Futebol
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Von WOLF GAUER, 7. Juli 2014 –
Die brasilianischen Eliten des späten 19. Jahrhunderts, urbane Nutznießer des auf fernen Fazendas erschufteten Kapitals, konnten nicht widerstehen: Da gab es plötzlich in Rio und São Paulo erwachsene Weiße zu bestaunen, die verschwitzt und mit Gebrüll hinter einem Ball herrannten, nur um diesen schließlich in ein Viereck zu befördern: Angestellte nobler britannischer Firmen und Banken beim „football“. Drum musste dieser schleunigst her. Schließlich kam er aus England, wo damals noch der bon ton und die Kaffeebörse zu Hause waren. Auch witterte man mehr Vergnügen als bei den vorherigen Importen Kricket und Tennis. Endlich durften sich auch feine Leute, die über die hergebrachten indianischen und afrikanischen Sportarten Brasiliens die Nase rümpften, lärmend anrempeln. Das vorkolumbianische Rückschlagspiel Peteca (Indiaca) oder die brasilianische Kampfakrobatik Capoeira überließ man dem Volk, vor allem den Schwarzen. Niemand ahnte, dass die alsbald (1904) in Paris gegründete und in Zürich ansässige Fédération Internationale de Football Association (FIFA) aus dem unschuldigen Pläsier ein globales Macht- und Finanzinstrument machen sollte. Afro-Brasilianer (fast die Hälfte der Nation) wurden zunächst nicht zugelassen, es sei denn schamhaft aufgehellt mittels Reispuder oder Schminke. Der „schwarze“ Fußball rollte dagegen am armen Stadtrand. Unverwechselbar pfiffig und kreativ wurde „futebol“ der Volkssport schlechthin, elementarer Faktor der afro-brasilianischen Kultur und ihrer Emanzipation. Selbst der aktuellen brasilianischen Außenwirtschaft: Allein 2013 wurden 1 486 Fußballsöldner exportiert, Ressourcen für die elitären Clubs der reichen Länder. Nur drei der brasilianischen WM-Spieler sind noch in der Heimat beschäftigt. „Corinthians“, der erste Arbeiter-Sportverein von São Paulo (nur der Name war noch englisch) nahm auch als erster schwarze Spieler auf (1914) und gilt bis heute als prolo. Nicht dagegen seine supermoderne WM-Arena, Schauplatz des Eröffnungsspiels, bei dem Proletarier für die billigsten Plätze rund ein Viertel des gesetzlichen Mindestlohns von 250 Euro hinblättern mussten. Die beliebten kostenlosen Großbildprojektionen im Stadtgebiet hatte die FIFA auf gerade vier reduziert und mittels stählerner Sichtblenden und einer Liste von zwanzig Verboten abgeschottet. Wer wie ich etwas zum Knabbern oder Mineralwasser mitbrachte, durfte da nicht rein, beides war gefälligst und teuer im FIFA-Pferch zu erwerben. Trotz strikten Alkoholverbots wird in den Stadien Bier verkauft, jedoch ausschließlich „Budweiser“ des belgischen FIFA-Sponsors Anheuser-Busch-InBev. Nach eigenen Aussagen erwartet der Hersteller von seinem FIFA-Deal eine Umsatzsteigerung im zweistelligen Prozentbereich. Soweit nur eine der Machenschaften der hypertrophen, vorgeblich dem Sport verpflichteten Institution, die sich über die Gesetzeslage, die wirtschaftliche und kulturelle Identität der Gastländer so kaltschnäuzig hinwegsetzt wie die Wall Street oder der Internationale Währungsfonds (IWF). Wie könnte eine WM ohne FIFA aussehen, Fußball im Interesse des Sports, der Individualität seiner Gastgeber und nicht der globalen Großkonzerne? Lichtblick: Am 7. Juli steigt in São Paulo die „WM der Straße“ mit 300 Jugendlichen aus armen Gemeinden von 24 Ländern. Eine ebenfalls inoffizielle „WM der Flüchtlinge“ wurde von Immigranten aus Haiti gewonnen. Die Gewinner teilten sich eine kleine Schokoladen-Dublette des WM-Pokals, jeder durfte mal beißen. Bittere Schokolade angesichts der Tatsache, dass der Glanz der FIFA-Show zu einem großen Teil privilegierten Import-Cracks aus ehemaligen Kolonien oder nach wie vor wirtschaftlich kolonisierten Ländern zu danken ist. Die FIFA rechnet laut offiziellen Angaben mit 3,3 Milliarden Euro WM-Einnahmen (Handelsblatt), steuerfrei, versteht sich. Die nach den Kosten verbleibenden 1,68 Milliarden fließen angeblich ins Fußball-Business zurück – an wen auch immer. Brasilien erhält wie Südafrika eine Pauschale von gerade mal 73 Millionen Euro. Brasilien, heißt es, habe sich der FIFA angedient und nicht umgekehrt. In der Tat hatte Präsident Luiz Ignácio Lula da Silva 2007 das Turnier mit breiter Zustimmung ins Land des fünffachen Weltmeisters geholt und mit dem Segen der brasilianischen Baulöwen und vieler deutscher Zulieferer und Dienstleister den Bau von zwölf neuen, FIFA-genehmen Stadien zugesagt. Lula hatte 35 der 200 Millionen Brasilianer vom allerärgsten Elend und das Land vom Verschuldungszwang des IWF befreit. Man war einer der fünf BRICS-Staaten, Wirtschaft und Konsum boomten, Industrie und Banken kamen mit der verteufelten Arbeiterpartei glänzend zurecht. Sie hatte zwar soziale, aber keine systemischen Veränderungen auf der Agenda und wollte keinem ans Eingemachte. Nur wenigen dämmerte, dass der brasilianische Steuerzahler ungefragt und nach dem Motto „der Staat zahlt, FIFA und Privatwirtschaft kassieren“ rund 85 Prozent der WM-Gesamtkosten zu berappen hat und die neu geschaffene Infrastruktur post festum in privatwirtschaftlicher Hand landen würde – neben den WM-Stadien auch die Flughäfen, Mautstraßen und Verkehrsmittel für die Olympischen Spiele 2016 in Rio. Die Flughafen München GmbH zählt zum Konsortium der zukünftigen Betreiber des Flughafens von Belo Horizonte, der drittgrößten Stadt Brasiliens. Allein der überhastete Bau der Stadien forderte acht Todesopfer. Die Hinterbliebenen hoffen auf ein Mahnmal. Bislang ohne Aussicht auf Finanzierung, aber Wasser auf die Mühlen der rund 5 000 erzkonservativen Familien, die zwar die Hälfte des brasilianischen Brutto-Inlandsprodukts (PIB 2013: 2,25 Mrd. US-Dollar) kontrollieren, aber der hauseigenen WM ein totales Fiasko prophezeit hatten: organisatorisches Chaos, soziale Unruhen, Aufstände. Die New York Times konstatierte dagegen überrascht – mittels eigens installierter Kameras – Frieden, gute Ordnung und den authentischen Patriotismus einer begeisterten, hochgestimmten Bevölkerung. Das Blatt betonte die (unvermutete?) Solidarität zwischen den Militärs auf den Tribünen, den Sportlern und ihren Fans. Indizien für den inneren Zusammenhalt eines Landes von kontinentalen Dimensionen (8,5 Mio. qkm), dessen Destabilisierung und Ressourcen seit Jahren auf der Wunschliste des Imperiums stehen. In diesem Zusammenhang ist das Vorleben der derzeitigen US-Botschafterin in Brasilia, Liliana Ayalde, zu erwähnen. Sie wurde 2008, damals Direktorin von USAID in Bolivien, wegen konspirativer Aktivitäten des Landes verwiesen. In der Folge wirkte sie als amerikanische Geschäftsträgerin in Paraguay. Die systematische Vorbereitung und Realisierung des Staatsstreichs gegen Präsident Fernando Lugo („Monsanto-Rio-Tinto-Coup“, 2012) fallen in ihre dortige Amtszeit. Die massiven Proteste der brasilianischen Zivilgesellschaft vor und während der Fußball-WM und deren autoritäre Repression wurzeln jedoch tiefer. Sie sind vor dem Hintergrund des heißen Juni 2013 zu sehen. Ersten Protesten gegen die Tarife der Verkehrsbetriebe folgten damals lange Wochen disziplinierter, gewaltloser Demonstrationen. Vor allem Hunderttausender junger, auch parteiloser Menschen, die einfach für mehr Austausch zwischen Volk und Regierung auf die Straße gingen. Für praktische Demokratie statt Vorbeiregieren am mündigen Wähler. Präsidentin Dilma Vana Rousseff verstand und versprach politische Reformen, die indes auf sich warten lassen. Ähnlich interpretiert der Historiker Marcello Badaró Barros die aktuellen Vorgänge: „Die Art und Weise, wie Regierung und FIFA diese WM vorantrieben, beachtete weder die Notwendigkeit eines Dialogs mit der Bevölkerung noch die Realität unserer Städte (…). Die armen Bevölkerungsgruppen (…) erlitten Unrecht vonseiten der ökonomischen Mächte, die sich des Ausrichtungsprozesses der WM bemächtigten“ (Übs. Autor). „Unrecht“ meint die Vertreibung der Obdachlosen und Straßenhändler, Enteignungen und Abriss ganzer Häuserzeilen, Repression des Versammlungsrechts und gewaltsame Ausschreitungen der Polizei. Der Rückfall in Praktiken der Militärdiktatur führte wiederum zur Gründung verschiedenster neuer Oppositionsgruppen. Die Präsidentin und Erbin von Lulas WM-Arrangement wird sich ihnen vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober stellen müssen. Trotz entsprechender Umfrageverluste ließ sich Dilma Rousseff aber nicht zu solch läppischer Hanswursterei herab wie sie eine dreigeknöpfte deutsche Bundeskanzlerin der peinlich berührten Ehrentribüne zumutete: tollpatschiges Gehüpfe und aufgesetztes Geschau für Springers Bild und ihre öffentlich-rechtlichen Steigbügelhalter.
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Der Beitrag erschien in kürzerer Form in Ossietzky – Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft. |