Über sektiererische Bilderstürmerei und ihre Begleitung von deutscher Seite
Kiews „Entrussifizierung“ treibt immer neue Blüten. Im Bestreben, eine „kulturelle Identität“ der Ukrainer zu schaffen, fällt Denkmal um Denkmal, Statue um Statue. Ihr Manko: Sie zeigen Russen. Dass jene ein Menschheitserbe schufen ... sei's drum!
Das Maxim Gorki Denkmal in Dnipro. Schutz nationaler Interessen? – Foto: Twitter
Ich will der Welt die Freiheit singen / Das Laster treffen auf dem Thron […] Das Auge bebt vor der Bedrängnis / Und Noth des Volks entsetzt zurück. / Die Tugend schmachtet im Gefängnis / Das Laster schwelgt in Macht und Glück / Hier Vorurtheil und Unverstand / Dort ganzer Völker Schmach und Schändung …
Alexander Puschkin (1799 – 1837) in der „Ode an die Freiheit“ (russ. Wolnost, 1818).1
An diesen Dichter erinnert inzwischen kein Straßenschild mehr in Kiew (oder Kyjiv auf Ukrainisch).
Denn die Kyjiver Stadtregierung unter Bürgermeister Vitali Klitschko ließ im vergangenen Jahr 2022 fast einhundert Straßen umbenennen, die an die Zugehörigkeit der Ukraine zum Zarenreich und zur Sowjetunion erinnerten. Dabei war man nicht zimperlich und kappte schonungslos kulturelle Traditionen. Solche Umbenennungaktionen, die es inzwischen landesweit gegeben hat, sind Teil einer blindwütigen Geschichtspolitik, die 2015 nach dem Staatsstreich mit einem Gesetzespaket zur Staatsdoktrin gemacht wurde. Auch Denkmäler werden gestürzt oder abgebaut. Kein Gedanke daran, dass die Werke eines Puschkin oder Tolstoi von universalem Gehalt sind, ein Menschheitserbe. Nicht ohne Grund sind sie in zahlreiche Sprachen übersetzt worden.
Der neueste Akt der Barbarei ist die Entfernung der Statue von Maxim Gorki in Dnipro. Am Montag, dem 26. Dezember 2022 wurde sie abgebaut und auf dem Gelände eines städtischen Unternehmens eingemottet.2 Grund genug für den Denkmalsturz war den Nationalisten von Dnipro wohl, dass Gorki einst von der Kommunistischen Akademie als „proletarischer Schriftsteller“ anerkannt worden ist. Dass sich die Akademie 1927 schwer tat mit jener Anerkennung, sei nur nebenbei erwähnt.3 Denn Gorki prangerte zwar mit seinem erzählerischen Werk das Elend der an den Rand der Gesellschaft Gedrängten und die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter an und unterstützte damit den Kampf der Arbeiterklasse. Aber primär war er einer, der sich aus moralischer Empörung für die Menschenrechte engagierte.
Einst geehrt, jetzt verdammt: Maxim Gorki. Er war Russe, alles andere: bedeutungslos. – Foto: Twitter
Am 16. Dezember war schon das Denkmal für Alexander Puschkin in Dnipro abgebaut worden. Dass der Zar einst über dessen literarische Schöpfungen gar nicht erfreut war, hielt die ukrainischen Kommunalpolitiker in ihrer Russophobie nicht davon ab, ihn vom Sockel zu stürzen. Noch härter als Puschkin war der Dichter Michail J. Lermontow (1814 – 1841) vom Zaren mit Verbannung bestraft worden. Er liebte Russland, aber Nationalismus war ihm fremd.
Ich liebe das Vaterland, aber mit einer seltsamen Liebe / Mein Verstand wird sie nicht besiegen. / Weder der durch Blut erkaufte Ruhm / noch der Friede voll stolzen Vertrauens/ noch die vertrauten Überlieferungen der dunklen alten Zeiten / werden in mir freudige Schwärmerei erregen. Aber ich liebe… seiner Steppen kaltes Schweigen,/ seiner uferlosen Wälder sanfte Bewegung, / die Hochwasser seiner Flüsse, die Meeren ähneln […] und auf dem Hügel inmitten der gelben Flur / das Paar weiß schimmernder Birken…4
In Kyjiv erinnert auch an diesen Dichter kein Straßenschild mehr.
Selbst der große Dichter und Humanist Lew N. Tolstoi wurde bei der Säuberungsaktion nicht verschont. Am Anfang seiner Erzählung „Der Überfall“, in der er Erinnerungen an seine Zeit als Kriegsfreiwilliger in den Kaukasus-Kriegen (1851 – 1854) verarbeitet, schreibt er: Mich beschäftigte nur die Frage: Welches Gefühl treibt den Menschen dazu, sich ohne sichtbaren Nutzen für ihn selbst einer Gefahr auszusetzen und, was noch verwunderlicher ist, seinesgleichen zu töten?5 Auch an ihn erinnert kein Straßenschild mehr in Kiew. Und die Schulkinder in der Ukraine werden nichts von ihm erfahren, auch nicht, dass er sich zu seiner Zeit um Schulkinder gesorgt hat, die wegen mangelhafter Bildung ohne Chancen waren.
An diese Dichter und noch andere wie Anton Tschechow soll in der Ukraine nichts mehr erinnern, weil sie Russen waren. Ihre Werke gehören offiziell nicht mehr zum kulturellen Erbe. Alle, die hier exemplarisch zu Wort gekommen sind, waren von der Aufklärung inspiriert. Nicht umsonst wurden sie von den Zaren in die Verbannung geschickt wie Puschkin und Lermontow oder polizeilich überwacht wie Tolstoi. Alle setzten sich für Menschenrechte ein, für politische Freiheiten und soziale Gerechtigkeit. Nationalismus war ihre Sache nicht.
Mit der Geschichtspolitik intensiviere „die politische Führung des Landes das ukrainische Nationsbildungsprojekt“, meint Lina Klymenko verständnisvoll in einer von der Bundeszentrale für politische Bildung publizierten „Analyse“. Der Politikwissenschaftlerin gab die Bundeszentrale 2019 die Möglichkeit, die nationalistische Politik der ukrainischen Regierung mit einigen Einschränkungen zu rechtfertigen.6 Die Autorin konzediert, dass einige Maßnahmen wie die Benennung von Straßen nach faschistischen Führern oder Verbänden „fragwürdig“ seien, weckt aber doch Verständnis für den Versuch, die sowjetische Vergangenheit vergessen zu machen. Auch der Osteuropa-Historiker Kai Struve von der Universität Halle-Wittenberg erklärt die Umbenennung von Straßen als „Reaktion auf den russischen Krieg“, meint jedoch, „der Prozess der Nationenbildung werde mittlerweile aber nicht mehr alleine über die Sprache oder Ethnien definiert, sondern durch Werte wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit“.7 Wie das mit der Exkommunikation von Dichtern wie Tolstoi vereinbar sein soll, bleibt sein Geheimnis.
Die deutsche Öffentlichkeit, speziell auch das Bildungsbürgertum, soweit es so etwas noch gibt, reagiert auf die sektiererische Bilderstürmerei in der Ukraine gleichgültig, sofern man die Entwicklung überhaupt zur Kenntnis nimmt. Niemand fragt sich, was für eine Gesellschaft das ist, die eine antihumanistische Kulturpolitik dieser Art betreibt oder gutheißt. Die „kulturelle Identität der ukrainischen Gesellschaft“ sei bedroht, erklärte die Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei einem Besuch in Odessa. Das klingt nach dem Politsprech der ukrainischen Nationalisten. Bedroht sah sie die „kulturelle Identität“ der Ukrainer nicht durch die revisionistische Kultur- und Geschichtspolitik, sondern durch den russischen Aggressor, nachdem ihr der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko erzählt hatte, dass Kultureinrichtungen gezielt angegriffen würden.8
Quellen
1 https://de.wikipedia.org/wiki/Ode_an_die_Freiheit
2 Kurznachricht in der jungen Welt v. 28.12.22
3 Gourfinkel, Nina: Maxim Gorki in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlts Monographien. Hamburg 1958, S.73f,
4 Auszug aus Die Heimat (russ. Royjina) in: Michail Lermontow: Gedichte. Russisch/Deutsch. Reclams Universalbibliothek. Stuttgart 2020.
5 Die schönsten Erzählungen von Tolstoi. Neue Folge. Nymphenburger Verlagshandlung. München o.J.
6 https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/287634/analyse-die-politik-der-umbenennung-nationsbildung-und-strassennamen-in-der-ukraine/ abgerufen am 27.12.22
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7 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/umbenennung-strassen-kiew-ukraine-krieg-russland-100.html abgerufen am 28.12.22
8 https://www.deutschlandfunk.de/claudia-roth-odessa-ukraine-kultur-100.html abgerufen am 28.12.22