Schule und Bildung

Desinformation für Kinder und Jugendliche

Nachdem jetzt der Friedenspreis des deutschen Buchhandels dem Ukrainer Serhji Zhadan verliehen worden ist, wissen wir, dass auch die Kulturbranche in den Dienst der Kriegspropaganda gestellt ist. Für den Bildungsbereich galt das in kriegerischen Zeiten schon immer. Die Heranwachsenden sollen frühzeitig mit dem jeweiligen Feindbild vertraut gemacht werden. Im Folgenden wollen wir Nachrichten für Kinder und eine Broschüre der Bundeszentrale für politische Bildung in Augenschein nehmen.

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Schulkind Immer weniger Kinder lesen. Umso mehr stellt sich die Frage, was die Wenigen zu lesen bekommen. Die offiziellen Lernmaterialien sind mitunter äußerst mangelhaft.
Foto:Michał Parzuchowski bei Unsplash, Mehr Infos

Welche Agentur die Kinder-Nachrichten-Seite produziert, mit der unsere Lokalzeitung beliefert wird wie vermutlich zahlreiche solcher Blätter, weiß ich nicht. DPA bietet einen solchen Service an. Neulich fand ich in der Ausgabe unserer Lokalzeitung vom 21. 10. 22 folgende Nachricht:

Wenn kein Strom mehr da ist, wird das Leben plötzlich sehr viel schwerer. […] Die Menschen in der Ukraine erleben das gerade. […] Für die schlimme Lage der Menschen gibt es einen Grund. Russland führt schon seit Monaten Krieg gegen die Ukraine. Seit kurzem beschießt und zerstört Russland vor allem Anlagen, die wichtig für die Energieversorgung sind. Die Versorgung etwa mit Wärme und Strom ist dadurch schwieriger geworden. Jede dritte Energieanlage sei zerstört worden, sagt die Ukraine. Wer friert, im Dunkel sitzt oder nicht kochen kann, leidet. So will Russland den Druck auf die Menschen und die Regierung der Ukraine erhöhen …“

Positiv kann man finden, dass die Verfasser den Fokus auf den schwierigen Alltag, auf das Leiden der Menschen richten. Von fragwürdiger Einseitigkeit ist aber die Erklärung dafür. Selbst Kinder mögen sich fragen: Warum führt dieses Russland seit Monaten einen Krieg gegen das Land? Es wird kein Anlass dafür genannt, nicht erzählt, was vorausgegangen ist. Selbst für den kindlichen Verstand dürfte auch rätselhaft sein, wozu Russland den Druck auf die Menschen und die Regierung der Ukraine erhöhen möchte. Der Zweck wird nicht genannt. So entsteht der Eindruck von nackter Willkür.

Versuchen wir mal einen Alternativtext zu formulieren!

Wenn kein Strom mehr da ist, wird das Leben plötzlich sehr viel schwerer. […] Die Menschen in der Ukraine erleben das gerade. Dort herrscht seit Monaten Krieg. Russland hat das Land angegriffen, nachdem es vergeblich Sicherheitsgarantien für russischsprachige Ukrainer und für Russland selbst gefordert hatte. Zuerst war nur der Osten der Ukraine vom Krieg betroffen. Die dortigen Gebiete waren schwer umkämpft. Dann sprengten die Ukrainer eine Brücke, die für Russland ganz wichtig ist. Seitdem beschießt und zerstört die russische Armee vor allem Anlagen, die wichtig für die Energieversorgung der Ukraine sind. Wer friert, im Dunkel sitzt oder nicht kochen kann, leidet. So will Russland den Druck auf die Menschen und damit auf die Regierung der Ukraine erhöhen, damit diese zu Verhandlungen bereit ist. Denn auch für Russland ist der Krieg auf Dauer eine Belastung.

Nun gut. Ein solcher Text auf der Kinderseite wird nicht gerade Massenwirksamkeit entfalten. Denn nur noch 37 Prozent der 14- bis 29-Jährigen nutzen ein Textangebot.1 Je jünger, desto weniger wird noch gelesen.

Problematischer sind da die Lernmaterialien der Bundeszentrale für politische Bildung, die von Lehrern gern genutzt werden. Dazu gehört unter anderem eine Broschüre für Jugendliche mit einem Begleitheft für Pädagoginnen und Pädagogen. Auf der Plattform der BpB findet man vier Folien, auf denen die aus Sicht der Bundeszentrale wesentlichen Informationen zu dem Krieg dargeboten werden.2 Hier exemplarisch die Seite eins:

Folie der Bundeszentrale für politische Bildung ©BpB
Foto:Material der Bundeszentrale für politische Bildung ©BpB, Mehr Infos

Kommentar: „Hier erfährst du mehr über die beiden Staaten, ihr Verhältnis zueinander und darüber, wie sich die politische Situation zwischen der Ukraine und Russland in den letzten Jahrzehnten entwickelte.3

Fast keine Information stimmt, viele Darstellungen sind zumindest verzerrt. Die Jugendlichen bekommen das Bild von einem aggressiven Russland, wie es dem inzwischen zur Staatsdoktrin erhobenen Narrativ entspricht. Noch 2015 war eine Konfliktanalyse auf der Homepage der BpB von der These geleitet: „Trotz der aktuellen Schwierigkeiten zwischen Europäischer Union und Russland muss es zu erneuten Annäherungen kommen.“4 Und 2016 konnte man zum Beispiel eine Analyse der Donbass-Proteste finden, deren Autor davon ausging, „dass die treibenden Kräfte hinter dem Aufstand in Donezk und Lugansk bei weitem nicht nur den Klischees vom durch Moskau unterstützten Separatismus entsprechen“5 Solch moderate Töne sind längst verhallt.

Schauen wir uns einmal die Angaben auf dem Informationsblatt an! Bei den Todeszahlen wird unterschlagen, dass Tausende im Donbass, vor allem Zivilisten, bis Februar 2022 Opfer der ukrainischen Raketenangriffe und Bombardements wurden.6 Dass die Sowjetunion „von den Russen dominiert wurde“, ist eine historisch grob verzerrte Darstellung. Viele Führungskräfte in Partei und Verwaltung waren ukrainischer Herkunft. Ein eher alltagsnaher Beleg: Der Journalist Hugo Portisch, der in den 1960er Jahren Sibirien bereiste, hebt in seinem Reisebericht wiederholt die tragende Rolle von Russen und Ukrainern bei der Modernisierung der fernöstlichen Regionen hervor.7 Dass die NATO aus 30 „demokratischen Staaten“ bestehen soll, geschenkt.

Dass die Proteste auf dem Maidan „mit Gewalt niedergeschlagen“ wurden, gibt das Narrativ der heutigen Ukraine wieder. Die Tatsachen werden auf den Kopf gestellt, wobei suggeriert wird, es habe sich ausschließlich um friedliche Proteste gehandelt. Nichts erfahren die Jugendlichen und die Pädagoginnen und Pädagogen über die militanten, teils faschistoiden Gruppen auf dem Maidan, nichts über das Massaker von Odessa, wo die Täter bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind. „Die pro-europäischen Kräfte setzen sich Anfang 2014 durch“, ist mehr als beschönigend. Schließlich wurde der gewählte Präsident gewaltsam gestürzt. Die Aussage liest sich dagegen so, als hätten sich die „pro-europäischen Kräfte“ in einer politischen Auseinandersetzung durchgesetzt. Vermittelt wird das Bild von einer funktionierenden Demokratie.

„Im Februar besetzten daraufhin russische Truppen völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim im Süden der Ukraine.“ Das „daraufhin“ suggeriert, die Besetzung sei eine Reaktion auf den (angeblich) demokratischen Prozess gewesen. Die überwältigende Zustimmung der Bevölkerung der Krim wird verständlicherweise verschwiegen. Dass „pro-russisch eingestellte Kämpfer_innen“ die „Loslösung“ der Donbass-Gebiete erzwingen wollten, ist falsch. Die Forderung beschränkte sich zumindest anfangs auf den Status einer Autonomie, die auch Gegenstand der Minsker Abkommen war, die in dem Text verschwiegen werden.

Ich will und muss die Textanalyse nicht weiterführen. Jeder kann selbst die restlichen Seiten zwei bis vier im Internet prüfen. Worum es geht, das ist nicht nur die völlig verzerrte Darstellung des Konflikts, sondern die Feindbildkonstruktion. Schüler wie Lehrer lernen oder finden bestätigt, was sie schon aus den Medien erfahren haben, dass Russland eine aggressive, bedrohliche Macht ist.

Die Bundeszentrale für politische Bildung gibt damit die Handlungsmaximen auf, die bisher Common Sense in der Didaktik der politischen Bildung gewesen sind, formuliert im sogenannten Beutelsbacher Konsens.8

Als unter dem Einfluss der 68er-Bewegung die politische Polarisierung vor den Schulen in Deutschland nicht Halt machte und zunehmend Lehrerinnen und Lehrer „linke“ Positionen vertraten, soweit sie damals nicht vom Berufsverbot betroffen waren, versammelten sich 1976 auf Initiative der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Politik-Didaktiker verschiedener Richtung9 in dem Ort Beutelsbach, um darüber zu beraten, nach welchen Maßstäben ein Unterricht beurteilt werden sollte. Die Beteiligten waren sich dabei anscheinend einig, dass „Mündigkeit“, oder anders gesagt Urteilsfähigkeit das Ziel sein sollte.

In einem Protokoll wurden drei Handlungsmaximen festgehalten: a. Überwältigungsverbot, b. Kontroversitätsgebot, c. Fähigkeit zur politischen Analyse und Interessenwahrnehmung als Ziel. Die erste Maxime war klar gegen Indoktrination gerichtet. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich selbständig ein Urteil bilden können. Das hat Konsequenzen für die Lernmaterialien und für die Haltung der Lehrperson. Materialien mit einseitigen, selektiven Informationen widersprechen der Maxime. Die Lehrperson muss die eigene Position nicht verleugnen, aber bei der Bewertung der Lernenden jede Parteilichkeit vermeiden. Lehrer sollten auch, so wissenschaftliche Interpreten des Beutelsbacher Konsenses, „unterschlagene oder (noch) nicht thematisierte Perspektiven in den Unterricht einbringen.“10 Das ist bei dem von der Bundeszentrale zur Verfügung gestellten Material für sie schwierig, wenn nicht unmöglich, zumal sie auf allen Kanälen dasselbe Narrativ vermittelt bekommen. Das Kontroversitätsgebot wird mit dem hier vorgestellten Informationsmaterial eindeutig verletzt.

 

Quellen

1Nehring, Fabian (2022): Neue Medien und linke Gegenöffentlichkeit am Beispiel von 99zueins. In: Z. Nr.131, S.34

2https://www.bpb.de/cache/images/2/753762_galerie_lightbox_box_1000x666.jpg?D98AF, Zugriff am 25.10.22

6Von Wikipedia werden die Todeszahlen differenziert nach Zivilbevölkerung und Kombattanten, nach Regionen und nach Quellenangaben aufgelistet. https://de.wikipedia.org/wiki/Opfer_des_Russisch-Ukrainischen_Krieges#Gesamtzahl_der_Toten Zugriff am 25.10.22

7Hugo Portisch: So sah ich Sibirien. Bielefeld: Bertelsmann 1967.

8 Frech, S./Richter, D. (2017) (Hg.): Der Beutelsbacher Konsens. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag

9Das betraf sowohl didaktisch-methodische Konzepte als auch die Positionierung im damaligen politischen Spektrum der Bundesrepublik Deutschland, abgesehen von der außerparlamentarischen Opposition.

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10Frech/ Richter 2017, S.14; Hentges, G./Lösch, B./Eis, A. (2017): Schulische politische Bildung. Inhaltslosigkeit als neue Ideologie? In: Forum Wissenschaft 4/17, S.24-28.

Der Autor

Georg Auernheimer war bis zu seiner Emeritierung Professor für Interkulturelle Pädagogik an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Seitdem arbeitet er als politischer Publizist. Zuletzt erschien von ihm „Wie gesellschaftliche Güter zu privatem Reichtum werden. Über Privatisierung und andere Formen der Enteignung“ (PapyRossa, 2021).

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