Ein „Rosenmorgen“
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Unterwegs in Syrien. Ein Reisebericht Von MARIE-ANGE PATRIZIO, 24. März 2016 – Sich im Dickicht der Nachrichtenvielfalt ein Bild von der Situation im vom Krieg zerrissenen Syrien zu machen, erscheint dem Beobachter aus der Distanz nahezu unmöglich. Vor-Ort-Berichte sind dabei, in all ihrer Subjektivität, eine hilfreiche Quelle. Deshalb veröffentlichen wir – übersetzt von Sabine Brand – einen Reisebericht der in Marseille lebenden Psychologin und Übersetzerin Marie-Ange Patrizio. Vom 3. bis zum 17. Oktober 2015 bereiste sie mit zwei Begleiterinnen Syrien, ihre Eindrücke fasste in einem Reisetagebuch zusammen. Das Geschilderte bietet einen Blick auf das Geschehen, der eine Gegenrechnung zu dem gängigen Narrativ eines „demokratische Rebellen“ bekämpfenden „blutrünstigen Regimes“ aufmacht. „Dieser Bericht ist nicht Reportage eines ‚Sonderbeauftragten’, sondern einer Reisenden, Psychologin im Ruhestand, die ihre Berufserfahrung nutzbringend eingebracht hat und sich Zeit nahm, zu beobachten und zuzuhören – und zu antworten. Ohne einem Zeitungsverleger oder einem Parteisekretär Rechenschaft zu schulden“, erklärt Marie-Ange Patrizio. – . – . – . – . – Für eine Einwohnerin von Marseille ohne Auto fängt eine Reise nach Syrien an der Haltestelle von Bus Nr. 12 Richtung „Écoures“ an, Ausstieg an der Haltestelle „Camoins les bains“ und dann die Suche nach der Villa Les Cèdres im Domaine des Sources. Einige hundert Meter weiter klopft man an die Tür des Konsulats der Arabischen Republik Syrien (vormittags geöffnet): Man erhält das Formular zum Ausfüllen in zweifacher Ausfertigung (…) sowie die Liste der geforderten Anlagen: zwei Fotos, 60 Euro in bar (…), Einkommensnachweis. Diese Belege werden mit dem Pass eingereicht, er kann etwa acht Tage später zusammen mit dem Visum wieder abgeholt werden. Das ist alles. Zu diesem Zeitpunkt, wo es keine Warteschlangen an der Tür des Konsulats gibt, hat es mich weniger als zehn Sekunden gekostet, das Visum abzuholen. Also: Man lasse sich nicht beeindrucken von den bedrohlichen Falschmeldungen der Webseite des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und den gleichlautenden Gerüchten in unseren Medien. Zurzeit ist es wegen des seit etwa vier Jahren andauernden Embargos des Westens gegen die Arabische Republik Syrien nicht möglich, von Frankreich und anderen EU-Ländern aus ein Flugzeug direkt nach Damaskus oder in eine andere syrische Stadt zu nehmen. Wir hatten beschlossen, über Beirut zu reisen, hin und zurück 465 Euro (über Paris CDG), wenn man einige Wochen im Voraus bucht. Ein Taxifahrer, den meine Begleiterin R. kennt, erwartet uns am Flughafen; voller Vertrauen fahren wir los. Diese Details sind zurzeit wichtig für eine Reise innerhalb Syriens: die Ortsveränderungen von einem Punkt des Gebietes zum nächsten absichern. Man kann offenbar auch ein Sammeltaxi oder einen Bus nehmen, riskiert dann aber, an den Straßensperren (von den französischen Kriegsreportern als Checkpoints bezeichnet) und Grenzposten aufgehalten zu werden. Die Anweisung an uns: im Falle möglicher Fragen und Verhandlungen schweigsam zu sein und sich auf den Taxichauffeur und auf R. zu verlassen. (…) Wir kommen an einer ganzen Reihe Straßenblockaden vorbei, die ich nicht gezählt habe. An manchen Posten nah der Grenze sieht man einige kleine zusammengerollte Scheine (von 100 Syrischen Lira) verschwinden – Korruption? Ja. Ich habe die Scheine gesehen, sie entsprechen einigen Euro für jeden von uns dreien, zwei davon Französinnen, für vielleicht drei oder vier „Beschützer“. Einige würden das als Schutzgeld bezeichnen, ein Schutzgeld, das sie teuer zu stehen kommen könnte und uns fast grotesk erscheint, denn die Höhe des Betrages lohnt nicht das Risiko, sich als Mafiosi zu versuchen … Mafia oder aktuelle Gehaltsmisere? Glücklicherweise praktiziert nicht jeder diese Selbstbereicherung auf Kosten der Besucher. Nichts wirklich Fettes, vor allem nicht für Ausländer (die an andere Korruptionslevel gewöhnt sind) – aber das ist kein Grund, stillschweigend darüber hinwegzugehen. Wir setzen unseren Weg durch die nächtlichen Hügel, die zu kleinen Bergen werden, fort mit immer weniger Menschen auf den Straßen und in den Dörfern, durch die wir kommen. Der Chauffeur fährt sehr schnell und hört dabei Musik, an jeder Fahrbahnschwelle, die er gut zu kennen scheint, obwohl es sehr viele sind, bremst er im letzten Augenblick. Bremsschwellen und Straßenblockaden verlängern unsere Fahrzeit sehr, trotzdem wissen wir es zu schätzen, dass wir für Kontrollen angehalten werden: Sie bedeuten eine (teilweise) Gewährleistung unserer Sicherheit auf der Fahrtstrecke. Allerdings sind die Kontrollen nicht immer sorgfältig. Gegen Mitternacht kommen wir in dem Dorf an, wo wir erwartet werden; wir bezahlen unser Taxi – im Gegenwert von etwa 120 Euro, wenn ich mich recht erinnere: zu dritt, für knapp 150 Kilometer bei Nacht, alles inklusive. Unsere Gastgeber haben eine köstliche Mahlzeit zubereitet, eine Art Hähnchenragout auf Schmelzkartoffeln mit allen Sorten von Kräutern und Ingwer gewürzt. Am Sonntagmorgen wecken uns die Glocken in dem überwiegend christlichen Dorf. Willy, der jüngste Sohn unserer Gäste, guckt Tom und Jerry im Fernsehen: „Hanna (von Hanna-Barbera) stammte aus Syrien“, erzählt mir B., sein Vater. Und dann gehen wir draußen kleine (Jagd-)Hunde anschauen, neben dem Granatapfelbaum, den Feigen- und Quittenbäumen, deren Früchte ausgezeichnet sind. B. kommt mit einem Netz, gefüllt mit 18 Wachteln, zurück. Er jagt etwas weiter entfernt in den Bergen, allein mit seinem Hund … In dieser Gegend weiß jeder, wo es gefährlich ist, und dass die Gefahr auf bestimmte Dörfer beschränkt ist. Und dass diese Dörfer diejenigen sind, wo die Mehrheit der Einwohner seit Beginn der Krise bewaffnete Gruppen aufgenommen hat. Sonst hätten diese „Rebellen“ in die Gebiete dort nicht eindringen, sich nicht einrichten können und nicht die Übergriffe auf die Menschen, die in ihre Nähe kommen, durchführen können. Seit Monaten gibt es offensichtlich keine Sniper mehr außerhalb dieser Dörfer, sie entfernen sich nicht allzu weit von ihren Nestern. Also ist es möglich – und vertretbar –, auf die Jagd zu gehen und Wachteln mitzubringen, um eine Tischgesellschaft am Sonntag zu beköstigen. Sie werden in den Gefrierschrank gepackt und etwas später für die Mahlzeit zwischen 14 und 15 Uhr gerupft: Gebraten sind sie köstlich. Wir lassen uns Zeit, miteinander bekannt zu werden, so wie es sich gerade ergibt – R. übersetzt nach allen Seiten. Der zweite wichtige Punkt: Es ist wirklich schade, wenn man keinen vertrauten syrischen Freund hat, der die Konversationsbruchstücke, vertraute und manchmal intime Bestandteile, übersetzt. Denn dieser tägliche Austausch im Kleinen erweist sich als gute Informationsquelle und ist zum Verständnis der politischen Situation in Syrien genauso kostbar wie die offizielleren Interviews, die wir noch mit interessanten Persönlichkeiten führen werden. Die Preise der Essenszutaten (die festen Preise, festgesetzt durch die Regierung), die Schwierigkeiten – oder auch nicht – der Beschaffung, der Schwarzmarkt, die Rationierungen – oder auch nicht – von Strom, Gas und Wasser, die Schule, die Hausaufgaben und Lehrinhalte, das Funktionieren der Verwaltung, des Wirtschaftslebens, der öffentlichen Sicherheit usw.: All dies ist Thema in der Küche mit den Frauen des Hauses und mit denen, die von Zeit zu Zeit dazukommen, um zu sehen, wie es läuft. (…) Resümee: Das Leben ist seit Beginn der Krise sehr viel teurer geworden – multipliziert mit vier, bei den Nahrungsmitteln mit sechs – vor allem wegen der Zerstörungen, wegen des Embargos, des Handels und des Schmuggels. Wie überall haben die Menschen auf dem Lande vielleicht weniger gelitten als in den Städten, wegen ihrer Gärten, dank der Tierhaltung, durch familiäre und dörfliche Solidarität, zwangsläufig oder spontan. Wie ein Teil von Syrien sind diese Dörfer von terroristischen Angriffen weitgehend verschont geblieben. In dieser familiären und ländlichen Atmosphäre fühlt man sich – auch wir – weit weg von dem Krieg, der bei uns zu Hause beschrieben wird. Darüber beschwert sich hier niemand. Den Abend verbringen wir auf den Terrassen, auf Teppichen sitzend oder lang ausgestreckt. Ich habe dabei einen Teppich des Hohen Flüchtlingskommissars gesehen: aus einer Art blauem Bast mit allen Insignien, Inschriften und Logos der (mit unseren Groschen) großzügigen Spender; die Flüchtlinge oder Deplatzierten, die diese Teppiche erhalten hatten, tauschten sie gegen etwas, das sie – wirklich – brauchten. Wir trinken Mate-Tee, mit Kräutern aus der Gegend. Die Süße der Luft und die Sanftheit der Stimmung überraschen uns Ankömmlinge aus Frankreich. Die Atmosphäre ist manchmal sehr unbeschwert. Niemand in den Häusern, wo wir aufgenommen wurden, hat einen Angehörigen verloren. Zwischendurch gibt es zahlreiche Stromausfälle: Während unseres gesamten Aufenthalts in Syrien kommen sie hier am häufigsten vor, unvorhergesehen und lang andauernd. Im Verlauf der mehr als vier Kriegsjahre haben die Einwohner sich Stromaggregate und LEDs besorgt, die etwas Licht liefern. Eine Unterbrechung der Wasserversorgung kommt während unseres Aufenthalts nicht vor – jedenfalls haben wir keine ertragen müssen. Am Montagmorgen, dem 5. Oktober, ein wenig Tourismus: Wir fahren nach Masyāf und kaufen – wie man uns sagt – die besten Falafel Syriens. Eine Köstlichkeit in der Tat im Gegenwert von einigen Zehn-Eurocent-Münzen. Auf der Straße gibt es immer wieder Verzögerungen und Sperren – je häufiger, desto besser. Unser Fahrer E. kennt oft die in der Region postierten Soldaten; ich glaube, sie wechseln alle fünfzehn Tage. Der Austausch mit ihnen ist nie unwichtig. Wenn er die Soldaten nicht kennt, sind die Grüße respektvoll und lassen Patriotismus anklingen, manchmal auf poetische Art und Weise, aber seinen Freunden gegenüber ist er voller Humor: „Rosenmorgen“ statt „Guten Tag“… Ich bedaure, dass ich nicht alle Begrüßungen notiert habe – immer sind sie ein aufrichtiger Ausdruck von Anerkennung für diese Soldaten, die uns schützen und im Fall eines plötzlichen Rückschlags ihr Leben riskieren. Die meisten Kontrollen sind echte. Entlang der Fahrtstrecke sind in den Dörfern Porträts von „Märtyrern“ ausgestellt: Soldaten, die im Kampf, aus dem Hinterhalt oder an den Straßensperren getötet wurden, in den meisten Fällen durch Schüsse – ansonsten der übliche Horror der Sadisten, die „gute Arbeit machen“, wie wieder andere sagen. Diese Porträts setzen die erschütternde Gegenwart der jungen Vermissten in Szene: lächelnd, im Drillich, die nicht ganz so jungen sind mit ihren Kindern fotografiert. Man muss immer wieder an gleichaltrige junge Männer aus der eigenen Umgebung denken. Das Grauen dieses Krieges und der Mut der Kampfsoldaten der syrischen Armee sind in diesen Porträts verkörpert. Das syrische Volk vergisst sie nicht. Auf der Heckscheibe eines Wagens vor uns ist handschriftlich auf einem Bogen Papier zu lesen: „Sie haben vergessen, wer dein Vater ist, sie haben Krieg gegen dich geführt, Herr Präsident.“ Nachmittags im Dorf probieren die Jugendlichen einige Worte Französisch aus: „Wie heißt du?“ – grundlegend. Aber als ich sie frage: „Und du?“ – Totalausfall. Französisch spricht man hier selten. Am Ende des Nachmittags gehen wir in die Olivenhaine, allerdings nicht weit. Wir kehren in der Dunkelheit zurück, überrascht von der Nacht, die schnell und früher hereinbricht als in unseren Breiten. Aber hier wie in Damaskus geht jeder mit seiner Taschenlampe nach draußen oder macht sich Licht mit seinem Handy. Das System der kleinen Kanäle zur Bewässerung der Gemüsegärten in den Talmulden ist dasselbe wie in der Haute-Provence; jeder hat seine eigene Verteileranlage – vielleicht mit denselben Geschichten von Missbrauch durch Umleitung wie in Frankreich. Dienstag, 6. Oktober, ein Feiertag: Es ist der Jahrestag des Angriffs auf Israel vom 6. Oktober 1973, im Westen „Kippur-Krieg“ genannt. Wir wollen den Feiertag nutzen, um nach Hama zu fahren, mit Zwischenstopp in einem Dorf in der Ebene, wo uns ein Freund von E. erwartet. Wir werden auch seine Kinder sehen, weil sie an diesem Tag nicht in der Schule sind. Sonst geht der Unterricht von 8 bis 13 Uhr, in königsblauen Kitteln, der vorgeschriebenen Schuluniform – ist das diktatorisch oder demokratisch? An bestimmten Orten mussten die Lehrer nach den Zerstörungen lokaler Schulen durch die „Revolutionäre“ und andere „moderate Rebellen“ zwei Stundenpläne – für morgens und nachmittags – aufstellen, damit alle Kinder zur Schule gehen konnten. Beim Ausflug nach Hama lernen wir, dass es dieser Tage in den Dörfern der Nachbarschaft gefährlich geworden ist, allerdings nicht auf der Seite, wo wir ankamen. Wir besuchen eine berühmte Werkstatt für traditionelle Weberei, um dort Einkäufe zu machen. Auf dem Weg dorthin halten wir bei B., der uns in seinem Wagen mitnehmen wird, denn er kennt die Landstraßen und die Straßen der Stadt mit ihren Tempobremsen und Sperren. Wir werden durch die ganze Familie mit einer Tee-Kaffee-Mate-Pause begrüßt in einem Wohnzimmer, das nach Drohungen und Bombardierungen der Bösewichte im Keller eingerichtet wurde. Die älteste Tochter ist in der dritten Klasse der weiterführenden Schule, seit der fünften Primarschulklasse lernt sie Französisch, seit dem Kindergarten Englisch. Wir nennen sie Adèle, ihre Eltern erzählen, dass sie eine sehr gute Schülerin ist. Zurückhaltend, aber neugierig und interessiert an unseren Fragen antwortet sie, ohne durch die Erwachsenen unterbrochen zu werden – hübsch, Haarband und Schleife im Haar, mit langen Haaren (in Syrien habe ich keine Frauen mit sehr kurzen Haaren gesehen: Vielleicht kann man daran auf der Straße eine Ausländerin erkennen). Sie möchte Ärztin werden. Das Schulniveau entspricht dem in Frankreich. In diesem Dorf, einem christlichen, „sind Jungen und Mädchen zusammen in einer Klasse. In Damaskus bei den Muslimen (Sunniten) sind sie getrennt. Bei den Alawiten gemischt.“ E. zufolge „ist das auch ein Grund dafür, dass wir da angelangt sind, wo wir uns heute befinden“. Ist die öffentliche Schule gratis? Die ganze Familie stimmt zu. Aber es gibt Privatschulen, auch private Universitäten. „Man zahlt sehr wenig für die Einschreibung. Den Schulnoten entsprechend hat man Zugang zu allem, was man studieren möchte, und wählt seinen Studiengang selbst aus.“ Es hat hier wie in dem Dorf, wo wir wohnen, seit Beginn der Krise keinen Unterrichtsausfall gegeben. Marie, die uns aufnimmt, erzählt: „Die Preise sind stark gestiegen, bis zum Zehnfachen. Für Brot, Dieselöl usw. sind die Preise festgelegt. Engpässe kommen wegen des Schwarzmarktes vor. Brot ist teurer als zu Beginn der Krise, aber sein Preis ist vom Staat festgesetzt. Vorher kosteten zwölf Fladenbrote 40 LS (zum gegenwärtigen Wechselkurs, der sich in diesen Tagen von Stunde zu Stunde ändern kann, ungefähr zehn Eurocent), jetzt festgesetzt 100 LS.“ Adèle übernimmt die Bewirtung. Manche Händler schlagen Gewinn daraus, dass der Staat die Lebensmittelpreise festsetzt: Sie lagern die Fladenbrote, um sie später, wenn sie eine Angebotsverknappung geschaffen haben, teurer zu verkaufen. Ein Klassiker. Marie-Ange fragt, wie es mit den Kindern in Bezug auf den Krieg steht. Sie „sind sich des Krieges bewusst und wenn sie die Erwachsenen diskutieren und von Daesh reden hören, kriegen sie Angst. Sie haben die Bombardierungen gehört, drei Tage lang gab es hier heftige Einschläge. Sie haben Angst bekommen und sind in den Keller gegangen, um sich zu verstecken. Noch immer herrscht Angst: wenn man verreist, wenn sie zur Schule gehen, Angst vor Entführungen, vor Explosionen. Es hat Entführungen gegeben, man hat auch gehört, dass Kinder auf der Landstraße, auf den Feldern, bei der Arbeit auf dem Lande mitgenommen wurden und nicht zurückgekommen sind. Wir haben Kinder an der Straße Schafe hüten gesehen. Hier hat es keine Entführungen von Kindern gegeben, nur von Erwachsenen, nur von Männern. Andere wiederum sind aus Syrien ausgereist. Sind viele ins Ausland gegangen? „Jede Woche, zwanzig in jeder Woche – vielleicht 2 500, seit es begann.“ Vor allem die Christen reisen aus, das hat sich in den letzten Monaten beschleunigt. „Hier haben die Ausreisen im zweiten Kriegsjahr (2012) angefangen; jetzt reisen die alleinstehenden Frauen aus, auch junge Mädchen. Meist gehen sie nach Deutschland und nach Holland – nach Deutschland gehen diejenigen, die Verwandte haben, die Papiere ausstellen, damit sie nachkommen können.“ (…) Wie ist es mit dem Trinkwasser? „Es gab an drei Tagen Unterbrechungen. Einer aus dem Dorf, der einen sehr großen Wasserbehälter besitzt, hat es gelagert und dann weiterverkauft: den täglichen Bedarf einer Familie zum Verbraucherpreis für einen Monat.“ Der Staat ist für seine Bevölkerung da. Steuern? Fast keine Steuern – die Geschäfte haben eine symbolische Steuer, nicht auf den Gewinn, sondern als pauschale Abgabe. Wer im Bauhandwerk arbeitet, baut und verkauft, zahlt die Gewerbesteuer. Er wird jedes Jahr überprüft, um festzustellen, ob seine Tätigkeit sich ausgeweitet hat. Und wenn er verkauft „zum Beispiel für 30 Millionen SL, dann zahlt er eine Steuer von etwa 800.000 SL“. (…) Von der Straße nach Hama sieht man zunächst Olivenhaine, dann die Ebene mit den Feldern für Gemüseanbau: Kohl, Kartoffeln, andere Gemüsearten und Tabak; zwei Zementfabriken (nicht beschädigt), die eine, eine schon lange errichtete iranische, sehr groß, die andere stillgelegt wegen der Umweltverschmutzung, die in der Region Krebs verursacht haben soll. Häufig begegnen wir Soldaten zu zweit auf der Mobylette, das Gewehr über der Schulter, ohne Helm – niemand trägt hier einen Helm – und mit entspannter Miene: an diesem 6. Oktober vielleicht auf Urlaub. An den Sperren die Sicherheitsgarantie: „Auf meinen Kopf und auf meine Augen“, sagen die Soldaten. Viele Frauen, denen wir begegnen, sind verschleiert (auf’s Leichteste, nach Art der Sunniten, das ist elegant). Die Straßen sind an diesem Feiertag belebt, die Webwerkstatt, zu der wir auf dem Weg sind, ist in der Altstadt, nicht weit von den Norias (Wasserschöpfrädern). Wir treffen hier zwei der vier Weber an, sie sind Brüder. Sie zeigen uns, wie sie in dem traditionellen Handwerk arbeiten: robust und kräftig …
Hier wird ausschließlich Baumwolle und Seide, in Syrien produziert, verarbeitet: traditionelle Eleganz der Naturfarben und des Materials, zurückhaltendes Muster. Die Webstühle in Betrieb erzeugen einen sehr feinen Baumwollstaub, der zum rhythmischen Klappern der Maschinen ein weiches Licht in der Werkstatt dimmt.
Der Laden, in dem die Stoffe gestapelt sind (ausschließlich Zubehör fürs Haus) ist für uns die Höhle von Ali Baba! Es ist schwer, sich zu entscheiden zwischen all den kunsthandwerklichen Teilen zu Preisen, die niedriger sind als die der industriellen Produkte der großen europäischen Firmenmarken.
Wir unterhalten uns mit den Handwerkern über die Techniken, die Stoffe und die Werkzeuge, die alte Tradition dieses Handwerks in ihrer Familie (seit 1853), die Architektur des Hauses (450 Jahre alt, im Laufe der Jahrhunderte mehrmals abgebrannt und wieder aufgebaut), die Schwierigkeiten der Belieferung und jetzt, vor allem, des Verkaufs. Der Export ist äußerst selten, obwohl ihr Markenzeichen international geschätzt war. Zu Beginn der Krise wurde die Werkstatt angezündet, der größte Webstuhl ist verbrannt, zwei weitere sind erhalten geblieben. Von den acht Brüdern, die hier zusammen gearbeitet haben, sind vier ausgewandert und vier in der Werkstatt geblieben. Ganz gleich, was sie tun und denken und wonach wir gefragt haben oder nicht – sie sind da und halten das Fachwissen des syrischen Handwerks lebendig. In dem kleinen Hof, wo uns Kaffee angeboten wird, gibt es fünf Käfige mit Kanarienvögeln, die das Haus mit Leben füllen, wenn die Webstühle stillstehen. Der junge Sohn eines der Handwerker zeigt mir eine Kunststoffkiste mit zwei Fischen. Er will Arzt werden. Wir kehren zum Auto und zu den großen Norias am Oronte zurück; sie stehen still, denn im Fluss ist praktisch kein Wasser. Die Jungen, die weiter unten im fauligen Wasser toben, werden von Passanten (Männern) beschimpft, ohne sich im Geringsten dadurch stören zu lassen. Wir machen einige Aufnahmen und sehen ein träges, prunkvoll geschmücktes Kamel vorüberziehen – ein Überbleibsel aus den Zeiten, als es Touristen gab?
Schließlich gehen wir zu dem berühmten Eisladen, einem weiteren Ziel unseres Ausflugs: Milcheis, Käsekuchen, kleine traditionelle Kuchen – alles köstlich und nicht teuer, mit Sicherheit nicht für uns. Die Konditoreihandwerker sind freundlich und etwas erstaunt, Fremde zu sehen; bereitwillig akzeptieren sie, dass wir ihre effizienten und spektakulären Handgriffe fotografieren.
Es ist noch nicht Mittag, in der Teestube sind nur wenige Leute. Zwei junge Frauen sitzen an den Tischen – mit sunnitischem Schleier, aber ohne Männer. Auf der Straße hat man uns für Russen gehalten: Würde zurzeit niemand anders hierher kommen? Übrigens ist Hama der erste Ort, wo wir zerstörte Häuser gesehen haben, und zwar am Rande der Altstadt. Auf dem Rückweg besuchen wir Hector; er leistet seit Beginn der Krise seinen Militärdienst in Damaskus. Vor fünfeinhalb Jahren wurde er einberufen, im Prinzip für 18 Monate – durch die Krise lang anhaltend. Seit März 2011 ist dies sein erster fünftägiger Urlaub – dank des russischen Einsatzes, der den Schraubstock der Terroristen, den Druck auf die Syrische Arabische Armee, lockert. Persönlich gesprochen findet er, dass es lange dauert – für seine Zukunft, für sein Leben, er kann sein Studium nicht fortzusetzen. Jetzt sind es vier Jahre mehr als der normale Dienst. Er weiß nicht, wie lange er noch dabei bleiben wird (er kann sich bis zum Alter von 42 Jahren verpflichten). Aber dies ist ein Krieg und jeder sollte das Land verteidigen. Er ist froh, dass er dies für sein Land tun kann, aber er fordert seine Rechte ein. Wenn er seine Rechte bekommt, könnte er sich sogar verpflichten. Seine Rechte? „Die Lebensbedingungen sind hart, in Bezug auf den Wohnort ist der Fronturlaub nicht an die Stelle angepasst; es gibt Unterschiede zwischen den Regimentern, manche sind besser organisiert.“ Er ist Unteroffizier, das ist Durchschnitt (die Dienstränge entsprechen dem französischen System). Viele Offiziere behandeln ihre Männer jetzt sanfter und sind freundlicher geworden. Manche Offiziere verlangen, dass man die Vorschriften wortwörtlich befolgt, aber wie sollen sie die militärischen Vorschriften einhalten, wenn man ihnen nicht gibt, was sie brauchen? Zum Beispiel die Uniformen: Er hat seine selbst gekauft, weil die alte völlig abgetragen war. Tatsache ist, dass man viele junge Soldaten nie zerlumpt sieht, aber in der Erscheinung (Bart und Haare) guerillamäßiger als ein Navy Seal. Bei manchen Offizieren geht ein Einberufener zum Beispiel, wenn er aus einem Urlaub von vier oder fünf Tagen vier Stunden zu spät zurückkommt, ins „Loch“. Glücklicherweise sind diese Offiziere selten. Er selbst ist in der Armee Artillerist. Sie hatten schlechte Munition und zu Beginn der Krise keine wirkliche Organisation; er bekam Aufgaben zugeteilt, für die er nicht ausgebildet war. Aus solchen Gründen sind Soldaten gestorben. Damals wurden noch keine russischen Kanonen, stationär oder auf Panzern, eingesetzt (Acacias 125, Fozdika 120, wenn ich richtig notiert habe). Es gab genug Soldaten zur Verteidigung, aber man benutzte sie für Aufgaben, für die sie nicht geschult waren, und das hat Schaden angerichtet. Als sie Verstärkung anforderten, hat man ihnen gesagt, sie sollten sich selbst helfen. Nicht alle unteren Dienstgrade haben zur richtigen Zeit die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen. Dies ist ein Krieg, für den niemand ausgebildet war: kein Positionskrieg wie der gegen Israel, für den die Armee aufgestellt war. Immer dasselbe Problem: Es gibt Orte, wo das gut ging, und andere, wo es nicht geklappt hat. Ihm ist es passiert, dass er zum Markt ging und sah, wie die Uniformen, die ihnen versprochen waren, dort gerade verkauft wurden. „Man kann sagen, dass die Soldaten mit ihren Körpern statt mit ihren Waffen gekämpft haben; oft waren sie ungeschützt, insbesondere bei den Straßenkämpfen. In Ghouta (einem Vorort von Damaskus), bewachten Soldaten und Zivilisten zusammen die Sperren, nachts gerieten sie mit bewaffneten Gruppen aneinander. Die bewaffneten Gruppen waren damals, als er dort war, noch die (sogenannte) Freie (sogenannte) Syrische Armee in ihrer Anfangsphase. „Zu wenig Information und Kommunikation über Satellit. Die Soldaten, die von ihren Offizieren nicht unterstützt wurden, haben durchgehalten, weil sie ihren Präsidenten lieben.“ Im Winter 2012 war er an den Absperrungen. Es war schwierig mit manchen sunnitischen Soldaten, weil sie bei Angriffen unter Umständen auf die Seite der Angreifer überliefen. Damals gingen sie ohne Waffen die Demonstrationen begleiten, sie mussten die Waffen in der Kaserne deponieren, ehe sie auf die Straße gingen. Wenn es bei den Demonstrationen berechtigte Forderungen gegeben hätte, annehmbare, wäre vielleicht etwas erreicht worden. Aber die Demonstranten beschimpften nur Assad, die Alawiten und die Schiiten. In den 17 Vierteln und Vorstädten, in die er in Damaskus gekommen ist, wurde bei keiner Demonstration von Korruption gesprochen und von berechtigten Forderungen gegen die Korruption – das hätte alle grundlegenden Forderungen zusammengefasst. „Hier hat man mehr Freiheiten als bei Ihnen“, er meint Frankreich, „aber Rachsucht und Hass sind hervorgekommen. 2012, als sie [die Soldaten] begannen, ihre Waffen zu tragen, als es den Waffenstillstand gab, hatten sie unter Strafandrohung Order, nicht zu schießen. Die bewaffneten Gruppen haben trotz des Waffenstillstands geschossen. Und auch als die bewaffneten Gruppen auf sie schossen, mit echten Kugeln, hatten selbst die Offiziere keine Waffen, um zurückzuschlagen. Befehl des Präsidenten.“ „Manche Offiziere haben diese Befehle nicht befolgt, sie haben ihre Soldaten nicht ohne Waffen oder ohne die Vollmacht, sie zu gebrauchen, hinausgehen lassen. Die sunnitischen Offiziere haben ihre Soldaten bewaffnet gelassen und ihnen gesagt, sie sollten sie nur zur Verteidigung in den Vororten, in Zamalka zum Beispiel, gebrauchen.“ „In Zamalka gab es den Befehl, die Leute demonstrieren zu lassen; plötzlich entfernten sich die Demonstranten und einer, der das Gesicht bedeckt hatte, schoss auf die Soldaten an der Sperre. Ein Geheimdienstoffizier schoss auf seine Beine, um ihn zu Fall zu bringen. Als der Typ zu Boden fiel, warf er seine Waffe den Demonstranten zu, sie holten sie sich. Aber als die Vorgesetzten dieses Offiziers erfuhren, dass er geschossen hatte, war er es, der ins Gefängnis gesteckt wurde. Nicht lange, für sechzehn Tage, aber immerhin bekam er eine Strafe.“ Wir sind vier Tage in den Bergen geblieben; vor der Abfahrt am Mittwoch haben wir einen Imker besucht. (…) Die Zahl der Imker wächst in der Region, weil diese Beschäftigung zurzeit möglich ist; viele lassen sich deshalb umschulen. Viele Leute vom Land arbeiten nicht mehr; sie waren zum Arbeiten in den Libanon gegangen und als sie wiederkamen, haben sie als Arbeit auf dem Lande nur diese Möglichkeit vorgefunden. Heute arbeiten sogar Ingenieure als Imker. Früher waren die Imker in Dara’a konzentriert, sie waren die Fachleute. Es gab auch welche zwischen Chan Schaichun und Aleppo, wo die Imkerei vom Vater auf den Sohn weitergegeben wurde. Sie exportierten nach Europa; es gab zwei große Exporteure, einer davon ein staatlicher. Vor dem Krieg betrug die Produktion 36.000 Tonnen, jetzt sind es 6.000. Die Bienenhäuser sind zerstört. Seit 2015 wird die Beschäftigung in Dara’a (im Süden des Landes) wieder aufgenommen, aber ohne dass die Transhumance (Wanderimkerei) ausgeübt werden kann. Es gibt Leute, die Honig kaufen und schwarz in den Libanon exportieren; jeder Export von Nahrungsmitteln ist seit Beginn der Krise verboten. Unser Imker selbst setzt die Wanderimkerei fort: „Ich folge den Blüten von einem Platz zum nächsten.“ „Die alawitischen Bauern sind am großzügigsten, sie lassen einen die Bienenvölker aufstellen, wo man möchte, und verlangen nichts dafür.“ Und jeder bekommt sein Kilo Honig ab … In den Dörfern ist nach und nach im Lauf der letzten vier Jahre das Holz der Wälder eingeschlagen worden – um zu heizen, wegen der Heizölverknappung, die mehr oder minder von den wenig patriotischen Schwarzhändlern organisiert wird. Anmerkung: Das sehr ausführliche Reisetagebuch wurde von der Redaktion gekürzt, sämtliche essenziellen Berichte wurden beibehalten. Abo oder Einzelheft hier bestellenSeit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate. Übersetzung: Sabine Brand |
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