Vom pandemischen Elend der Linken
Die politische Linke in Deutschland hat es nicht leicht. Die Partei gleichen Namens hat im Herbst die Fünf-Prozent-Hürde gerissen und ist nur durch eine Sonderregelung im Bundestag. Ein Grund: Die linke Reaktion auf die Corona-Maßnahmen. Auch die der Linkspartei. Einige Linke innerhalb und außerhalb der Partei, forderten mehr autoritäres Durchgreifen im „Kampf gegen den Virus“ als die Regierung bereit war. Und den Staat kritisierten sie nur, wenn ihnen die Maßnahmen zu lasch waren. Der Blick in zwei aktuelle Bücher von prominenten Linken, Karl Heinz Roth und Christoph Butterwegge, zeigt auf verschiedene Weise einiges von dem Elend der Linken mit Corona auf. Eine Doppelrezension.
Es ist Zeit für eine Bilanz. Zumindest eine Zwischenbilanz. Die meisten Corona-Maßnahmen pausieren derzeit, die Proteste sind abgeflaut. Auch die Expertenkomission der Bundesregierung hat vergangene Woche ihren Bericht abgeliefert. Wirkliche Diskussionen finden aber weiterhin kaum statt. Sie sind polarisiert, gebannt von einem Geschehen der Gegenwart1, das keine nüchterne Analyse zuzulassen scheint. Wer sie versucht und vielleicht zu Ergebnissen kommt, die der einen oder anderen Seite nicht gefallen, bekommt die Breitseite der jeweils anderen Seite zu spüren.2 Innerhalb der politischen Linken – aber natürlich bei weitem nicht nur da – überdeckt der Krieg in der Ukraine derzeit alles andere. Eine Diskussion auch über eigene Fehler in Zeiten von Corona findet nicht statt. Oder zumindest kaum.
Zwei aktuelle Bücher von prominenten und „altgedienten“ Linken liefern Ansätze für eine tiefergehende Diskussion. Sie können auch als vorsichtige Bilanz aus eben diesem politischen Spektrum gelesen werden. Der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge hat unlängst ein Buch zur „polarisierenden Pandemie“ vorgelegt und der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth Anfang des Jahres einen dicken Band zu „Blinden Passagieren“, wie er die Corona-Viren nennt. Die unterschiedliche Perspektive spiegelt sich im Titel wieder. Versucht Butterwegge eine sozialwissenschaftliche Bilanz, so geht Roth das Thema globalhistorisch an und kann sein Wissen als langjähriger Hausarzt beisteuern.
Beide Bücher liefern auf je unterschiedliche Weise einen Eindruck vom Elend der Linken mit Corona. Roth verbeißt sich in viele Statistiken, spricht von Dunkelziffern und changiert bei der Bewertung zwischen überzogen (Lockdowns) und zu schwach (Präventionsmaßnahmen). Er liefert viele Details über das Corona-Geschehen weltweit, schaut sich die Vorgeschichte und die Folgen an. Dadurch bietet er eine Perspektive, die wertvoll ist, um den verengten Blick auf das Geschehen in Deutschland und Europa zu weiten. Gleichzeitig setzt er wie auch Butterwegge auf die Darstellung einer pandemischen Vorgeschichte, die weit zurückreicht. Beide bringen Pest und Pocken ins Spiel und machen somit quasi umgekehrt das, was seit Beginn der Corona-Diskussion mit dem Beispiel der saisonalen Grippe verpönt ist. Während der Grippe-Corona-Vergleich vorgeblich die Gefahren verharmlost, bauscht der Pest- oder Pocken-Vergleich diese auf.
Bei Roth wirkt dieser Vergleich eher wie ein Fremdkörper, kann er doch durch viele – zuweilen auch sich widersprechende – Zahlen ein recht realistisches Bild zeichnen (mit Datenbasis Mitte 2021). Zusammengenommen hält er Corona für die schwerste Seuche seit der Spanischen Grippe nach dem Ersten Weltkrieg. Das lassen wir vorerst so stehen. Bei Butterwegge hat der Vergleich offenkundig eine andere Funktion. Er bedauert, dass im Bewusstsein der Menschen die Gefahren der Pocken (und damit aus seiner Sicht der Segen der Impfung) verschwunden ist. Ergo will er den Menschen wieder Gefahren vermitteln. Und nicht nur das.
Linke Impfpropaganda
Auf die Spitze treibt Butterwegge sein manipulatives, autoritäres Verhältnis gegenüber den Bürgern beim Thema des sogenannten Impfens und der Skepsis gegenüber den neuartigen Substanzen, die, wie wir spätestens seit diesem Jahr wissen, gar keine (langfristige) Immunität erzeugen können.3 Das hat Butterwegge noch nicht mitbekommen. Er bleibt Impfpropagandist. Ihm war, so mag man sarkastisch sagen, die gern zitierte Bratwurst für den „Pieks“ nicht genug. Zwar kritisiert er in seinem Buch zunächst den Druck auf Ungeimpfte. Seine Alternative ist kaum besser:
Anstatt derart massiven Druck auf impfskeptische Bürger/innen auszuüben, hätte man auch versuchen können, die Impfbereitschaft durch mehr niedrigschwellige Angebote und besondere Gratifikationen, etwa Lebensmittelgutscheine oder finanzielle Anreize, zu erhöhen.
Kommt es ihm – wie so vielen anderen – nicht in den Sinn, dass die Menschen klüger sind, als er glaubt? Vielleicht gar klüger als er? Dass sie wissen, was ihnen da Leute wie Lauterbach, Drosten, Ugur Sahin (Biontech) und Co. aber eben auch Butterwegge da gerne spritzen würden? Etwas, was nicht so hilft wie versprochen und einigen sogar schadet?4
Butterwegges Satz klingt vielleicht etwas netter als das „Wir impfen Euch alle“, das einige vorgebliche Linke den Kritikern der Corona-Maßnahmen entgegen hielten.5 Inhaltlich ist es dasselbe. Gut nur, dass die Menschen klug genug sind, solchen manipulativen Sozialtechnokraten die kalte Schulter zu zeigen. Denn deren Vorstellung von Wohlfahrtstaat geht von der Obrigkeit aus und nicht von der Freiheit des Individuums. Dabei ist auch für die Linke das „Reich der Freiheit“ (Karl Marx)6 die entscheidende Utopie – auch wenn Sozialisten natürlich eine andere Vorstellung von Freiheit haben als die bürgerlich-liberalen.7 Über diese Freiheit wäre zu diskutieren, auch darüber, dass bereits der Weg zu einer anderen, sozialistischen Gesellschaft den Geist der Freiheit in sich tragen sollte, um nicht wieder ins Autoritäre abzudriften. Wegen der letztlich autoritären, paternalistischen Vorstellung, wie sie Butterwegge hier vertritt, wenden sich viele von der Linken ab und kommen ganz rechts an.
Butterwegge beteiligt sich also an der Polarisierung der Pandemie, die er auf der anderen Seite beklagt. Und nicht nur der zitierte Satz sowie der an vielen Stellen durchscheinende manipulative Charakter seiner Vorstellung von Politik sind an dem Buch zu kritisieren. Der Erkenntnisgewinn zur Pandemie ist gering, man lernt mehr über den Autor als über den Gegenstand. So enthält das Buch teilweise seitenweise Beschreibungen der Maßnahmen. Ermüdend. Butterwegge referiert politische Entscheidungen ohne sie einzuordnen oder zu analysieren, was knapp zwei Jahre und viele Studien später auch für medizinische Laien möglich gewesen wäre. Affirmiert Butterwegge gar die staatlichen Maßnahmen? Es wirkt so. Wer das Buch mit kritischem Bewusstsein liest, der reibt sich die Augen: Was hat der Autor alles nicht mitbekommen? Nun ist die Medizin zwar nicht sein Thema, aber die sozialen „Kollateralschäden“ der Maßnahmen schon. Denn er ist schließlich Armutsforscher.
Und richtig, wer Daten und Fakten zur Entwicklung der Sozialstruktur in den vergangenen zwei Jahren sucht, wird fündig. Butterwegge präsentiert viele Quellen und Belege für das weitere Auseinanderdriften von Arm und Reich. Und dass dafür die Maßnahmen mindestens mitverantwortlich sind. Dabei ist er selbst offenbar so sehr von den Gefahren überzeugt, dass er sich die naheliegende Frage, wem das alles nützt, nicht stellt. Lieber drischt er verbal auf die ein, die die ganze Sache – auch von linker Seite – kritischer sehen, vermengt das alles mit Analysen zu einer generellen Rechtsentwicklung der Gesellschaft und endet sein Kapitel zur Polarisierung mit einem Satz über den Journalisten Paul Schreyer, den man sich gerne zweimal durchlesen sollte um die ganze Tragweite der vertretenen Position zu verstehen.
Panik trübt das Denken
Zunächst zitiert Butterwegge aus Paul Schreyers Buch „Chronik einer angekündigten Krise“ und dort vor allem die Überlegungen des Autors, ob es nicht sinnvoll wäre, verschwörungstheoretisches Denken, das zwar neugierig ist aber möglicherweise übertreibt und einen Hang zur Negativität hat, mit der Zufallstheorie zu kombinieren, die von einer relativ heilen Welt ausgeht. Schreyer schreibt: „Vielleicht besteht der Ausweg aus einer Synthese, einer Verbindung aus beiden Denkarten, in der die hartnäckige, kritische Neugier der Verschwörungstheoretiker mit dem vertrauensvollen Optimismus der Zufallstheoretiker fusioniert.“ Schreyer erhofft sich einen Erkenntnisgewinn durch das gemeinsame Streben nach Wahrheit.
Für Butterwegge ist das zuviel. Seine Kritik zeugt vom ganzen Elend der Linken, wenn sie Corona nur aus einem Panik-Modus wahrnimmt. Butterwegge hält Schreyers Ansatz für „weder möglich noch sinnvoll“:
Vielmehr hatte Friedrich von Logau, ein unter dem Pseudonym Salomon Vongola schreibender Dichter, schon im 17. Jahrhundert erkannt, das – so eine oft zitierte Volksweisheit – in Gefahr und höchster Not, also auch während der Pandemie, der Mittelweg den Tod bringt.
Dem ist entgegen zu halten: Wer nur Tod und Schrecken sieht, der kann nicht klar denken.
Das gilt für Karl Heinz Roth nicht. Er kann klar denken. Und differenziert. Seine 500 Seiten sind ein Nachschlagewerk für viele Aspekte des Geschehens und das weltweit. Man kann seine Bewertung teilen oder nicht, durch die Materialfülle und die verschiedenen Blickwinkel, mit denen er auf das erste Corona-Jahr schaut, kann jeder etwas aus dem Buch lernen. Roths eigene Bewertung ist transparent dargestellt, beruht auf Erkenntnissen bis Mitte 2021 und er ordnet ein. So eignet sich Roths Buch auch dafür, nüchtern Bilanz zu ziehen – auch wenn es bei den Quellen eine Eigentümlichkeit gibt. Roth zitiert mehrfach sich selbst. Genauer: Das eigene Archiv der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Es ist verdienstvoll, dass Roth dort vieles zur aktuellen Situation gesammelt hat und weiter sammelt. Weniger nachvollziehbar ist, dass er nach Archivsignatur zitiert, ohne dass die genaue Quelle erkennbar wird. Es handelt sich schließlich nicht um Dokumente, die es nur am Ort des Archivs gibt, wie das bei historischen Archivalien (beispielsweise von Unternehmen oder Staaten) sonst der Fall ist. Die Praxis erweckt den Eindruck, Roth wolle seine eigenen Quellen verschleiern, denn auch die Erläuterung am Ende des Buches erklärt nur, welche Texte er aufgenommen hat. Zeitungen, Zeitschriften und ähnliches. Was er konkret mit den Archivsignaturen meint, bleibt fast immer rätselhaft. Zum Glück betrifft dies nur einen kleinen Teil im umfangreichen Anmerkungsapparat. Gleichwohl ist dies keine rein formale Kritik, denn wenn jemand auf die genaue Quellenarbeit setzt und seine Schlüsse nachvollziehbar sein sollen, muss man ihm an genau diesem Anspruch messen. Eine Nachfrage beim Autor, warum er diese Praxis gewählt hat, blieb unbeantwortet. Auf Nachfrage erläuterte Roth, dass es sich um Zeitungsartikel, Forschungspapiere und Lageberichte bzw. Analysen der einschlägigen Behörden handele, die nach vollständiger Erschließung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. (Änderung am 18.7.22 nach Hinweis von Karl Heinz Roth. Seine zeitnahe Antwort auf die Nachfrage hatte den Autor aus technischen Gründen vorher nicht erreicht.)
Fasst man Roths Bewertung von Corona und den Auswirkungen in aller Kürze zusammen, so kritisiert er zum einen die Lockdowns als wenig wirksame Maßnahme. Prävention in Form von Desinfektion, Masken und Tests wäre seiner Meinung nach angebrachter gewesen. Seine Globalanalyse ergibt, dass vor allem die Ärmeren in den Gesellschaften unter der Krankheit aber auch den Maßnahmen zu leiden hatten. Und er erkennt, dass viel mit Ängsten gearbeitet und die Panik geschürt wurde.
Zwischen den Polen
Diese Panik erreichte auch Linke wie Verena Kreilinger und Christian Zeller. Beide waren und sind Protagonisten der Zero-Covid-Fraktion. Roth kritisiert zu recht, dass sie (wie viele andere) viel zu unkritisch auf die Modellrechnungen der Biomathematiker gestarrt haben. Dass sie dies getan und die scheinbar felsenfesten naturwissenschaftlichen Daten nicht hinterfragt haben, liegt vermutlich auch am Wissenschaftsverständnis vieler Linker. Ein Teil ihres Elends. Dass die Naturwissenschaft keinesfalls fehlerfrei agiert, dass ihre Ergebnisse vom Hintergrund der konkreten Interessen und den Annahmen der Wissenschaftler (und ihrer Erkenntnistheorie) abhängt, scheint mittlerweile verdrängt zu sein.8
Roth selbst geht von einer grundlegend kritischen Position aus. Er kritisiert die Politik aber auch die Kritiker der Maßnahmen. Er versucht sich an den Tatsachen zu orientieren – so wie er sie nach tiefgreifender Analyse vieler Fachartikel versteht. Geht man von der polarisierenden Pandemie aus, wie sie Christoph Butterwegge nennt, dann gehört er zu keiner der beiden Pole. Er identifiziert sich mit Experten, die gezielte vorbeugende Schutzmaßnahmen für die tatsächlich Gefährdeten unterstützen. Diese sieht er in der Minderheit. Eine solche sachliche Position der Mitte hat es schwer. Sie ist aber gerade auch für Linke hilfreich, um sich aus der Umarmung derer zu lösen, die es mit dem Gerede von der Solidarität geschafft haben, dass Linke autoritäre Maßnahmen des kapitalistischen Staates unterstützen und vorantreiben. Der Höhepunkt: Die Kontrolle von 2G-Nachweisen in der Anarcho-Pizzaria.9
Von solchen Auswüchsen konnte Roth in seinem Buch noch nicht berichten. Ohnehin befasst er sich kaum mit den Antworten der politischen Linken, wobei er die „linke“ Tendenz zur Unterstützung von „ZeroCovid“ als autoritär kritisiert. Auf seinen eigenen Ausblick komme ich noch zu sprechen. Zunächst noch einmal zu einigen wichtigen Erkenntnissen, mit denen Roth die Literatur zum Thema Corona bereichert. So hat er sich genau diejenigen angeschaut, die sich in den Jahren vor der Krise mit möglichen Pandemien beschäftigt haben. Und das sind, nach den Erfahrungen der vergangenen Monate nicht verwunderlich, die Pharmakonzerne. Statt klinische Reservekapazitäten aufzubauen, was dem kapitalistischen Gesundheitsmarkt widersprochen hätte, „beschränkten sich die Vorkehrungen für den Pandemiefall immer stärker auf den renditeträchtigen Sektor der antiviralen Medikamente und Impfstoffe“. Und das ist ein weltweites Problem, schreibt Roth. Denn gerade im globalen Süden konkurriert der Aufbau einer nachhaltigen Basisversorgung mit Impfprogrammen. Die zweite Linie setzte sich unter dem Schlagwort „Gates Approach“ durch.10 Der Ansatz von Bill Gates also.
Interessant auch, wer in Deutschland mit den Pandemieplänen befasst ist. Die Akteure des „zivilen Bevölkerungsschutzes“ haben in den 1980er Jahren noch Atomkriegsübungen veranstaltet, nun sind die Beamten für die Prävention von anderen Katastrophen zuständig. Auch für Pandemie-Übungen. Und die erinnern bei der Lektüre an die dramatischen Atomkriegs-Szenarien des Kalten Krieges. Ein Planspiel aus dem Jahr 2007, dessen apokalyptische Ergebnisse Roth darlegt, hatte keine sinnvollen Gegenmaßnahmen zur Folge. Sie wären, das schreibt der Autor ebenfalls, auch gar nicht möglich gewesen, denn alles wäre zusammengebrochen. Annahmen und Inhalte der Rechnungen waren fehlerhaft so Roth. Solche Dramatisierungen führten nach seiner Feststellung dazu, das die Risiken von mittelschweren Pandemien ignoriert wurden.
Interessen und Kapital
Allein schon diese Ausführungen sollten der politischen Linken zu denken geben. So ganz falsch scheinen viele der Maßnahmen-Kritiker also nicht zu liegen, auch wenn sie vielleicht ihrerseits zuweilen übertreiben. Man kann in jedem Fall sagen: Die vermeintlichen Verschwörungstheorien um Gates und um Pandemie-Planspiele haben eine Basis in der Realität. Karl Heinz Roth würde vermutlich nicht so weit gehen, dass sich hier bewusst verschworen wurde. Er sieht eher die Interessen des globalen Kapitals.
Kann man an vielen Punkten Roths Ausführungen folgen, so gibt es auf den vielen Seiten des Buches genügend Stellen, an denen ein kritisches Nachfragen nötig wäre. Gerade auch aus linker Perspektive. Klaus Wernicke, Marcus Mohr und Michael Kronawitter haben in ihrer umfangreichen und lesenswerten Rezension des Buches bereits vor einigen Wochen auf einige Stellen hingewiesen, bei denen Roth dem Narrativ der Herrschenden oder auch der Virologen folgt.11 So stellt Roth beispielsweise zunächst die mRNA-Technik als „sicher und etabliert“ dar – allerdings, wie er ebenfalls schreibt, in der Krebstherapie. Vermutlich macht er dies, um im vergifteten Diskurs nicht gleich als „Leugner“ dazustehen. Denn er weist ebenfalls darauf hin, dass die Prüfung der Stoffe nachlässig gehandhabt wurde, spricht von „Massenversuchen“ und vielen Nebenwirkungen. Roth bemüht sich um die Fakten und darum, das Thema möglichst umfassend darzustellen. So weist er auch auf den veränderten Alltag, die Uniformierung durch die Maske und das Fehlen von Berührungen hin. Da er gleichzeitig auf deren Schutzwirkung setzt, nimmt er dies hin.
Dabei ist die Frage, ob diese „Basishygiene“ wirklich zielführend ist. Wernicke, Mohr und Kronawitter stellen Masken, Desinfektionsmitteln und Abstandhalten folgende Basiswerte entgegen: „gute Ernährung, sauberes Trinkwasser, Kanalisation und zweckmäßiger Wohnraum“. Roth scheint vielfach stark vom „pandemischen Geschehen“ gebannt zu sein, dass er solch Notwendigkeiten wenn überhaupt am Rande bei der Beschreibung der Lage im globalen Süden erwähnt. Allerdings erkennt er den neuartigen biotechnisch-pharmazeutischen Komplex (in Parallele zum militärisch-industriellen), der sich im Entstehen befindet. Das ist wiederum für den kapitalismuskritischen Rückblick auf die vergangenen Jahre wichtig.
Roth beschreibt eine Systemkrise der Weltökonomie und fordert einen Strategiewechsel. „In den sozialen Kämpfen der nächsten Jahre wird darüber entschieden, ob sich eine solche Wende durchsetzen lässt.“ Mit diesem letztlich aus linker Sicht zunächst banalen Satz beendet er sein Buch. Es ist ein blinder Fleck seines Buches, dass er neben seiner Kritik an „ZeroCovid“ die Frage ausklammert, warum eine große Zahl an Linken statt soziale Kämpfe zu führen auf autoritäre Maßnahmen gesetzt hat, die ihnen oftmals nicht hart oder konsequent genug waren. Meine These: Diese Linke hat gar keine utopische Vision mehr, für die sie kämpfen will.12 Sie verläuft sich im vermeintlichen Kampf gegen Rechts. Dieser mündet in Impfpropaganda – Butterwegge lässt grüßen. Statt Weltrevolution heißt es nur mehr Impfstoffe für die Welt. Da auch Karl Heinz Roth dieses Elend der Linken nicht betrachtet, bleibt er letztlich selbst darin gefangen. Auch wenn sein Buch interessante Erkenntnisse liefert, von denen an dieser Stelle nur einige referiert werden konnten.
Karl Heinz Roth, Blinde Passagiere. Die Coronakrise und die Folgen, Verlag Antje Kunstmann, 503 Seiten, 30 Euro
Christoph Butterwegge, Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona, Beltz Juventa, 250 Seiten, 19,95 Euro
Endnoten
1 Auf den hervorragenden Aufsatz zum „pandemischen Jetzt“ von Johannes F. Lehmann, der um die Frage des „Banns der Gegenwart“ kreist, weist Ulrike Guérot in ihrem Buch „Wer schweigt stimmt zu“ hin. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/aus-dem-pandemischen-jetzt.
3 https://swprs.org/how-effective-are-covid-vaccines-really/ (Die zusammenfassenden Übersichten der Experten auf der Schweizer Website sind interessant, auch wenn die Autoren – aus guten Gründen – anonym arbeiten.)
5 Vgl. Gerhard Hanloser, Corona-Rebellen, Linke und Antifa, in: Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Anne Seek (Hrsg.), Corona und linke Kritik(un)fährigkeit, Neu-Ulm 2021, S. 25
6 Eine Zusammenstellung der verschiedenen Stellen, an denen Marx von Freiheit spricht, findet sich im Marx-Lexikon von Wal Buchenberg: https://marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_f/freiheit.html
7 https://jacobin.de/artikel/david-harvey-sozialismus-neoliberalismus-the-anti-capitalist-chronicles/
8 Vgl. hierzu zwei ältere Texte des Autors: https://www.heise.de/tp/features/Natur-und-Gesellschaft-neu-denken-6180328.html sowie insbesondere die Ausführungen zu These drei im folgenden Text: https://www.nachdenkseiten.de/?p=72265
11 https://wolfwetzel.de/index.php/2022/03/26/blinde-passagiere-blinde-oeffentlichkeit-eine-buchbesprechung-zu-karl-heinz-roths-neuem-buch/
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12 Vgl. Artur Becker, Links. Ende und Anfang einer Utopie, Frankfurt 2022. Eine Rezension folgt demnächst an dieser Stelle.
Der Autor
Helge Buttkereit, geboren 1976, hat Geschichte, Politikwissenschaft und Journalistik studiert und 2003 seine Abschlussarbeit zum Thema Zensur und Öffentlichkeit am Anfang des 19. Jahrhunderts geschrieben. Nach journalistischen Tätigkeiten bei verschiedenen Medien und Buchveröffentlichungen über die Neue Linke in Lateinamerika arbeitet er aktuell in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.