Die Treuhand oder: Eine neue deutsche Teilung
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Von ACHIM ENGELBERG, 3. Oktober 2012 –
Vor Kurzem bezeichnete Thilo Sarrazin – immer für eine Schlagzeile schlecht – die Abwicklung der DDR-Wirtschaft als eine Notschlachtung, so, wie Schweine gekeult werden, die keiner mehr essen will. Im Allgemeinen ist wenig geläufig, dass der allseits bekannte Provokateur als Beamter dabei eine wichtige Rolle spielte. Noch immer gehen die Meinungen über die Treuhand weit auseinander, bleibt vieles ungeklärt. War diese Anstalt das größte Schlachthaus Europas oder im Vergleich zu Polen oder Tschechien der bessere Übergang vom Staatssozialismus zum Kapitalismus? Warum brachte sie, zuständig für 15000 Betriebe und vier Millionen Beschäftigte, also für die gesamte DDR-Wirtschaft, nur 34 Milliarden Euro ein? Weshalb mussten die Steuerzahler in Ost und West für einen Verlust von über 122 Milliarden aufkommen?
Der Journalist oder: Der Realitätssinn der Recherche
Als Zeitzeuge bei einer Buchvorstellung von Der deutsche Goldrausch machte Thilo Sarrazin den menschenverachtenden Schweine-Vergleich. Der Autor Dirk Laabs erkundete mit seiner Schrift zwar nicht, wie es im Untertitel heißt, die wahre Geschichte der Treuhand, aber er legte eine beachtliche Recherche vor. Sein chronologisch gegliedertes Buch fußt auf Presseerzeugnissen, auf Büchern von Involvierten und Wissenschaftlern, auf Interviews des Autors mit wichtigen Insidern. So vergleicht es der Historiker Philip Wright, der das Treiben der Treuhand in Ostdeutschland erlebte, in verblüffender Weise mit der normannischen Eroberung Englands. Nach 1066 griff Herzog Wilhelm II. mit 600 Schiffen und 7000 Soldaten die Insel an, ließ den eingesessenen Adel vertreiben oder ermorden, enteignen und setzte neue, ihm treu ergebene Ritter als Lehnsherren ein. Diese Eigentumsverhältnisse wurden in einem Buch mit dem großspurigen Titel Domesday Book – Buch des Jüngsten Gerichts – fixiert. Bis dahin nämlich sollten die niedergeschriebenen Besitzrechte gelten; und immerhin tun sie das bis heute. Und vergleichbar, so Wright, gehört fast alles, was in der DDR Wert hatte, jetzt wenigen Westdeutschen.
Gerade die Vielzahl von Zitaten aus der Zeit wirkt augenöffnend und erhellend, die Sprache bringt die räuberische Hybris an den Tag: Gefragt, ob es um die bedingungslose wirtschaftliche Kapitulation der DDR gehe, antwortet der bieder wirkende Lothar Späth, damals Präsidiumsmitglied der CDU: „Ich sage mal ganz brutal: ja.“ Und der Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder versteigt sich sogar zu der Behauptung, dass vierzig Jahre Sozialismus mehr Schaden als der Zweite Weltkrieg in der DDR angerichtet hätten. Aber nicht nur Entscheidungsträger enthüllen Brutales, Fragen wie die eines WELT-Journalisten waren nicht nur eine schockierende Ausnahme: „Gibt es im Osten auch eine geistige Inferiorität? Sind die ‚Hirne‘, die Denkwerkzeuge, beschädigt? Gibt es geistige Deformationen?“
Ursprünglich stammte die Idee der Treuhand von vorausschauenden Bürgerrechtlern, Matthias Artzt und Gerd W. Gebhardt, die damit das Volkseigentum der DDR-Bürger schützen, retten und an die Besitzer weitergeben wollten, aber diese Absicht verkehrten die neuen Herren ins Gegenteil, sie nutzten die Anstalt als entscheidendes Instrument der entschädigungslosen Enteignung. Der vom späteren Bundespräsidenten Horst Köhler mit der Angelegenheit beauftragte Thilo Sarrazin meint, er sei kein Getriebener, sondern ein Treibender gewesen, „weil ich mit dem mir angeborenen Maß an Zynismus und Kälte plus Sachverstand plus intensiver Sachbeschäftigung ganz klar und ohne Wunschdenken gesagt habe, wie es weitergehen würde. (…) Zuerst einmal bekommen wir die DDR an die Angel und schaffen vollendete Tatsachen in Richtung deutsche Einheit. Ich habe also alles getan, um diesen Prozess zu fördern. Als das dann erledigt war, die Treuhand existierte und unsere Überlegungen aufgegangen waren, habe ich gesagt: Jetzt wickeln wir das ganze Zeug möglichst schnell ab.“
Zum Vergleich sei Willy Brandt zitiert: „Aus dem Krieg und der Veruneinigung der Siegermächte erwuchs die Spaltung Europas, Deutschlands und Berlins. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Nichts, aber auch gar nichts von diesem Geist findet man in den An-sichten des Immer-Noch-SPD-Mitgliedes Thilo Sarrazin.
Walter Romberg, DDR-Finanzminister in der von Lothar de Maizière geleiteten Regierung und SPD-Mitglied, charakterisiert die erlebte Strategie so: „Alles oder nichts. Wir geben euch kein Geld, wenn ihr uns nicht die Souveränität über die Währung abtretet und unser Wirtschaftskonzept übernehmt.“
Im Jahre 2005 stellte ein Forschungsteam zur geringen Anzahl von Ostdeutschen in Führungspositionen beim Vereinigungsprozess fest: „Für einen derart radikalen Austausch einheimischer Eliten findet sich so schnell keine Parallele – am ehesten noch, horribile dictu, unter Kolonialregierungen und Besatzungsverwaltungen.“
Allerdings wurde dieser Raubzug zum einen durch die Stagnation im Ostblock insgesamt sowie die Reformverweigerung der Honecker-Administration in den 1980er Jahren ermöglicht und zum anderen von der Mehrheit der DDR-Bürger, die 1990 die Konservativen wählten und Helmut Kohl beispielsweise frenetisch jubelnd am Leipziger Opernplatz begrüßten, Transparente tragend mit Sprüchen wie „Helmut Kohl, unsere Alternative zu 57 Jahren Barbarei“.
Nicht allein die registrierten argen Schandtaten in diesem Buch regen auf, obwohl in dieser Beziehung so ziemlich alles vorkommt, was ins Strafgesetzbuch gehört, sondern die kalt-zynische Strategie vieler Macher, die bis heute das Sagen haben. Die Geschichte der Treuhand kann als eine der ökonomischen Bereicherung und moralischen Zerstörung einflussreicher Teile des westdeutschen Establishments gedeutet werden.
Dirk Laabs könnte in seinem enthüllenden Buch durchaus aus dem Vorwort zitieren, das Karl Kraus im Jahr 1922 seinem Dokumentarstück über den Ersten Weltkrieg, Die letzten Tage der Menschheit, beigab: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.“ Läuteten die Macher dieser staatlichen und wirtschaftlichen Einigung etwa die letzten Tage der Demokratie ein?
Die Wege der Vereinigung Berlins, Deutschlands wie Europas führten zu Widersprüchen, deren Lösungen noch nicht abzusehen sind und deren weitere Verschärfung gefährlich werden könnte. Folgerichtig bemerkt Dirk Laabs, dass bei der Vereinigung ausprobiert wurde, was bei der Finanzkrise seit 2008 europaweit angewendet wird: „die Sozialisierung der Verluste; die Ausschaltung des Parlaments, eine Exekutive, die nicht erklären kann oder will, warum sie wirtschaftspolitisch wie handelt“. So bekommt das deutsche Räuberdrama internationale Dimensionen.
Die Wissenschaftlerin oder: Der Realitätssinn der Analyse
Vielen ist Christa Luft als Politikerin bekannt, als Wirtschaftsministerin der Modrow-Regierung und später als Bundestagsabgeordnete, noch länger aber arbeitete sie vorher als Wissenschaftlerin und schließlich Rektorin der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst. Hier konnte, was in der DDR selten vorkam, ihr früherer Kollege Nathan Steinberger schon vor dem Herbst 1989 über seine Erlebnisse in Stalins Sowjetunion erzählen, wo er in den Archipel Gulag geriet, in Kolyma schuftete, fror und hungerte und knapp überlebte.
Im Gespräch in ihrer Wohnung in Berlin-Treptow erinnert sie sich an den asozialen Zeitgeist der Neuvereinigung, der die Seele fehlte. Eingeprägt hat sich ihr ein junger Mann im Businessanzug, der gleich nach dem Studium in der Personalabteilung der Treuhand arbeitete. Wie es denn wäre, fragte sie ihn, wenn man so vielen erfahrenen Ingenieuren blaue Briefe schreiben müsse, wissend, dass sie bei der damaligen Lage schwer eine angemessene Arbeit finden würden. Seine Antwort war kurz und aufschlussreich: „Zum Glück hatten wir keinen sozialen Touch in unserer Hochschule.“
Als sie noch als DDR-Wirtschaftsministerin 1990 den späteren Bundespräsidenten Horst Köhler, der als Staatssekretär im Finanzministerium arbeitete, aufsuchte, berichtete er ihr freudig, dass schon bald die D-Mark in der DDR eingeführt werde. Das würden viele zwar begrüßen, um sich lang gehegte Wünsche erfüllen zu können, meinte Christa Luft skeptisch, aber sie sehe auch Schattenseiten. „Man muss sich diese D-Mark auch verdienen können. Wenn ihre Einführung schnell und unvorbereitet kommt, dann werden wir alsbald überschwemmt mit westlichen Waren, und unsere Produkte werden aus den Regalen verschwinden. Weiterhin werden wir die Ostmärkte verlieren.“ Seine Antwort wird sie nie vergessen: „Frau Luft, warum sind Sie denn so derartig arrogant?“
Sie ergänzt, dass sie Horst Köhler im Jahr 2000 zufällig in einer Wirtschaftsdelegation in Hongkong traf. Er kam auf sie zu und meinte, bei der Vereinigung seien Fehler gemacht worden. Im Vergleich zu Thilo Sarrazin ist das erstaunlich, aber es gab in den entscheidenden Jahren eben nur einige, die eine wirtschaftlich behutsame Vereinigung anstrebten, vielleicht Detlef Karsten Rohwedder kurz vor seiner Ermordung – Christa Luft nennt auch Tyll Necker.
Insgesamt aber waren es zu wenige, und es ist ihr kein einziges Beispiel in der Geschichte bekannt, dass zu Friedenszeiten eine Volkswirtschaft fast völlig verkauft wurde. Allein dass die Treuhand dem Bundesfinanzministerium und nicht dem für Wirtschaft unterstellt war, zeigt an, dass man ein monetaristisches, auf die Rolle des Geldes fixiertes Konzept realisieren wollte.
In einem Anhörungstext für den Bundestag aus dem Jahr 2010 schrieb Christa Luft: „Von einer wirtschafts- und strukturpolitischen Strategie keine Spur, sonst hätte man wenigstens – wie es heute heißt – ‚systemrelevante‘ Unternehmen, also solche, die für die Beschäftigungslage und damit für die Einkommenserzielung durch eigene Arbeit in einer Region von erstrangiger Bedeutung sind, mit besonderer Sorgfalt behandelt und zu erhalten versucht.“
Gerade die mutwillig erzeugte Ramsch-Stimmung nach dem Motto „Alles muss raus“ ließ die Preise rasant fallen, lockte Glücksritter und Spekulanten, Bankrotteure und Schnäppchenjäger an, die sich ausschließlich bereichern und gesundrauben wollten.
Viele Behauptungen – von der Höhe der DDR-Auslandsschulden bis zur totalen Verseuchung des Chemiedreiecks Halle/Leuna/Merseburg – mussten bald modifiziert werden, aber das Gift der Verleumdung wirkt bis heute, es ebnete einen als alternativlos bezeichneten Weg und verschreckte und beschämte die Bevölkerung.
Dieses Spaltungsklima im Allgemeinen ermöglichte Räuberpistolen im Besonderen. Christa Luft nennt als Beispiel, wie Wirtschaftsprüfer für das Gerätewerk Teltow einen Wert von 73 Millionen DM ermittelten, ortsansässige Mittelständler brachten 38 Millionen DM zusammen, aber eine westdeutsche Firma bekam das fast schuldenfreie Werk mit großen Grundstücken für nur eine D-Mark wegen angeblicher Wirtschaftskompetenz. Doch die Arbeitsplatzzusagen hielt der neue Besitzer nicht ein, das Arbeitslosengeld zahlte die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, also der Steuerzahler in Ost und West.
In Ostdeutschland bleibt bis heute die Anzahl der Großbetriebe unterdurchschnittlich und die an Klein- und Kleinstbetrieben so hoch wie nirgendwo im Westen. Eine neue deutsche Teilung entstand.
Oftmals hört oder liest man, die mangelnde Zeit hätte die Fehler verursacht, und natürlich gäbe es überall auch schwarze Schafe. Warum aber musste man eine Volkswirtschaft in nur vier Jahren verkaufen?
Nicht die fehlende Zeit war entscheidend, wie oft behauptet wird – viele Beobachter und Analysten nähern sich der Erkenntnis, dass viele Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft die Wirklichkeit nicht in ihrer gesellschaftlichen Totalität und strategisch mangelhaft erfassten.
Wie hätte es anders gehen können? Als Unternehmer und Vorstandsvorsitzender der Jenoptik AG agierte Lothar Späth durchaus erfolgreich in einem Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik.
„Wem die Möglichkeit einer zeitweiligen erfolgreichen Fortführung von Großunternehmen in öffentlichem Eigentum reine Spekulation scheint“, so Christa Luft, „den mag folgendes Faktum nachdenklich stimmen. Die Jenoptik AG, hervorgegangen aus dem Kombinat Carl-Zeiss-Jena, befand sich nach 1990 zunächst hundertprozentig im Eigentum des Freistaates Thüringen. Seit 1998 ist das Unternehmen an der Frankfurter Wertpapierbörse gelistet. Im Jahr 2002 entfielen auf den Freistaat noch 18,92 Prozent der Anteilscheine. Damit war er immer noch größter Einzelaktionär. Jenoptik hat die marktwirtschaftliche Umstrukturierung und Neuorientierung mit Aderlass, insgesamt aber besser überstanden als andere Großunternehmen. Es ist ein hochtechnologischer Leuchtturm, der seinen Platz auf dem Weltmarkt behauptet. Hätte ein solches Modell nicht häufiger Anwendung finden können?“
Der Dichter oder: Der Möglichkeitssinn
Erstaunlich, schon im Jahr der Neuvereinigung, 1990, sah Heiner Müller vieles, was bis heute als Deutung auf- und anregt. So erläuterte er, dass die Bundesrepublik, „aus dem natürlichen Interesse an der Erhaltung ihrer eigenen fragil konservativen Struktur, mit dem sanfteren ökonomischen Würgegriff der Marktwirtschaft die zweite mögliche Revolution im Keim erstickt. Die Quittung für den gebremsten Klassenkampf ist der Umschlag in den Atavismus der Rassenkämpfe, die uns noch lange beschäftigen werden.“ Deren Spur zieht sich über Rostock und Mölln quer durchs Land – bis heute. Das meistverkaufte Sachbuch unserer Zeit, Deutschland schafft sich ab, spielt mit solchen rückwärtsgewandten Ängsten. Sein Autor: Thilo Sarrazin.
Literarisch gestalten konnte der 1995 verstorbene Heiner Müller vieles nicht mehr. Der mit ihm eng verbundene Volker Braun aber nimmt in mannigfacher Form diese Umbrüche auf, zuletzt in der Erzählung Die hellen Haufen.
Es war Robert Musil, der in seinem Jahrhundertroman Der Mann ohne Eigenschaften dem Realitätssinn den Möglichkeitssinn nicht entgegensetzte, sondern beide beziehungsreich verband. Zur Kreativität bedarf es beider. „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“
Volker Braun erzählt von der Möglichkeit, dass das Volk gegen seine Enteignung durch die Treuhand nochmals aufsteht, die zweite Revolution versucht: Wenn der Aufstand „seine Wahrheit hat, so nicht, weil er gewesen wäre, sondern weil er denkbar ist. Man glaubt die Geschichte zu kennen, aber sie hat mehr in sich, als sich ereignet: auch das Nichtgeschehene, Unterbliebene, Verlorene liegt in dem schwarzen Berg. All das Ersehnte, nicht Gewagte, und die Lust zu handeln. Tief verborgen, verschüttet, zubetoniert der Widerstand; die hellen Haufen, die nicht losgezogen sind, um die Schlacht zu schlagen.“
Ausgehend vom realen Hungerstreik in Bischofferode – in der Novelle: Bitterröde – schildert Volker Braun in Die hellen Haufen einen Arbeiteraufstand. Dabei kommt es zu erhellenden Szenen. Eine Abordnung der Bürgerbewegung kommt, sagt einer, der korrigiert wird: „Die ehemalige Bürgerbewegung.“ Und tatsächlich fordern diese angesichts des gegenwärtigen Unrechts nur die Einsicht in die Stasi-Akten, „um mit dem Unrecht aufzuräumen – Vogt atmete durch und fragte, was ihnen sonst auf der Seele brenne? – Dass diese alten Seilschaften, sagten die Bürgerrechtler. Dass das Unrecht. Dass die Akten zugänglich werden.“
Und in der Tat, bei allen Publikationen zum Thema bleibt die Schwierigkeit, dass – im Gegensatz zu den frei zugänglichen Stasi-Akten – die Treuhand-Akten selbst für Wissenschaftler bis mindestens 2050 gesperrt sind.
Ein Hungertoter bewirkt härteren Protest, zwei Unbeteiligte sterben, revolutionäre Traditionen, vergessen und verraten, leben wieder auf: von den hellen Haufen Thomas Müntzers aus dem Deutschen Bauernkrieg, die der Novelle den Titel gaben, bis zur Märzaktion 1921. Die Gegenseite reagiert unerbittlich: „weil es sich dabei um eine Eigentumsfrage handle, die (wie Fontane gesagt habe) den praktischen Leuten immer die Hauptsache war“.
Und in der Tat, besonders die Forderung, dass die Belegschaft bestimmt, was produziert wird, beunruhigt und regt auf. „Das sei, erklärte Minister Schufft, ein Anschlag auf die demokratische Ordnung.“
Beim möglichen Aufstand, den Volker Braun beschreibt, greifen am Ende die „schwarzen Haufen“ ein; wie am 17. Juni 1953 in der DDR eine Armee. „Die Geschichte hat sich nicht ereignet. Sie ist nur, sehr verkürzt und unbeschönigt, aufgeschrieben. Es war hart zu denken, dass sie erfunden ist, nur etwas wäre ebenso schlimm gewesen: wenn sie stattgefunden hätte.“
So die Möglichkeit. Warum kam es in der Realität zu keinem Aufstand? Für Christa Luft wollte die Mehrheit der DDR-Bürger rasch die D-Mark und hatte – hier zeigt sich deutlich das Scheitern dieses deutschen Staates – keine wirkliche Beziehung zu ihren Produktionsmitteln, vor allem in der Industrie. In der Landwirtschaft war es anders, die Beziehung des Bauern zu Tier und Boden war tiefer und stärker, deshalb konnte hier mehr in neue Bedingungen überführt werden. Als zu beherzigende Lehre bleibt: „Verstaatlichung allein schafft kein Eigentümerbewusstsein. Verstaatlichung muss von Demokratisierung begleitet sein.“
Der Sieg des finanzmarktgesteuerten digitalen Kapitalismus war nur durch das moralische, wirtschaftliche und politische Scheitern des Sozialismus im 20. Jahrhundert möglich. „Was wir nicht zustande gebracht haben, müssen wir überliefern“, so Ernst Bloch. Sein Schüler Volker Braun nimmt das als Motto für seine kleine große Erzählung. Nach dem „Erdrutsch der Gedanken“, die die stecken gebliebenen Revolutionen im Ostblock hervorbrachten, treffen sich 1990 in seiner Novelle einige Denker, realen Vorbildern nachempfunden, in der legendären Berliner Kneipe Torpedokäfer, so auch der schon 1987 gestorbene Philosoph Wolfgang Heise. Über diese mögliche Diskussion heißt es: „Volkseigentum plus Demokratie: das war die verbotene Losung. Sie hing wieder schief. – Aber womöglich musste sich die Geschichte entmutigen, ruinieren, damit sie andere Kräfte sammelt.“
Und die realen Initiatoren der ursprünglichen Treuhand, Matthias Artzt und Gerd W. Gebhardt, die das Volkseigentum vor dem Goldrausch schützen wollten, glauben nach der Recherche von Dirk Laabs, „dass die deutsche Gesellschaft heute genauso unfähig zur Selbstkritik ist wie die DDR in ihren letzten Jahren“. Sie erhoffen eine erneute Zeitenwende, in der „ihre Idee von einer Gesellschaft, die sich intensiver in das Wirtschaftsleben einmischt, bald wieder gefragt sein könnte“.
Im realen Gespräch plädiert Christa Luft für eine mögliche Ökonomie verschiedener Eigentumsformen, von öffentlichen, kommunalen, genossenschaftlichen und privaten. Sie ist durchaus für freie Unternehmer, sofern sie den Gewinn mit den diesen erwirtschaftenden Menschen angemessen teilen, aber es darf nicht die ganze Gesellschaft ins Joch der Profitmaximierung gespannt werden. Der freie Unternehmer wirke neben der Kommune, der Staatsbetrieb neben der Genossenschaft. „Warum soll einer, der ein Unternehmen gewinnbringend betreiben will, das nicht dürfen? Hier sollten sich viele Linke nach den Erfahrungen des Realsozialismus korrigieren. Wenn man etwas Neues schaffen will, muss man Altes bewahren. Im Sinne Hegels aufheben.“
Die Treuhand war das Mittel zur Abwicklung der DDR-Wirtschaft mit zu wenig bewahrender Veränderung und erstarrte deshalb zum Sinnbild für die vorerst gescheiterte innere Einheit. Ihre Geschichte gibt deutliche Hinweise darauf, wie man in unserer auf andere Art krisenerschütterten Zeit nicht verfahren darf, soll sich humanistischer Möglichkeitssinn im Realen erfüllen können.
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Der Artikel erschien zuerst im Juli dieses Jahres in Hintergrund, Heft 3, 2012
Achim Engelberg lebt und arbeitet in Berlin. Als Journalist bereist er Europa, als Historiker publiziert er Bücher, zuletzt – zusammen mit Ernst Engelberg – Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute.