Böse Wörter vermeiden als Ersatzhandlung
Die Ablehnung mancher Begriffe nimmt heute fast schon totalitäre Züge an. Das erlebte unser Autor jüngst bei einem Vortrag. Er hatte Frantz Fanon zitiert und dabei das Wort "Neger" benutzt. Von diesem Erlebnis ausgehend überlegt er, inwieweit Sprachreglungen etwas an den zu kritisierenden Verhältnissen ändert.
Bei einem Vortrag über Rassismus – ein erziehungswissenschaftliches Institut hatte mich dazu eingeladen – unterbricht mich eine empörte Studentin, als ich Frantz Fanon mit den Worten zitiere, dass der Neger „niemals so sehr Neger gewesen ist wie seit seiner Beherrschung durch die Weißen“.1 Die Teilnehmerin fordert mich auf, sofort aufzuhören, jenes Wort auszusprechen. Obwohl ich darauf hinweise, dass es sich um ein Zitat von Fanon handelt, lässt sie sich nicht umstimmen. Wer Frantz Fanon war, hatte ich vorher kurz verdeutlicht, nämlich Arzt und Intellektueller aus einer schwarzen Mittelschichtfamilie auf Martinique. Nachdem die übrigen etwa 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer schweigen, gebe ich klein bei, um den Streit nicht zu eskalieren, und vor allem im Vertrauen auf die Überzeugungskraft meiner weiteren Ausführungen. Denn genau gegen die Hilflosigkeit von political correctness, speziell von „korrekter“ Sprache richtete sich mein Vortrag.
Mein Leitgedanke: Sprachregelungen ändern nichts an den Verhältnissen. Die Diskriminierung und Stigmatisierung von Gruppen endet erst mit grundlegenden institutionellen Reformen oder der Transformation des Systems. Beispiele: Mit den von der Antipsychiatriebewegung initiierten Reformen hatte die Stigmatisierung von psychisch Kranken keine Basis mehr. Die kubanische Revolution hat den Rassismus dank der Angleichung der Lebensverhältnisse und Chancen fast aus dem Alltagsleben verbannt.2 Dagegen würden die vom Kolonialsystem, aber auch vom postkolonialen System und vom strukturellen Rassismus erzwungenen Lebensverhältnisse für Afrikaner, generell für Menschen in vielen Ländern des globalen Südens, aber auch für Minderheiten hierzulande Handlungsstrategien nahelegen, die von der jeweils dominanten Gesellschaft als problematisch empfunden werden, so meine These. Dass innerhalb einer entsprechenden Gesellschafts- und Weltordnung auch diejenigen, die von der Ordnung profitieren, mental davon geprägt werden, ist klar. Albert Memmi, auf den ich auch verwiesen habe, vermerkt, dass das Kolonialverhältnis auch die Kolonisatoren in ihrer Menschlichkeit entstellt.3
Zugegeben, das wirkt entmutigend. Denn es zeigt uns die relative Ohnmacht der Pädagogik bei ihrem „Kampf“ gegen Rassismus und generell gegen viele Vorurteile. Aber es ist nur eine scheinbare oder relative Ohnmacht. Wir können uns und die Rassifizierten ermächtigen, wenn wir uns auf die politische Aufklärung über erniedrigende Lebensverhältnisse konzentrieren, oder auch die Aufmerksamkeit auf demütigende Praktiken wie racial profiling lenken. Selbst die Aufklärung über diskriminierende Diskurse ist unzureichend. Vom Zerpflücken fragwürdiger Lehrbuchdarstellungen haben wir Erziehungswissenschaftler uns zu viel versprochen.
Und völlig unzureichend ist Sprachkorrektur und die Erziehung zur Wachsamkeit gegenüber belasteten Wörtern. Die Ängstlichkeit, man könne schlimme Wörter verwenden, erinnert an die sprachliche Skrupelhaftigkeit im viktorianischen Zeitalter, als man ängstlich jeden Ausdruck vermied, der auf Sexualität oder den analen und genitalen Bereich hätte aufmerksam machen können. Nahe liegt auch die Assoziation mit den sprachlichen Tabus in animistischen Religionsgemeinschaften. Ich denke nur daran, mit welcher Aufgeregtheit mir beim Vortrag das Wort abgeschnitten wurde. Angestrengt achtet man auf die Einhaltung der Gebote von Political Correctness, weil die Übertretung die Welt zu gefährden scheint. Das Wachen über korrekte Sprache hat etwas von magischen Praktiken an sich.
Klar, wenn die Verteidiger von Political Correctness sagen, es gehe darum, die Angehörigen von diskriminierten Gruppen nicht zu verletzen, so kann ich das nicht vom Tisch wischen. In Intergroup Relations oder interkultureller Kommunikation ist immer etwas mehr Sensibilität gefordert als in sonstiger Kommunikation, vor allem in Beziehungen, die von Machtasymmetrie bestimmt sind.4 Das Bemühen, für historisch belastete Bezeichnungen zu sensibilisieren, verdient Respekt. Aber wer wird schon im Kontakt mit einem Schwarzen oder einem Sinto eine Bezeichnung verwenden, die für den anderen verletzend sein könnte? Normalerweise besteht dazu auch kein Anlass. Das macht nur jemand, der die zu Fremden gemachten verspotten oder beschimpfen möchte. Manche Minderheiten schützen sich übrigens dadurch, dass sie sich das Schimpfwort zu eigen machen und zur Bezeichnung der Gruppe verwenden, der sie sich zugehörig fühlen. So lassen sie den Angriff ins Leere laufen.
Selbstverständlich können wir uns über gesellschaftliche Verhältnisse und soziale Beziehungen ohne historisch belastete Begriffe verständigen. Aber wer sollte sich verletzt fühlen, wenn ein älterer Text zitiert wird, in dem das Wort Neger vorkommt? Wie gehen wir zum Beispiel mit der Lebensgeschichte eines Schwarzen Deutschen um, in der er erzählt, wie er wiederholt von Gleichaltrigen verspottet und von Lehrern gedemütigt wurde, wobei er unvermeidlich das Schimpfwort verwenden muss?5 Darf eine Pädagogin, die Jugendlichen eine Szene daraus vorliest, das verfängliche Wort aussprechen?
Ein Teilnehmer brachte mich in der Diskussion auf einen interessanten Gedanken. Er meinte, ich hätte so stark die Lebensverhältnisse diskriminierter Gruppen, unter anderem den strukturellen Rassismus, hervorgehoben. Aber es sei schwierig, politisch etwas daran zu ändern. Er sehe kaum eine Möglichkeit dazu. Sollte es so sein, frage ich mich, dass man auf eine nicht diskriminierende Wortwahl so viel Wert legt, weil man sich politisch hilflos fühlt? Das lässt mich auf die vermuteten magischen Praktiken zurückkommen. Magie wird von einem Ethnologen so definiert: „Magie umfasst die rituellen Handlungen und Verhaltensweisen, mit denen Menschen versuchen, auf Mächte, Dinge und Ereignisse einzuwirken, die jenseits ihres normalen Einflussbereiches liegen“ (Hervorh. von mir).6
Wenn ich Political Correctness verständnisvoll zu deuten versuche, dann wollen die woken Zeitgenossen mit der Sprachzensur die Sensibilität für historisch belastete Bezeichnungen wecken. Wer aber nicht auch die sozialen Verhältnisse bekämpft, die stets von neuem Diskriminierung fördern, der erweist den Betroffenen einen schlechten Dienst. In solchen Fällen lässt sich das korrekte Sprechen auch als Ersatzhandlung verstehen. Eine verständliche Problemlösung, wenn sich Menschen politisch ohnmächtig fühlen. Es steht mir nicht zu ihnen politischen Defätismus vorzuwerfen.
Auf der Heimfahrt von der Uni-Veranstaltung ging mir einiges durch den Kopf. Schwer erträglich erschien mir, dass ich nicht einmal einen Satz von einem kritischen Autor wie Frantz Fanon zitieren durfte, weil das N-Wort drin vorkommt. Und dann dachte ich in der Erinnerung an meine Marburger Zeit, als die Studierenden in den 1960er und 70er Jahren die Uni zur politischen Kaderschmiede machen wollten: Heute machen sie die Uni zur moralischen Anstalt. Wie soll man mit historischen Texten umgehen, in denen die beanstandeten Wörter vorkommen? Schwärzen? Oder in den Giftschrank? Das betrifft unzählige Autorinnen und Autoren, auch viele des Rassismus unverdächtige. Manche, die sich um Aufklärung verdient gemacht haben im Kampf gegen Unfreiheit und Ungleichheit wie Kurt Tucholsky oder Bert Brecht haben ganz unbefangen das Wort Neger benutzt.7 Soll man die Texte eines Erich Kästner auf den Index setzen oder zensieren?
Und wenn sich zum Beispiel bei Tucholsky fragwürdige Passagen finden, äußerst fragwürdige sogar – Tucholskys Weltbild war nicht ganz frei von Rassismen – so muss man der Frage nachgehen, wie es möglich war, dass jemand wie er ganz ungeniert das N-Wort verwenden konnte. Im Spott über den Militarismus vergleicht er 1913 zum Beispiel einen hoch dekorierten General mit einem „Negerhäuptling“.8 Ja, noch schlimmer, „Neger“ ist bei ihm eine Chiffre für das Exotische, Primitive und Animalische im Menschen. Aber um entsprechende Passagen zu analysieren, müsste man sie zur Kenntnis nehmen, ja durchbuchstabieren. Das Buch zuzuschlagen, hilft nicht weiter.
Anmerkungen
1 Frantz Fanon (1981): Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S.180.
2 Völlig verschwunden ist er auch dort nicht, wie mir berichtet wurde. Der durch den Wirtschaftsboykott bedingte alltägliche Kampf ums Überleben mag dazu beitragen.
3 Albert Memmi (1980): Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts. Frankfurt/M.: Syndikat-Verlag.
4 Georg Auernheimer (2013): Interkulturelle Kommunikation, mehrdimensional betrachtet. In: ders. (Hrsg.) Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. 4. Aufl. Wiesbaden: Springer VS
5 Ich habe an die Autobiographie von Hans J. Massaquoi „Neger, Neger, Schornsteinfeger!“ (1999) gedacht. Die US-amerikanische Originalausgabe trägt den Titel „Destined to Witness“. Der reißerische deutsche Titel war 1999 noch möglich.
6 Quack, Anton (2004): Heiler, Hexen und Schamanen. Die Religion der Stammeskulturen. Darmstadt, S.18.
7 In dem launigen Gedicht „Wünsche“, publiziert in der Weltbühne Nr. 27 v. 4.7.1918, stößt man gleich auf zwei Tabuwörter. Braun wie „Zigeunerweiber“ wollen die Damen sein. Und: „Der Neger will ein Weißer sein.“
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8 Mehrere Textbeispiele unter http://www.sudelblog.de/?p=735
Der Autor
Georg Auernheimer war bis zu seiner Emeritierung Professor für Interkulturelle Pädagogik an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Seitdem arbeitet er als politischer Publizist. Im Hintergrund Verlag erschien von ihm im vergangenen Jahr “Der Ukrainekonflikt. Wie Russlands Nachbarland zum Kriegsschauplatz wurde”. Dieses Jahr veröffentlichte er “Die strategische Falle. Die Ukraine im Weltordnungskrieg” (PapyRossa”