Zeitfragen

„Einer der führenden Historiker der Moderne“ - Zum Tod von Eric Hobsbawm

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Von SUSANN WITT-STAHL, 3. Oktober 2012 –

Das Kommunistische Manifest war der Kompass seines langen Lebens. Der britische Historiker Eric Hobsbawm trat bereits in jungen Jahren der kommunistischen Partei in Großbritannien bei. Wie er stets betonte, hielt er an den Erkenntnissen des historischen Materialismus, der Kritik der politischen Ökonomie und dem Weltveränderungspostulats des Marxismus fest. Hobsbawm starb am 1. Oktober im Alter von 95 Jahren. Er galt als einer der bedeutendsten Geschichtsforscher, Sozial- und Wirtschaftshistoriker der Gegenwart und wichtigsten Intellektuellen Großbritanniens.

Eric Hobsbawm – einer der bedeutendsten Historiker – starb im Alter von 95 Jahren in London.

Hobsbawm wurde 1917 im ägyptischen Alexandria – damals noch britisches Protektorat – geboren. Er stammte aus einer jüdischen Familie. Sein Vater, ein Kolonialbeamter, war Brite, die Mutter Österreicherin. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Wien. Nach dem frühen Tod der Eltern – der Vater starb 1929 an einem Herzinfarkt, die Mutter 1931 an Tuberkulose – zog er zu seinem Onkel nach Berlin. Dort wurde er Mitglied im Sozialistischen Schülerbund, einer Jugendorganisation der KPD, mit der er 1933 erstmals in Kontakt kam, nur wenige Tage vor der Machtergreifung Hitlers. „Es war unmöglich, sich von der Politik fernzuhalten, die Monate in Berlin machten mich zu einem lebenslangen Kommunisten“, erinnerte sich Hobsbawm. „Ich habe als junger Mensch zwischen Schule und Straßenkämpfen mitbekommen, was es bedeutet, wenn Arbeitslosigkeit sich durch die Gesellschaft frisst.“ Er habe die sich verbreitende Angst gefühlt.  „Mir war damals klar, dass wir auf der ,Titanic‘ sind und dass wir bald den Eisberg rammen würden.“

Der Teenager musste vor den Nazis nach England fliehen. Dort trat er 1936 der Communist Party of Great Britain (CPGB) bei und engagierte sich in der Communist Party Historians Group, die an einer Geschichtsschreibung „von unten“ arbeitete. Seine Mitgliedschaft in der CPGB dauerte bis zu deren Zusammenbruch im Jahr 1989. Hobsbawms Festhalten an der kommunistischen Idee hatte aber auch darüber hinaus Bestand. Soziale Ungerechtigkeit müsse immer noch angeprangert und bekämpft werden, so seine Begründung, „von selbst wird die Welt nicht besser“.

Hobsbawm war zunächst als freier Publizist tätig und verfasste in großer Zahl umfangreiche Abhandlungen über die Arbeiterbewegung, soziale Kämpfe und Aufstände. Aber im Wissenschaftsbetrieb Großbritanniens hatte er es die ersten Jahre schwer. 1947 bekam er eine Stelle im Fachbereich Geschichte am Birkbeck College an der Universität London, dessen Präsident er von 2002 bis zu seinem Tod war. Ab 1949 lehrte er auch am King‘s College in Cambridge.

Aber das konservative Establishment grenzte ihn aus und versperrte ihm die Karriere in den renommierten Institutionen. Der Weg zum Professorentitel wurde ihm erschwert. Hobsbawm nannte die Ablehnung, die er und andere Marxisten überall zu spüren bekamen, eine abgeschwächte Form des McCarthyismus: „Man kommt zehn Jahre nicht vorwärts, aber keiner wirft einen hinaus.“ In den 1960er-Jahren dann der Durchbruch. Er erhielt einen Lehrauftrag in Stanford. 1971 wurde er in die American Academy of Arts and Sciences berufen.

1962 hatte er mit seinem Band über das 19. Jahrhundert Zeitalter der Revolution (1789 bis 1848) internationale Beachtung erlangt. Zwei weitere Bände über das Zeitalter des Kapitals (1848 bis 1875) und Zeitalter des Imperialismus (1875 bis 1914) folgten 1975 und 1987. 1994 reichte er mit dem Zeitalter der Extreme noch die Geschichte des 20. Jahrhunderts nach – vom Ersten Weltkrieg bis zur Auflösung der Sowjetunion 1991.

Was lange im Verborgenen blieb: Hobsbawm war ein ausgewiesener Musikexperte,  glühender Jazz-Liebhaber und veröffentlichte unter einem Pseudonym zahlreiche Rezensionen.

1982 wurde Hobsbawm emeritiert. Er blieb aber Gastprofessor an diversen Universitäten, beispielsweise in der New School for Social Research im Political Science Department.

Er verstarb im Royal Free Hospital in London. Dort war er zuvor wegen einer Lungenentzündung behandelt worden. Seit einiger Zeit litt er an Leukämie.  „Er kämpfte viele Jahre ganz leise gegen seine Krankheit, ohne Aufregung und Trara. Bis zum Ende tat er, was er am besten konnte. Er beschäftigte sich weiter mit dem aktuellen Zeitgeschehen. Es lag immer ein Stapel Zeitungen an seinem Bett”, berichtet seine Tochter Julia. Trotz seiner schweren Erkrankung hat er vor wenigen Wochen noch einen Nachruf auf die Soziologin Dorothy Wedderburn  für den Guardian geschrieben – die letzte Veröffentlichung seines reichen publizistischen Lebens.

Im hohen Alter nahm Hobsbawm noch rege Anteil am politischen Geschehen. „Der 15. September 2008, der Tag, an dem die Lehman-Bank zusammenbrach, wird den Lauf der Geschichte mehr verändern als der 11. September 2001, als die Türme des World Trade Centers zusammenbrachen“, sagte er vor drei Jahren dem stern in einem Interview. „Wir Historiker schreiben die Verbrechen und den Wahnsinn der Menschheit auf, wir erinnern an das, was viele Menschen vergessen wollen. Aber fast nichts wird aus der Geschichte gelernt“, lautete ein Fazit seines wissenschaftlichen Schaffens. „Das rächt sich nun. In den letzten dreißig, vierzig Jahren wurde eine rationale Analyse des Kapitalismus systematisch verweigert.“ Dessen Ende wollte Hobsbawm so gern noch erleben. „Auch der Kapitalismus, egal, wie zäh er ist und wie sehr er auch in den Köpfen der Menschen als etwas Unabänderliches erscheint, er wird verschwinden, früher oder später.“

Als politischer Aktivist war Hobsbawm nicht unumstritten – vor allem unter britischen Kommunisten. „Er war einer der talentiertesten Intellektuellen der CPGB, und sein beeindruckendes historisches Gesamtwerk gilt noch immer als wichtiges Gegenstück zur beschönigenden offiziellen Geschichtsschreibung“, sagt Paul Demarty, Redakteur der kommunistischen Zeitung Weekly Worker. Aber Demarty und seine Genossen kritisieren auch die fehlende Distanz Hobsbawms zum Stalinismus. „Diese Einstellung führte ihn schließlich in das Lager der ,Eurokommunisten‘, die die CPGB liquidieren wollten und sich als linksliberales Grüppchen an den politischen Mainstream hängten. Dabei gingen Hobsbawm und seine Genossen viele Bündnisse mit dem rechten Flügel der britischen Sozialdemokratie ein und unterstützten zum Beispiel unkritisch Neil Kinnock, den damaligen Chef der Labour-Party.“

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Auch die würdigt Hobsbawm. „Seine historischen Werke brachten hunderttausenden Menschen Jahrhunderte britischer Geschichte näher“, sagte der gegenwärtige Labour-Vorsitzende Ed Miliband. „Er holte die Geschichte heraus aus dem Elfenbeinturm und hinein in das Leben der Menschen.“

Unter Wissenschaftlern weltweit wird Hobsbawms Tod als großer Verlust empfunden. „Was ist das höchste Verdienst, das man einem Historiker nachsagen kann? Dass er eine geschichtliche Ära in einer Weise erfasst hat, dass unsere Wahrnehmung dieser Ära ohne seine Forschungsleistung nicht mehr denkbar ist. Das darf von Eric Hobsbawms Erforschung der Grundkoordinaten der Moderne behauptet werden“, erklärte der israelische Historiker und Philosoph Moshe Zuckermann von der Universität Tel Aviv gegenüber Hintergrund. „Dass er dabei dem Marxismus sein geistiges Leben lang treu geblieben ist, sagt einiges über die Bedeutung des Marxismus aus, nicht minder aber auch über diesen genialen Historiker“. Noam Chomsky sagte der Redaktion: „Eric Hobsbawm war ohne Frage einer der führenden Historiker der Moderne, auch ein wundervoller Mensch und viele Jahre ein Freund. Er wird schmerzlich vermisst.“

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