweite Baustelle nicht hätte angefangen werden dürfen, bevor die erste fertig war, wurde uns entgegnet, dass die erste Baustelle nach Plan am 15. Mai hätte beendet sein sollen. War sie aber nicht. Und das Dumme ist, dass wir nicht im Plan, sondern in der Realität wohnen.
In der Haupteinkaufsstraße in München wird seit Jahren an der Renovierung der S-Bahn-Station gearbeitet. An einem Bauzaun mitten in der Fußgängerzone wird um Verständnis gebeten und versprochen, dass die Bauarbeiten im dritten Quartal 2023 beendet sein werden. Das steht da im Juni 2024! Egal, man hat ja seiner Informationspflicht gegenüber dem Bürger genüge getan – was interessiert da noch die Wirklichkeit!
Unangenehm wird es, wenn sich solche Schreibstubenperspektive mit moralischem Anspruch verbindet. Während der Fußball-Europameisterschaft hatten sich Deutsche Bahn und UEFA zusammengetan, damit die Fans klimafreundlich reisen. „Ein Team. Fürs Klima.“ hieß es auf den Plakaten der S-Bahn München. Dummerweise hieß es auf anderen Displays, dass während der EURO 24 der Verkehr auf der Stammstrecke, dem Herzstück des Netzes, ab 21:30 Uhr wegen Bauarbeiten eingestellt wird. Egal. Im Selbstverständnis der Schreibstube hat man das Klima gerettet.
Wege werden mit einer Linie in einen Fußgänger und Radfahrerbereich unterteilt und mit entsprechenden Symbolen versehen. Dabei wird die vorschriftsgemäße Breite für den zur Straße hin gelegenen Radfahrerteil gnadenlos durchgehalten, auch wenn wegen Bäumen oder Mauern kein Platz mehr für Fußgänger bleibt. Und gnadenlos wird der vor der Wand endende Fußgängerweg noch schnell mit einem Fußgängersymbol versehen. Egal. Aus Sicht der Schreibstube sind die Unregelmäßigkeiten der realen Welt Unbotmäßigkeiten, auf die keine Rücksicht genommen werden kann.
Generalverdacht und Vorbeugehaft
Beim ersten Mal hielt ich es für einen Produktionsfehler: Der Schraubverschluss war unablösbar mit der Wasserflasche verbunden und ließ das Eingießen nur noch mit zwei Händen zu. Die Konstruktion, die zu lächerlich unbeholfenem und kleckerndem Umgang mit Wasserflaschen führt, war jedoch kein Zufall, sondern sie ging auf eine Richtlinie zurück, die verhindern sollte, dass wir die Verschlüsse in die Landschaft werfen. Die Verordnung verbietet also nicht das In-die-Landschaft-Werfen von Verschlüssen, sondern geht von vornherein davon aus, dass wir prinzipiell unbelehrbar und sündig sind und deshalb mit einer Zwangsvorrichtung im Zaum gehalten werden müssen. Natürlich gibt es Leute, die Verschlüsse in die Landschaft werfen, aber solche Zuschreibungen könnte man auch für Tausende anderer „Risiken“ konstruieren und vorsorglich unterbinden.
Der amerikanische Philosoph und Motorradmechaniker Richard Crawford schrieb zu einem ähnlichen Beispiel: „Es ist wahr: Es gibt Leute, die den Wasserhahn nicht ordentlich abdrehen. Doch der per Infrarotsensor betätigte Hahn, der auf dem Pauschalverdacht der Verantwortungslosigkeit beruht, trägt dieser Nachlässigkeit nicht nur Rechnung, sondern setzt sie voraus und verleiht ihr den Status der Normalität. Diese Infantilisierung beleidigt die Persönlichkeit, die einen eigenen Willen besitzt.“2 Übrigens: Jemand vorsorglich an einer unterstellten Tat zu hindern, bevor dieser überhaupt Gelegenheit hatte, die Tat zu begehen oder sie auch nur zu beabsichtigen, nannte man zwölf Jahre lang Vorbeugehaft oder Schutzhaft.
Umkehrung der Beweislast
Es gab einmal eine Zeit, da galt es als Ideal, ein Auto so übersichtlich zu designen, dass man es zentimetergenau einparken kann. Dann kamen Parkpiepser, die in manchen Situationen gewiss hilfreich waren. Inzwischen ist jedes neue Auto mit einer Armada von Assistenzsystemen ausgerüstet, die ständig piepsen, vibrieren und blinken oder in Autobahnbaustellen das Lenkrad aus der Hand reißen. Wenn ich in die Garage fahre, werde ich bombardiert mit einem Konzert von Alarmtönen, die mich davor warnen, dass eine Garage eine Garage und keine Großmarkthalle ist. Die Angst, etwas falsch zu machen, führt in die vollkommene Nutzlosigkeit – aber wir werden gewarnt!
Und es geht weiter: „All das Gongen und Piepsen hat seine Ursache in einer EU-Verordnung, der zufolge ab dem 7. Juli 2024 alle neu zugelassenen Autos einen intelligenten Geschwindigkeitsassistenten an Bord haben müssen. Es handelt sich um ein System, das den Fahrer entweder vor zu schnellem Fahren warnt oder die Fahrgeschwindigkeit sogar automatisch an die erlaubte Höchstgeschwindigkeit anpasst.“ Der Motorteil der F.A.Z. schildert die Erfahrungen: „Die Fehlerraten sind horrend. Schlechtwetter ist nicht vorgesehen.“3
Heute scheint es noch so, als ziele autonomes Fahren darauf ab, sich an die Komplexität unserer menschlichen Welt anzupassen – eine Entwicklungsaufgabe, die offenbar schwieriger ist als gedacht. Es ist keine gewagte Vorhersage, dass sich bald die Beweislast umkehren wird: Man wird in der Smart City nur noch das zulassen, was die Systeme mit vertretbarem Aufwand bewältigen können. Mit anderen Worten: Die Systeme passen sich nicht an uns an, sondern wir sollen uns an die Systeme anpassen – natürlich im hehren Interesse der Verkehrssicherheit.
Die Endloskette des Misstrauens
In einem Artikel “Wenn das Bildungsministerium Klopapier und Kaffeemaschinen reguliert” beschrieb Patrick Welter in der F.A.Z. vom 24.3.2024 die detaillierten Vergabekriterien für Institute, die Anträge auf Forschungsgelder bewerten. Ähnliche Kriterien gibt es auch bei der Vergabe von Mitteln der Filmförderung. Der Regelungsanspruch greift selbst in einem so randständigen Fall in alle Lebensbereiche ein: Toilettenpapier, Kaffeekapseln, Verpflegung, Kopierpapier, Reinigungsmittel. War nicht die Behauptung, die Grünen wollten vorschreiben, was wir zu essen haben, als böswilliges Narrativ zurückgewiesen worden? Jetzt schreibt es sogar ein liberal geführtes Ministerium vor. Und nach der Endlos-Logik des Lieferkettengesetzes kann das nicht das Ende sein: Wenn man vorschreibt, aus welchen Materialien die Möbel bestehen, auf denen die Menschen in geförderten Forschungsprojekten sitzen, müsste logischerweise auch einbezogen werden, was die Leute, die die Stühle herstellen, essen und auf der Toilette machen. Und was ist mit den Kaffeekapseln derjenigen, die die Kloschüssel montiert haben? Im Handumdrehen rollt sich das weltweite Netz wirtschaftlicher Verflechtungen ab – gesteuert aus einem Büro im Forschungsministerium.
Bei den Reisekostenabrechnungen eines Lehrauftrages muss ich der Hochschulverwaltung nicht nur die Hotelrechnung vorlegen, sondern auch den Kreditkartenbeleg – wahrscheinlich, um zu beweisen, dass ich den Rechnungsbetrag wirklich bezahlt habe. Als ob jemand, der eine Hotelrechnung fälschen kann, nicht auch einen gefälschten Kreditkartenbeleg produzieren könnte! Immer wieder begegnet uns die Endlosketten-Logik von Misstrauen und Kontrolle.
Und es kommt etwas Weiteres hinzu: Selbst, wenn das Ministerium bestimmte Auflagen machte, müsste man nicht zwingend ein Meldewesen aufbauen. Es gibt auch sonst viele Gebote und Verbote, etwa in der Straßenverkehrsordnung, im Bürgerlichen Gesetzbuch oder im Strafgesetzbuch, ohne dass wir melden müssen, dass wir in der vergangenen Woche niemanden umgebracht oder nicht falsch geparkt haben. Warum muss etwa ein in Deutschland ansässiges IT-Unternehmen jährlich melden, dass es bei ihm keine Kinderarbeit gibt? Es sind diese Melde- und Dokumentationspflichten, die vielen kleinen Unternehmern das Leben verleiden. Natürlich stehen hilfreiche Beratungsfirmen und Anwaltskanzleien bereit, die gegen Honorar beim formgerechten Erstellen der Meldung unterstützen.
Kein Geringerer als der frühere Präsident des Verfassungsgerichtes Andreas Voßkuhle fragte kürzlich: „Wie wäre es, wenn wir in Deutschland anstatt amtlicher Bescheinigungen Selbstbescheinigungen und anstatt beeideter Urkunden Selbsterklärungen zulassen würden? Der Bürger bescheinigt in einer persönlichen unterschriebenen Erklärung bestimmte Sachverhalte, für die er sonst Nachweise zu erbringen hätte. Natürlich gibt es hier stichprobenartige Kontrollen, und Verstöße müssten sanktioniert werden. Aber die Grundidee ist, weg von der Misstrauensverwaltung, hin zu mehr Vertrauen in die Bürger und zu weniger Bürokratie.“4
Betreutes Leben
Vor über zwanzig Jahren trug eines der jährlich stattfindenden „Ottobrunner Gespräche“ den Titel „Regel-mäßig verantwortungslos“. Es ging darum, dass zu viele Regeln und Vorschriften nicht zu einem verantwortungsvolleren Handeln führen, sondern umgekehrt die Fähigkeit des Menschen zur Verantwortung untergraben. Eine von jungen Künstlern gestaltete begleitende Ausstellung bestand darin, den ganzen Konferenzbereich mit absurden Warnhinweisen und Vorschriften zu überfrachten: „Vor dem Händewaschen Wasserhahn aufdrehen“, „Zum Öffnen der Türe Klinke drücken“, „Zum Verlassen der Toilette Tür öffnen“ und so weiter in diesem Stil. Während der Veranstaltung beschwerten sich Teilnehmer, die das alles ernst genommen hatten, über diese Bevormundung.
Gäbe es heute noch diese Störgefühle? In der Dusche eines Hotels findet sich der Hinweis „Save Water. Shower together“. Könnte man dies noch als halbernst-frivole Ermunterung deuten, war das kürzlich angetroffene „Liebe Gäste, nach dem Benutzen der Toiletten bitte die Spülung betätigen!!!“ weitgehend humorfrei. An der Selbstbedienungstheke eines Cafés wird man in zwei Sprachen aufgefordert, nur so viel Servietten zu nehmen, wie man benötigt. In einer neulich erworbenen Unterhose war in vier Sprachen die Aufforderung eingenäht, dass man die Unterhose vom Feuer fernhalten solle. Bei der Annäherung an eine Rolltreppe wird man gewarnt, dass man sich jetzt einer Rolltreppe nähert. Die satirische Sendung „Ein Herz und eine Seele“ mit Ekel Alfred wurde mit dem Warnhinweis versehen: „Das folgende fiktionale Programm wird in seiner ursprünglichen Form gezeigt. Es enthält Passagen, deren Sprache und Haltung aus heutiger Sicht diskriminierend wirken können.“ Ähnliches geschah mit Otto Wahlkes und Pumuckl – oder auch mit dem Bibelspruch an der Kuppel des Berliner Stadtschlosses. Der Philosoph Robert Pfaller berichtete, dass er im Filmprogramm eines Transatlantikfluges gewarnt wurde, der ausgewählte Film enthalte „Erwachsenensprache“.
Vor über zehn Jahren habe ich die Lebenserinnerungen meiner Großmutter, einer Landarbeiterin aus Pommern und Brandenburg, herausgegeben – ein kleines Büchlein von 150 Seiten. Kürzlich bekam ich von Amazon die Aufforderung, dass ich jetzt gemäß dem Produkthaftungsgesetz einen Beauftragten für jedes Land benennen muss, in dem das Buch angeboten wird und dass ich mögliche Warnhinweise erstellen muss. Hinsichtlich der Warnung schwanke ich noch zwischen dem Text in meiner Unterhose („Keep away from Fire“) und dem Hinweis, dass die Erzählungen meiner Großmutter positive Darstellungen von Arbeit und geistiger Selbständigkeit enthalten, die auf heutige Regelungsfanatiker verstörend wirken könnten.
Radfahrer und Fußgänger begegnen immer häufiger auf den Weg gesprühten Hinweisen „Gemeinsam mit Rücksicht“. Natürlich ist nichts gegen Rücksicht einzuwenden. Aber warum muss man extra darauf hingewiesen werden? Vor allem jedoch: Wenn bestimmte Stellen so gekennzeichnet sind und andere nicht, muss man dann an den nicht gekennzeichneten Stellen nicht rücksichtsvoll sein? Tatsächlich wird man an allen Zugängen zu einem von Fußgängern und Radfahrern genutzten Uferweg durch Aufschrift und Warnstreifen darauf hingewiesen, dass man jetzt in eine „Fairness Zone“ eintritt. Welches Verhalten wird nach dem Verlassen der Zone als angemessen betrachtet? Oder ist die gegenwärtige Kennzeichnung nur ein unvollkommener Zwischenstand auf dem Weg zum Endstadium, in dem uns an jeder Stelle lückenlos gesagt wird, was wir tun sollen? Und sind wir schuldlos, wenn wir an einer nicht gekennzeichneten Stelle ein Kind über den Haufen fahren – schließlich wurden wir nicht gewarnt?
Neulich war ich zum Wandern in den Dolomiten. Man merkte, dass es eine touristisch beliebte Gegend war und sich die Gemeinden bemühten, das irgendwie in den Griff zu bekommen. Alles war liebevoll bis ins Kleinste geregelt und festgelegt. Selbst noch auf 1800 m war jede schmale Forststraße mit frischen weißen Streifen eingerahmt und dann noch separat die Haltestelle für den Bus gekennzeichnet. Das alles geschah zweifellos in bester Absicht und gewiss bin ich ungerecht, aber ich muss zugeben, dass dieser gutgemeinte Perfektionismus bei mir Unbehagen auslöste. Traut man uns nicht mehr zu, mit schwierigen und unvorhergesehenen Situationen zurechtzukommen? Wenn man uns ständig vor solchen Situationen beschützt, werden wir auch verlernen, mit ihnen umzugehen und das Misstrauen wird seine Bestätigung finden.
Das genau war gemeint mit dem Veranstaltungstitel „Regel-mäßig verantwortungslos“. Man sollte diesen Effekt nicht unterschätzen: Jede erfahrene Führungskraft weiß, dass man Mitarbeitern, die nie Selbstständigkeit erlebt haben, nicht einfach Selbständigkeit geben kann – auch der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung will gelernt sein. Und man kann ihn verlernen. Der Neurowissenschaftler und Psychotherapeut Joachim Bauer resümiert: „Man hilft gesunden Menschen beim Denken, bis sie nicht mehr denken können.“5
Erziehung zur Unselbständigkeit
Manchmal könnte man den Eindruck haben, dass ein solches Verlernen menschlicher Grundkompetenzen Methode hat. Bei uns im Ort wurden in den vergangenen Jahren mit großem Aufwand alle Spielplätze umgestaltet. Gewiss sind solche Erneuerungen von Zeit zu Zeit nötig. Bedrückend ist jedoch die Perfektion der neuen Installationen: Dampflokomotiven, Doppeldecker-Flugzeuge, Piratenschiffe und ein Wasserhebewerk mit Archimedischer Schraube. Das alles mag wunderbar aussehen, aber genau das ist das Problem. Dass ich dort noch kein Kind Pirat, Lokführer, Pilot oder Archimedes spielen gesehen habe, ist vielleicht die beste Botschaft. Aber deprimierend ist das Konzept, eine Perfektion herstellen zu wollen, die den Kindern jede eigene Kreativität abnehmen will. Dabei ist es wunderbar, wie Kinder aus drei Steinen, zwei Stöcken und etwas Wasser ihre eigene Welt schaffen können.
Man kann seit Jahrzehnten eine schleichende Entwicklung bei LEGO beobachten: In meiner Kindheit waren Legosteine zweckneutral und man schuf aus ihnen das, was man sich selbst ausgedacht hatte. Da man niemals genug von einer Sorte besaß, musste man sich immer irgendwie aushelfen. Heute kauft man perfekte Sets für Piratenschiffe oder Ritterburgen, in denen der Zweck vorgegeben ist und jeder der hochspezialisierten Steine einen einzigen definierten Platz hat. Mit geht es hier nicht um nostalgische Kulturkritik, aber offenbar hat sich etwas geändert. Und wir sollten nicht glauben, dass solche Prägungen ohne Folgen bleiben. In Unternehmen reden wir ständig von Kreativität, aber auf dem Spielplatz und in der Bildung gewöhnen wir sie den Kindern systematisch ab.
Oft werde ich verwundert angeschaut, wenn ich mich in Diskussionen gegen das Zentralabitur ausspreche. Was kann man dagegen haben, dass alle Schüler nach demselben Maßstab gemessen werden? Ist damit nicht die perfekte Chancengleichheit garantiert? Nun, man kann durchaus darüber streiten, ob Prüfungsgerechtigkeit wirklich ein zentraler Maßstab guter Schule ist. Aber mein Unbehagen richtet sich auf etwas anderes: Wenn ich am Ende der Schulzeit allen Schülern dieselben Aufgaben stelle und diese dann möglichst gleich bewerte, dann muss ich in den neun Jahren vorher amtsgerichtsfest sicherstellen, dass exakt dasselbe Wissen in exakt derselben Zeitmenge und Reihenfolge und in der exakt gleichen Formulierung vermittelt wurde. Sonst hätte ich alles noch ungerechter gemacht.
In meiner Schulzeit galten Lehrer, die Antworten in einer genau definierten Formulierung einforderten, als schlechte Lehrer. Heute scheint es eher das Ideal zu sein: Meine Enkelin – zweites Schuljahr – gab auf die Frage, warum man im Winter bestimmte Obstsorten nicht essen sollte, die Antwort, dass sie hier nicht wachsen. Obwohl diese Begründung die vorgesehene Antwort (Transportwege, Klimaschutz oder so) in intelligenter Weise implizierte, wurde sie als falsch bewertet – es war eben nicht die vorgesehene Formulierung.
Noch trostloser wird es bei Multiple-Choice-Prüfungen an Schulen und Universitäten: Sie vermitteln den Eindruck, dass es im Leben immer eine feste Liste von Fragen und zu jeder Frage die eine richtige Antwort gibt. Alles muss genau festgelegt sein. Spielräume werden als Einfallstor für Willkür und Ungerechtigkeit angesehen. Wir weit ist das entfernt von dem Prüfungsstil, den mir mehrere Gesprächspartner als die besten Prüfungen in ihrem Leben beschrieben: Der Professor stellte eine Aufgabe, deren Antwort der Proband gar nicht wissen konnte und die auch der Prüfer nicht kannte. Es ging aber gar nicht darum, die richtige Antwort auf drei Stellen hinter dem Komma zu liefern, sondern mit eigenen Überlegungen ein unbekanntes Problem einzugrenzen und einen Lösungsweg zu skizzieren. Wahrscheinlich stünde heute ein Professor, der so vorginge, mit einem Bein im Gefängnis. Kein Wunder, dass junge Menschen heute meinen, Wissenschaft sei ein Wahrheitsautomat, hinter dessen Produkten man sich widerspruchslos und im Gleichschritt vereinen müsse – unite behind the science. Offenbar geht man wie beim Multiple-Choice-Test davon aus, dass Aussagen, die von der einen richtigen Antwort abweichen, in Täuschungsabsicht von jemand hineingeschmuggelt wurden, der es eigentlich besser weiß.
Verschließen der Handlungsräume
Als ich in meiner Studentenzeit als Briefträger arbeitete, wurde ich in Wohnungen gebeten, dort mit Schnaps, Bier und Kuchen bewirtet und bekam von den ausgezahlten Renten, Wohngeldern oder Arbeitslosenhilfen ein großzügiges Trinkgeld. In den Kneipen, die im Zustellbezirk lagen, stand für den Briefträger genauso wie für die Müllmänner immer ein frisch gezapftes Pils bereit. Aus meiner Kindheit habe ich noch genau vor Augen, dass zur Weihnachtszeit dem Verkehrspolizisten, der in der Mitte der Kreuzung auf einem Podest den Verkehr regelte, Geschenke hingestellt wurde. Dank Internet kann man den Brauch verifizieren: „Auf den Fotografien sind Bierkisten, Weinflaschen, Süßigkeiten usw. zu erkennen. Allem Anschein nach gut gelaunt, mit einnehmendem Lächeln regelt der Bescherte den Verkehr, während sich neben ihm Geschenke türmen.“6 Inzwischen ist so etwas nicht nur für Polizisten undenkbar, sondern auch Müllmänner wurden mit arbeitsrechtlichen Sanktionen belegt, weil sie verbotenerweise ein Trinkgeld angenommen hatten. Natürlich hatte nie jemand die Absicht, Müllmänner, Briefträger oder Polizisten durch Bestechung zu einer Bevorzugung bei der Briefzustellung oder Verkehrsregelung zu verführen. Es war einfach ein Zeichen des Dankes und Respektes für diejenigen, die bei Wind und Wetter ihren Dienst tun.
Dieser Wandel betrifft übrigens nicht nur die „kleinen Leute“, sondern den „großen Tieren“ ergeht es nicht besser. Vor einigen Jahren hörte ich, dass Professoren sich nur zu einem Dreigang-Menü mit maximal 35 Euro einladen lassen dürfen. Was ich früher als kleiner Sachbearbeiter oder Fachreferent ohne Weiteres selbst entscheiden konnte – etwa Veröffentlichungen oder Mitgliedschaften –, muss heute selbst ein Top Manager der Compliance- oder Ethikkommissionen vorlegen. Eine Führungskraft berichtet: „Wir geben Millionen aus, um die Organisation auf agile Prinzipien zu trimmen. Und eigentlich bin ich im Rahmen von Projekten befugt, große Summen auszugeben. Aber wenn ich dann für einen unter Zeitdruck hergestellten Prototyp eine Software für 130 € brauche, verliere ich Monate für den Beschaffungsprozess. Das Problem ist: Ich kann die Beschaffungssysteme nicht umgehen.” Eine andere Führungskraft fragt ebenso frustriert wie spöttisch: „Wenn ich sowieso nichts anderes machen kann als das, was die rigiden Systeme vorsehen und erlauben, warum kommt dann noch jemand und kontrolliert, was ich getan habe?” Ist man erst einmal auf dieser Schiene des Misstrauens unterwegs, dann ist die Kette unendlich: Wer kontrolliert die Kontrolleure? Folgerichtig kommen Kontrolleure immer zu zweit.
Natürlich mag es Missbräuche gegeben haben, aber die gibt es auch weiterhin, nicht zuletzt auch deshalb, weil ja der sinnvolle Teil der Kontrolle abnimmt, wenn nicht mehr die Verantwortlichen aus Sachkenntnis entscheiden, sondern weit entfernte Kommissionen nach Aktenlage und formalen Kriterien. Der Vorstand eines großen Unternehmens gestand mir bereits vor einigen Jahren: „Wissen Sie, die Arbeit im Vorstand macht keinen Spaß mehr. Wir haben keine Ideen mehr, wir unternehmen nichts, wir wagen nichts mehr. Was wir inhaltlich entscheiden, ist egal. Es geht nur noch darum, zu dokumentieren, dass der Entscheidungsprozess formal sauber gelaufen ist.“
Der Weg in die Dystopie ist mit guten Absichten gepflastert
Ich habe bewusst diese wilde Mischung von Anekdoten zusammengestellt. Sie stammen aus unterschiedlichsten Bereichen von Unternehmen über Spielplätze und Flaschenverschlüsse bis Fördergeldvergabe. Viele Beispiele erscheinen dem gesunden Menschenverstand absurd, manche etwa im Bereich der Wirtschaft schaden explizit ihren eigenen Urhebern, aber dennoch sehen wir eine große Einheitlichkeit. Und sie scheinen sich auszubreiten, wie von einer unwiderstehlichen Kraft beflügelt.
Natürlich könnte ich jetzt leicht über die niederen Motive der Bürokraten spekulieren, etwa dass sie ihre Jobs vermehren und absichern wollen. In der Tat sind die beschriebenen Regelungen eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme größten Ausmaßes für Abmahnvereine, Anwaltskanzleien, Meldestellen und jede Art von Blockwarten. In der Tat entsteht hier eine neue Art von Herrschaft und Ausbeutung. Aber auch das kann nicht die letztliche Erklärung sein, denn eine Gesellschaft lädt sich diese parasitäre Last nur auf, wenn sie überzeugt ist, dass es irgendeinen höheren Nutzen besitzt. „Auch der Tyrann braucht Freunde“, sagten schon die alten Griechen. Ich finde es immer besser, ein Verhalten, so sehr es mich auch ärgert, mit einer guten Absicht zu begründen. Nur so kommen wir an die Wurzel des Übels. Das Gemeinsame meiner Beispiele scheint mir der „horror vacui“ zu sein, eine Angst vor dem nicht determinierten, nicht geregelten Raum. Was könnte die gute Absicht, was könnte die als positiv verstandene Leitidee sein, die ein solches Denken und Handeln fordert und fördert? Ich möchte zwei Elemente hervorheben.
Determinismus und Kausalität ohne Lücken
Der eine Leitgedanke stammt aus der mechanistischen Phase der Naturwissenschaft und aus der Technik. Er wurde unter anderem 1814 in klassischer Weise formuliert durch den französischen Physiker und Mathematiker Pierre-Simon Laplace: „Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Universums als Folge eines früheren Zustandes ansehen und als Ursache des Zustandes, der danach kommt. Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen.“7 Die Vorstellung besagt, dass alles kausal zusammenhängt. Dass das, was nicht vorhersagbar ist, einfach noch nicht vorhersagbar ist, weil wir noch nicht alle Parameter kennen. Wir leben sozusagen noch im defizitären Zustand der noch nicht vollständigen Erkenntnis. Wenn wir auch das Fehlende wüssten, könnten wir alles vorhersagen. Die Welt wäre entschlüsselt.
In der Physik ist dieser Ansatz längst überwunden, aber umso kräftiger lebt er als Untoter in der Psychologie und den Sozialwissenschaften. Es ist klar, dass in einem solchen Modell kein Platz ist für eigenständiges Handeln und menschliche Weltgestaltung – das würde das ganze Konzept vermasseln. Die neuere Psychologie und Soziologie ist voller Angriffe auf die Authentizität des Menschen. Immer soll es hinter dem Wollen noch ein Wollen des Wollens geben, irgendwelche Prägungen, Triebe, Motive, die uns wie unsichtbare Marionettenfäden steuern. Man kann es an der Bedeutungsgeschichte der Begriffe „subjektiv“ und „objektiv“ ablesen, obwohl es ja ohne Subjekt gar kein Objekt geben kann. Wie der Behaviorist Burrhus Frederic Skinner freimütig bekannte: “Man kann keine Wissenschaft über einen Gegenstand betreiben, der nach Lust und Laune herumspringt.”8 Und es braucht nicht viel, um diesen analytischen Ansatz normativ umzuwandeln: Es darf nichts geben, was außerhalb des kausal Determinierten liegt. Es ist das Ideal einer Maschine, angewandt auf Menschen, Organisationen und Gesellschaften: In einer Maschine sollten tatsächlich alle Glieder nur das tun, wofür sie von ihrem Schöpfer konstruiert wurden.
Konsequentialistische Ethik
Vom Ideal der Welterklärung und Weltvorhersage als lückenlose deterministische Kausalkette ist es nicht mehr weit zum zweiten Baustein unserer Erklärung: der konsequentialistischen Ethik. Der normale Reflex der vom Konsequentialismus geprägten ethischen Tradition ist auf die Frage gerichtet, welche Risiken es gibt, was schiefgehen könnte, welche unerwünschten Folgen eine Entscheidung hervorrufen könnte und was man tun muss, um diese Folgen zu vermeiden. Ein regelungsfreier Raum erscheint dem Konsequentialismus als ethikfreier Raum.9
Im Feld der Künstlichen Intelligenz begegnen wir dieser Attitüde gleich dreifach – bei den Befürwortern ebenso wie bei den Kritikern. Zum einen begründet die KI ihre Notwendigkeit mit der Unvollkommenheit des menschlichen Handelns. Zweitens kann die KI nicht funktionieren, ohne den leeren Raum lückenlos mit Wenn-dann-Beziehungen zu füllen. Ein „Schaun-mer-mal“ oder gar den kalkulierten Regelverstoß gibt es nicht. Dasselbe begegnet uns drittens aber auch in der Ethik der Künstlichen Intelligenz: Endlose Listen von Risiken und Bedenken und endlose Listen von Regelungen für diese Risiken.10
Im Kontext einer zu Ende gedachten konsequentialistischen Ethik muss man jede Möglichkeit ungeplanter Folgen ausschließen – sonst handelte man verantwortungslos. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass es am Ende kein Handeln mehr gibt, schon gar kein gestalterisch-innovatives, also letztlich kein originär menschliches Handeln mehr. Es dürfte letztlich keine neuen Technologien mehr geben, denn in dem Stadium, in dem eine Technologie selbst noch nicht weiß, was sie ist und sein wird, kann es nicht gleichzeitig jemanden geben, der von außen darauf schaut und weiß, wohin das alles führt. Das Dumme ist nur, dass eine Volkswirtschaft, in der alle Dienst nach Vorschrift tun, nicht mehr das Mehrprodukt erzeugt, aus welchem man einen parasitären Kontrollapparat ernähren kann.
Von der Bürokratie zur Dystopie
Wir sehen, wir brauchen für unseren Erklärungsansatz kein Verschwörungszentrum mit Weltherrschaftsambitionen, keinen diabolischen Dr. No oder Blofeld. Mechanistisches Weltmodell und konsequentialistische Ethik treten im Namen der Wahrheit und des Guten an. Sowohl im Grundsätzlichen als auch im Konkreten wimmelt es nur so von guten Absichten: Wer wollte denn etwas gegen Prüfungsgerechtigkeit, ordentliche Spielplätze, Verkehrssicherheit, Unbestechlichkeit, Eindämmung von Plastikmüll sagen? Man muss dem lückenlosen Netzwerk guter Absichten nur noch ein paar längst auf dem Tisch liegende Elemente hinzufügen, um die Gefahr zu erkennen:
Etwa die Abschaffung des Bargeldes. Das klassische Konzept des Bargeldes lautet, dass der Überbringer einer Banknote den Gegenwert ohne Legitimationsprüfung erhält. Bei der Abschaffung des Bargelds liefen alle Transaktionen über Zahlungssysteme – egal ob von privaten oder staatlichen Dienstleistern betrieben. Spinnen wir es weiter: In den letzten Jahren häuften sich Beispiele, wo Aktivisten Druck auf Banken ausübten, den Kunden die Konten zu kündigen – natürlich aus den ethisch wertvollsten Gründen heraus. Und Banken haben oft genug diesem Druck stattgegeben. Die Logik ist klar: Menschen mit abweichenden Meinungen sollten nicht dieselben Systeme nutzen können wie wir.11
Oder nehmen wir das bedingungslose Grundeinkommen. Lassen wir die Fragen der Finanzierbarkeit und der Arbeitsmotivation hier beiseite. Mir geht es um etwas anderes: Wer heute mit seiner Arbeit Geld verdient, kann behaupten, dass er mit seinen Steuern, Sozialbeiträgen und Gebühren die Sozialsysteme und den Staat finanziert – und sei es nur mit wenigen Euro.12 Das bedingungslose Grundeinkommen dreht hier die Rollen um: Die gesamte Bevölkerung wird in Sold-Empfänger des Staates umgewandelt – so, als hätte der Staat auch nur einen Pfennig, der nicht aus der wertschöpfenden Arbeit der Bürger stammte. Es ist ein veränderter Narrativ: Nicht die Bürger finanzieren den Staat, sondern der Staat finanziert die Bürger. Dafür müssen sie natürlich dankbar sein. Selbstverständlich geschieht das im Namen der sozialen Gerechtigkeit, weil es unzumutbar sein soll, um soziale Unterstützung zu bitten. Dass tatsächlich das bedingungslose Grundeinkommen eine Entwürdigung und Erniedrigung der Bürger ist, spielt keine Rolle. Obendrein sind solche Systeme – wie man am gesetzlichen Mindestlohn sehen kann – eine Einladung zu Populismus und Wählerbestechung. Aber hat man erst einmal solche Systeme und die dazugehörigen Gewohnheiten und Narrative etabliert, dann stellt sich schnell die Frage, ob die Bedingungslosigkeit des Einkommens auch für politisch Missliebige gelten sollte.
Und um ein drittes Beispiel zu nennen: Ich gehörte in der Coronazeit eher zu den Impfdränglern und ich mag auch nicht im Nachhinein über manche Fehler der Anfangszeit oder manche unkonventionellen Wege der Maskenbeschaffung richten. Aber der Begriff der „Impfprivilegien“ gab mir schon damals zu denken. Sich frei bewegen zu können, ist kein Privileg, dass uns von irgendeiner Stelle gnädig verliehen werden muss. Im Gegenteil, jede Einschränkung dieses Grundrechtes muss verdammt gut begründet sein. Und wie sich mehr und mehr herausschält, war es das nicht, sondern es herrschte auch hier der „horror vacui“, die prinzipielle Furcht vor irgendeinem Schlupfloch oder Regelungsdefizit.
Wir brauchen die Liste nicht weiterzuführen – wir sehen, wie schnell man in bester Absicht in totalitären Dystopien landet. Ich muss in solchen Momenten immer an die These Karl Poppers denken, dass die Bedrohung der offenen Gesellschaft nicht von den Bösen, sondern von den Guten kommt.
Wir sehen ein Machtsystem, das nicht an klassische Antagonismen zwischen Kapital und Arbeit erinnert. Wir begegnen vielmehr das Allmachtssystem einer bürokratischen Schicht, die wahrscheinlich selbst davon überzeugt ist, dass sie gar keine Macht hat. Daran ist insofern etwas Wahres, als sie überall auf möglichst objektive Strukturen und Prozesse setzt, bei denen ein Subjekt gar nichts mehr zu entscheiden und zu verantworten hat.13
Es ist auch klar, dass an diesem lückenlosen Netz, welches das gesamte Volk und besonders die gestalterisch und unternehmerisch Handelnden unter Generalverdacht stellt, nichts besser wird, wenn es digitalisiert würde. Im Gegenteil, wir können dankbar sein, dass der ersehnte Effizienzschub noch nicht stattgefunden hat. Wir können dankbar sein, dass die lähmende Verwaltungsschicht noch so ineffizient ist und weder mit besonderen Geistesgaben noch mit überschäumender Arbeitslust ausgestattet ist. Digitalisierte Prozesse erlauben keinen Ungehorsam und keine Abweichung mehr – für nicht erlaubte Optionen kann man einfach nicht mehr die Enter-Taste drücken oder bekommt gleich gar keinen Systemzugang mehr.
Ich habe in diesem Aufsatz bewusst den von politischen Interessen getriebenen Regelungsdrang ausgespart, obwohl er zum Greifen nahe liegt. Ich wollte zeigen, dass man keine bösen Absichten, keine Aufmärsche von SA oder sowjetischen Panzern braucht, um eine freiheitliche Demokratie und menschliche Initiative unter der Fahne des Guten zu ersticken. Wenn wir dieser Entwicklung zum dystopischen Paradies nicht entgegentreten, dann wird die Möglichkeit, zur Wahlurne gehen zu dürften, immer mehr zur Randnotiz. Wobei es auch hier längst Bestrebungen gibt, durch Quoten, Vorgaben für Wahllisten, Bürgerräte und Demokratiefördergesetze „helfend“ einzugreifen. „Allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim“ – für den „horror vacui“ egal welcher Couleur ist es schwer erträglich, dass Wahlberechtigte jeden Alters, jeden Bildungsstandes und jeder Gesinnung gleichermaßen eine Stimme haben und alle vier Jahre unkontrolliert und ohne Begründung ihr Kreuzchen machen dürfen, wo sie wollen.
In Skinners Roman „Walden Two“ scheut der Gründer der der dort geschilderten idealen Erziehungs- und Lebensgemeinschaft nicht vor einem Vergleich mit Gottes Schöpferrolle zurück: Gott sei immer wieder über die von ihm geschaffenen Menschen enttäuscht gewesen. Er dagegen werde von seinen Zöglingen seltener enttäuscht sein als Gott. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 schrieb Bertold Brecht in einem Gedicht: „Nach dem Aufstand des 17. Juni / Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands / In der Stalinallee Flugblätter verteilen / Auf denen zu lesen war, daß das Volk / Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe / Und es nur durch verdoppelte Arbeit / zurückerobern könne. Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“ Das lückenlose Netz der Regelungen sorgt dafür, dass der Staat, der es doch in jeder Hinsicht gut meint, nicht mehr von seinem Volk enttäuscht wird.
Das Gegenmodell einer Ethik, die menschliches Handeln schützt
Wir dürfen beim Bürokratieabbau nicht nur auf bessere Formulare und Prozesse schauen (das müssen wir wahrscheinlich auch), sondern müssen vor allem dem beschriebenen dystopischen Menschenbild, Organisationsbild und letztlich Weltbild entgegentreten. Wir müssen das Ideal des kausalen Determinismus verabschieden. Und wir müssen uns von der konsequentialistischen Ethik freimachen. Wir dürfen uns nicht von den immer neuen Studien einschüchtern lassen, die täglich aufs Neue beweisen, dass wir wieder in irgendeinem Feld schuldig geworden sind und deshalb besonderer Betreuung bedürfen. Wir dürfen uns nicht beeindrucken lassen von den immer neuen Weltuntergangsdrohungen, die angeblich ein lückenloses Eingreifen alternativlos machen. Und schon gar nicht von den immer neuen Verheißungen des Paradieses, welches uns angeblich erwartet, wenn nur alles Böse restlos unterbunden ist.
Für sein Buch „Das Ende des Individuums“ interviewte der französische Philosoph Gaspard Koenig unter anderem einen Guru für Smart Cities und fragte diesen, ob man Smart Cities mit einem Pferd durchqueren könne. Dieser erklärte ihm, dass dies unmöglich sei: In Smart Cities dürften sich nur Verkehrsteilnehmer bewegen, die Teil des vernetzten Systems sind. Dies war einer der Motive für Koenig, im Sommer 2020 mit einem Pferd auf den Spuren Montaignes quer durch Frankreich, Deutschland und Italien nach Rom zu reiten. Am Bodensee wollte er die Fähre von Konstanz nach Meersburg nehmen. Brav reihte er sich morgens mit seiner Stute in die Schlange der wartenden Autos ein. Als er zum Kassierer kam, schaute dieser in seine Tarifliste und fand dort nicht die Kategorie „Pferd mit Reiter“. Vergeblich konsultierte er seine Kollegen. Als er zu Gaspard Koenig zurückkam, sagte er: „Ein Pferd ist nicht in der Liste. Also ist es kostenlos.“14 Diese kleine unscheinbare Anekdote handelt von einem Helden der Freiheit. Für einen Augenblick offenbart sie eine Ethik, die Räume öffnet und offenhält, statt sie zu verschließen.
Neulich war ich mit dem Auto auf einer kurvigen Landstraße unterwegs. Die automatische Verkehrszeichenerkennung zeigte an, dass man 100 km/h fahren dürfe – mit anderen Worten, es gab keine Schilder, sondern nur die allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung außerhalb geschlossener Ortschaften. Weil es kurvig war, fuhr ich tatsächlich nur 70 km/h. Mein Beifahrer erblickte das Zeichen im Display und rief fast empört: „Hier kann man doch keine 100 km/h fahren!“ Es ist die Gegengeschichte zum Fährmann vom Bodensee und ich frage mich: Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der es keine Differenz mehr gibt zwischen dem, was theoretisch erlaubt ist, und dem, was ich für verantwortbar halte? Eine Welt, in der alles, was momentan unmöglich oder risikobehaftet erscheint, automatisch verboten ist? Freiheit wird nicht selten als Abwesenheit von Ethik verstanden, sozusagen als neoliberales Wolfsrevier. Und unter Ethik, zum Beispiel auch unter Unternehmensethik wird dann verstanden, diese Freiheit, diesen leeren Raum und die in diesem leeren Raum entstehende Vielfalt einzugrenzen. Auch hier wird Ethik nur als gutgemeinte Einschränkung der Möglichkeiten, nicht als Auftrag zur Erweiterung der Handlungsräume verstanden.
Verteidigung des leeren Raumes
Eine nur von Bedenken, Risiken und vor allem nur von Einzelbedenken und Einzelrisiken getragene Ethik ist jedoch nicht ethisch – genauso wenig wie eine „data driven decision“ oder eine „alternativlose Entscheidung“ überhaupt eine Entscheidung ist. Wo es nichts zu entscheiden gibt, braucht man keine Entscheidung. Und wo es keine Handlungsräume gibt, braucht man keine Ethik. Der Fährmann vom Bodensee hat eine andere Logik. Es beunruhigt ihn nicht, mit etwas konfrontiert zu sein, das nicht geregelt ist. Sein Reflex ist nicht, das Ungeregelte zur Vermeidung unbekannter Risiken vorsorglich zu unterbinden. Nein, in seiner Ethik gilt: Was nicht geregelt ist, ist nicht nur erlaubt, es ist sogar kostenlos. Das kleine Beispiel steht für eine Ethik der Freiheit, die Handlungsräume öffnet und beschützt. Eigentlich ist der Gedanke nicht neu, sondern gehört zu den Kernelementen unserer Gesellschaftsordnung. Die Demokratie, der gesinnungsneutrale Rechtsstaat, die diskursgeprägte Universität, die Marktwirtschaft sind Beispiele dafür. Oder auch das „Digital HR Manifesto“ des Goinger Kreises.15
Ich plädiere für eine Ethik, die den Handlungsraum verteidigt. Für eine Ethik, die nicht sagt, was man tun muss, um immer garantiert richtig zu entscheiden und zu handeln. Ihr geht es vielmehr darum, was man dafür tun kann, dass man überhaupt handeln kann und etwas zu entscheiden hat. Ich bin überzeugt, dass wir in jeder Hinsicht verarmen, wenn das Wagnis der inneren Unabhängigkeit und der daraus entstehenden Vielfalt durch einen vermeintlich risikolosen Mainstream kanalisiert wird. Wir brauchen eine Ethik, die zum Handeln ermutigt und die verletzlichen Keime gestalterischen Handelns beschützt.
Dabei muss es nicht immer um große Dinge im politisch-gesellschaftlichen Kontext gehen. Kürzlich entdeckte ich eine Serie von Filmen mit dem Titel „Der Letzte seines Standes“. In diesen Filmen, die vorwiegend aus den 90er Jahren stammen, werden alte und vom Aussterben bedrohte Handwerksberufe dokumentiert: Brunnenbauer, Kupferschmied, Goldschläger, Korbmacher, Stukkateur und so weiter – insgesamt sind es über 25. Diese Filme zeigen die Vielfalt und Schönheit handwerklicher Arbeit und die Weisheit der Handwerker. Aber jenseits dieses Nostalgischen wird noch etwas anderes deutlich: Alle diese Handwerke müssen in ihrer Arbeit mit unvollkommenen Materialien umgehen – meistens natürliche Rohstoffe, wie sie eben gewachsen sind. Ebenso auch mit der Unberechenbarkeit der Umstände: der Bodenbeschaffenheit, der Witterung, der Luftfeuchtigkeit und vielem mehr. Ein großer Teil der Faktoren ist nicht genau vorhersagbar. Diese Unvorhersagbarkeit und die Probleme, die daraus entstehen, sind jedoch keine zu vermeidenden Störfälle, die den Handwerker aus der Bahn werfen. Nein, damit umzugehen und aus dem Unvollkommenen und Unberechenbaren trotz aller Widerstände etwas Vollkommenes zu schaffen, das ist der Kern seiner Aufgabe.
Natürlich müssen wir heute Brunnen, Kupferkessel und Schlitten nicht mehr so bauen wie in diesen Filmen. Aber wir dürfen niemals die Fähigkeit verlieren, mit Unvorhergesehenem, nicht Planbarem, einfach mit der Offenheit der Zukunft umzugehen. Die Offenheit der Zukunft ist kein Erkenntnis- oder Regelungsdefizit. Sie ist unser Leben. Und dazu gehören auch Irrtum und Scheitern. Der irische Wirtschaftsphilosoph Charles Handy schrieb: “Die Sünde ist die andere Seite der Medaille der Freiheit. Eine Welt ohne Sünde wäre eine Welt ohne Wahlmöglichkeiten.”16 Der deutsche Philosoph Robert Spaemann äußerte: “Keine Rechtsordnung ist so etwas wie ein Reich Gottes, in dem alle Widersprüche aufgehoben sind und das deshalb den Charakter der Unzerstörbarkeit hat. Keine Rechtsordnung kann sich selbst definitiv garantieren. Denn das Gemeinsame, das in ihr Gestalt annimmt, ist selbst Inhalt des Bewusstseins jedes einzelnen Mitglieds dieser Ordnung, so dass jedes Mitglied diese Gestalt infrage stellen und die Regeln des Konfliktaustrags zum Inhalt des Konflikts machen kann. Das Kraut, das dagegen gewachsen wäre, müsste das Personsein abschaffen und Menschen in vernünftige Tiere verwandeln. Personen sind und bleiben gefährlich.”17 Friedrich Nietzsche schrieb über die Versuche, das Paradies auf Erden zu schaffen: „Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: Damit machen sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Haustiere.“18
Der Autor
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Er ist Mitbegründer des renommierten Goinger Kreises und führt eine Vistage-Regionalgruppe von Unternehmern. 2023 erschien sein Buch „Methode Mensch oder die Rückkehr des Handelns“ und 2024 unter seiner Mitwirkung die „Liebeserklärung an die Arbeit“ des Goinger Kreises.
Fußnoten
1 „VERORDNUNG (EU) 2018/848 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 30. Mai 2018 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen sowie zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates“
2 Crawford, Matthew B., Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen, Berlin 2016 S.79:
3 Michael Spehr / Johannes Winterhagen, Ding Dang Dong in jedem Auto, F.A.Z. 11. Juni 2024
4 Jörg Bogumil / Andreas Voßkuhle, Wie Bürokratieabbau wirklich gelingt, F.A.Z. 8.2.2024
5 Joachim Bauer, Realitätsverlust. Wie KI und virtuelle Welten von uns besitz ergreifen – und die Menschlichkeit bedrohen, München 2023 S.20
7 Pierre-Simon Laplace, Essai philosophique sur les probabilités 1814
8 Skinner, Burrhus Frederic, Walden Two, Indianapolis 2010 (1948) S.242:
9 Als Beispiel des Konsequentialismus siehe das an sich wunderbare Buch von Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1989
10 Siehe zum Beispiel Bartneck, Christoph / Lütge, Christoph / Wagner, Alan / Welsh, Sean, Ethik in KI und Robotik, München 2019
11 Hakon von Holst, „De-Banking“: Der lautlose Angriff auf oppositionelle Medien, Multipolar 24.6.2024
12 Das war übrigens auch der Grundgedanke der gesetzlichen Sozialversicherung in Deutschland ab 1878: Auch wenn es per Umlage zwischen den Generationen funktioniert, bekommen die Menschen kein Gnadenbrot, sondern das, was sie selbst einbezahlt haben.
13 Vgl. hierzu (bezogen auf die Personalauswahl) Jürgen Deters / Axel Klopprogge, Personalauswahl mit Akteuren – Beziehungsentscheidungen brauchen Subjektivität und Intuition, Wirtschaftspsychologie 25 (2024)
14 Koenig, Gaspard, Notre vagabonde liberté. À cheval sur le traces de Montaigne, Paris 2021 S.417
15 https://www.digital-hr-manifesto.org
16 Charles Handy, The Age of Unreason, London 1989 S.205
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17 Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, Stuttgart 2019 S.231
18 Zitiert nach Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt am Main 1999 S.38