Hör doch auf zu Schreiben! Henryk M. Broder attackiert Ingo Schulze
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Von THOMAS WAGNER, 3. August 2012 –
Wer meint, dass es in der Welt nicht gerecht zugeht, soll gefälligst die Klappe halten. Zumal dann, wenn er daran etwas ändern will, von Berufs wegen
Am Montag erschien Ingo Schulzes Streitschrift „Unsere schönen neuen Kleider”. Foto: © Caren Müller |
Schriftsteller ist und in einem früheren Leben noch dazu DDR-Bürger war. So jedenfalls lässt sich in aller gebotenen Kürze zusammenfassen, was der Schreiber Henryk M. Broder dieser Tage zum gerade erschienen Buch des Romanciers und Essayisten Ingo Schulze von sich gab. Unter dem Titel Unsere schönen neuen Kleider enthält der beanstandete Text die überarbeitete und erweiterte Fassung einer vielbeachteten Rede, die der Schriftsteller am 26. Februar in Dresden gehalten hatte.
Darin geht er der Frage nach, wie Börsen und Finanzmärkte eine solche Übermacht bekommen konnten, ohne dass es Gegenwehr gab. „Wir sind eingelullt worden und haben uns eingelullt, wir sind gar nicht mehr gewohnt, über Alternativen zum Status quo nachzudenken“, sagt Schulze im Gespräch mit dpa. Die aber sieht er als dringend notwendig an, wenn die Demokratie noch eine Chance haben soll. Er will sich nicht damit abfinden, dass die Spielregeln der Märkte als etwas Objektives genommen werden, woran sich die Politik auszurichten habe: „Der Mehrheit unserer politischen Vertreter ist das Selbstbewusstsein abhandengekommen. Ihr Selbstverständnis lässt sie alle Anstrengungen unternehmen, um die Demokratie marktkonform zu machen, anstatt die Märkte demokratiekonform zu gestalten.“
Ausgehend von Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider geht Schulze der Frage nach, warum die Bürger bereit sind, die zunehmende Polarisierung in Arm und Reich, den Abbau des Sozialstaats und die Vernachlässigung öffentlicher Bereiche wie Bildung, Gesundheit, Kunst und Verkehr einfach hinzunehmen. „Während den einen jeder Cent vorgerechnet wird, werden auf der anderen Seite in Windeseile Milliardenbeträge aus dem Ärmel gezaubert, für die im Zweifelsfalle das Gemeinwesen geradezustehen hat“, schreibt er in seinem Buch. Und er verdeutlicht anschaulich, dass die wahre Konfliktlinie in Europa nicht zwischen den Nationen gezogen werden darf, sondern sich vielmehr „oben und unten“ gegenüberstünden. Das aber will Broder nicht gelten lassen. Schließlich handelten die großen Unternehmen ja jetzt schon ausnehmend menschenfreundlich. „Inzwischen wird man eher eine Jungfrau auf St. Pauli als irgendein Produkt finden, dessen Hersteller sich nicht der sozialen Gerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und dem Umweltschutz verpflichtet fühlen.“ (1)
Während Schulze die Propagandasprache der Profitmaximierer akribisch seziert, gefällt sich Broder als ihr Nachbeter. Aus ihm spricht eine marktradikale Ideologie, deren Auswirkungen auf das geistige Klima Schulze in seinem Buch wie folgt beschreibt: „Es ist erschreckend, mit welch untauglichen Kriterien öffentliche Diskussionen geführt werden und wie unpolitisch sie sind.“ Der Schriftsteller plädiert dafür, sich von der neoliberalen „Sachzwang-Ideologie und ihren ‚alternativlosen Entscheidungen’ zu emanzipieren“ und veranschaulicht, welchen Beitrag das literarische Schreiben in dieser Hinsicht zu leisten vermag: „Trifft man das Zauberwort, erscheint einem die Welt in einem gewissen Maße verständlich und damit auch veränderbar.“
Schulze ruft in seinem Buch dazu auf, sich wieder auf die demokratischen Rechte zu besinnen und Mitsprache einzufordern. „Wir müssen über die Geste und die symbolische Handlung hinaus unseren Willen gewaltlos kundtun, und dies – wenn nötig – auch gegen den Widerstand demokratisch gewählter Vertreter“, schreibt er. Broder dagegen gibt vor, die Welt nicht verändern, sondern nur beschreiben zu wollen. Am Ende enthüllt er jedoch unfreiwillig, dass seine vorgeblich politische Abstinenz nicht einem etwa von einem hehren journalistischen Berufsethos herrührt, sondern nichts als eine plumpe rhetorische Finte ist. Während Schulze die Möglichkeit, dass sein Schreibcomputer das im Kongo unter grauenhaften Bedingungen gewonnene Material Tantal enthält, zum Anlass nimmt, um über die Veränderung der dafür verantwortlichen Bedingungen nachzudenken, empfiehlt ihm Broder: „Da hilft dann aber nur eins: Aufhören zu schreiben.“ (2) Das ist nicht unpolitisch, sondern reaktionär. Dass Ruhe die erste Bürgerpflicht sei, war in Deutschland stets die Formel der Antidemokraten.
Abo oder Einzelheft hier bestellen
Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.
(1) http://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article108402883/Wie-uns-die-Zukunft-abhanden-kam.html
(2) ebd.