Krise der Linken

Lehrbuch für den Neubeginn der Arbeiterbewegung

Von der alten Arbeiterbewegung ist nicht mehr viel übrig. Gewerkschaften, Sozialdemokratie und andere linke Parteien sind entweder im Establishment angekommen oder marginalisiert. Da liegt es nahe, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen, die Grundlagen der verschiedenen Strömungen zu verstehen und mit Marcel van der Linden in die Zukunft zu schauen. Ein weiterer Teil unserer lockeren Reihe von Rezensionen zur Krise der Linken.

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Die IG Metall ist mit mehr als 2 Millionen Mitgliedern die größte Einzelgewerkschaft Deutschlands. Das Foto zeigt einen Warnstreik in Witten im Jahr 2012.
Foto: Frank Vincentz, Lizenz: CC BY-SA, Mehr Infos

Diese Zeiten hätten eine starke Arbeiterbewegung bitter nötig. Eine Bewegung der Werktätigen, die ihre Interessen gegen das Kapital durchsetzen kann und sich vereint gegen die Kriegstreiber stemmt. Eine Bewegung, die das Fernziel der „freien Assoziation der Produzenten“ nicht aus den Augen verliert und dabei gleichwohl in der Gegenwart realistische Ansätze entwickelt, wie es konkret besser werden kann. Diese Zeiten scheinen allerdings weit entfernt von einer solchen Arbeiterbewegung. Schließlich sind Gewerkschaften, Sozialdemokratie sowie andere linke Parteien längst entweder im Establishment angekommen oder marginalisiert. Die außerparlamentarische Linke hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ins Sektenwesen zurückgezogen und kaum eine Verbindung zu den Werktätigen, den Lohnabhängigen, der Klasse, die Marx das Proletariat nannte.

Die Organisationen der Arbeiterbewegung, die bis heute existieren, sind meist eine Karikatur dessen, was sie zu sein vorgeben. Sie sind nicht mehr Interessenvertretung der Arbeiterklasse, die allerdings selbst keinen Begriff, keine Vorstellung mehr von sich als Klasse hat. Der Historiker Marcel van der Linden, der wie kaum ein Zweiter die weltweite Arbeiterbewegung kennt, analysiert in seinem neuen Buch die Entwicklung bis heute. Trotz der ernüchternden Bestandsaufnahme schaut der frühere Forschungsdirektor des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam am Ende des Buches trotzdem in die Zukunft und stellt Überlegungen an, wie eine neue Organisation aussehen könnte.

Angesichts des Scheiterns der bisherigen Ansätze müsste das Verhältnis zwischen politischen und wirtschaftlichen Kämpfen völlig neu überdacht werden, meint er. Die Trennung der Arbeiterbewegung in einen „industriellen“ und einen „politischen“ Arm sei, so schreibt er unter Bezug auf den ungarischen Marxisten István Mészáros, eine der größten Tragödien der Geschichte der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts. Es brauche die Verbindung von Selbstemanzipation, die insbesondere der Anarchismus hochgehalten hat, mit dem Parteisozialismus.

Wenn der Sozialismus überleben soll, wird er daher wohl Ansätze ,von unten‘ und ,von oben‘ kombinieren müssen, indem er Regierungspolitik, Selbstorganisation und groß angelegte Mobilisierung strategisch miteinander verbindet. (207, die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf das besprochene Buch)

Ein Neustart muss das berücksichtigen was war. Eine andere, sozialistische Gesellschaft sei nur als Ergebnis eines umfassenden Lernprozesses denkbar, so van der Linden, „in dem der gesellschaftliche Wandel von einer Selbstveränderung begleitet wird“. Die Organisationsfrage ist, so könnte man es anders ausdrücken, mit der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Organisierten verbunden. Das dauert und mag angesichts der drängenden Probleme und der daraus erwachsenden revolutionären Ungeduld keine besonders befriedigende Aussage sein. Sie erwächst allerdings logisch aus der historischen Erkenntnis und der Analyse der Arbeiterbewegungen, wie sie der Autor in seinem Buch vornimmt.

Dieses Buch kann Teil des notwendigen Lernprozesses sein, der ja nicht irgendwann in der Zukunft, sondern genau jetzt stattfinden sollte, stattfinden muss. Es gilt zu verstehen, warum die Organisationen der Arbeiterbewegung den Zustand erreicht haben, in dem wir sie heute vorfinden, und wie die Arbeiter in der Geschichte auf die Herausforderungen des Kapitals reagierten, welche Organisationstypen entstanden und wie diese auf den jeweiligen Entwicklungsstand des Kapitalismus reagierten. Die Organisationen der Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, Parteien und andere, haben den Kapitalismus verändert, und sie haben sich selbst verändert. Sie sind Sachwalter und Bewahrer des bestehenden Systems, die dafür sorgen, dass die Räder laufen als sie still stehen zu lassen, wie es einst im Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein hieß.

Weltweit sind die Konsumgenossenschaften entweder darnieder gegangen, oder sie haben sich in Einzelhandelsunternehmen verwandelt, wo die Mitglieder nicht mehr über demokratische Macht verfügen. Die Gewerkschaften sind nicht nur eine schwache Kraft, sondern ihre Macht nimmt sogar ab; und in vielen Ländern haben die Gewerkschaften ihre Verbündeten, die ArbeiterInnenparteien, verloren, entweder weil diese Parteien untergegangen sind oder weil sie neoliberale Positionen übernommen haben. (11)

Während die Arbeiterbewegung einen allumfassenden Niedergang erlebt, entstehen auf der anderen Seite rechte Parteien und Nichtregierungsorganisation, von denen letztgenannte „teilweise Aufgaben übernommen haben, für die traditionell die internationale Gewerkschaftsbewegung zuständig gewesen wäre“. (12)

Marcel van der Linden führt in thematischen Kapiteln durch die Geschichte der Arbeiterbewegung. Er betrachtet den Anarchismus, den Syndikalismus, Sozialdemokratische und Kommunistische Parteien, den Bolschewismus/Leninismus und die Gewerkschaften und arbeitet dabei jeweils konkret die Aspekte heraus, die zu Aufstieg und Niedergang geführt haben. Dies geschieht dialektisch im konkreten Bezug der Organisation zur Lebenswirklichkeit der Arbeiter sowie eben zum Entwicklungsstand des Kapitalismus und des Staates – und ist keine formalistische Geschichtsschreibung, die rein auf die Organisationstypen schaut1. Auf 200 Seiten gelingt es ihm, die großen Linien aufzuzeigen und das mit einem globalen Blick auf den Gegenstand.

Anarchismus und Syndikalismus

Der Anarchismus entstand laut Marcel van der Linden in der „Scharnierzeit“. In dieser wurde der „Untertan“ zum Bürger, während der „nehmende Staat“ des Absolutismus noch stark im Bewusstsein verankert, der „gebende Staat noch nicht voll entwickelt“ (23) war. Zur Selbsthilfe entstanden Vereinigungen wie autonome Genossenschaften und andere alternative, autonome Konzepte, die sich zum Staat abwehrend verhielten. Wo sich der „gebende“ Wohlfahrtsstaat durchsetzte – in direkter Auseinandersetzung mit anderen Teilen der Arbeiterbewegung, von denen noch die Rede sein wird – hatte der Anarchismus keine Chance. Denn es gelang dem Kapitalismus, in Verbindung mit den anderen „reformistischen“ Organisationen der Arbeiterbewegung, die Unterschichten zu Teilhabern der Gesellschaft zu machen. Sie integrierten sich als Produzenten wie auch als Konsumenten.

Eng verbunden mit den Anarchisten ist der Syndikalismus, der die Arbeiter in der Produktion selbst organisiert. Materielle Grundlage für diese Organisationsform sind kurze Arbeitsverhältnisse und die Entprofessionalisierung der Arbeit in der beginnenden Industriegesellschaft, die fachliche Qualifikationen weniger erforderlich machen. Wer morgen seinen Arbeitsplatz verlieren konnte, wer austauschbar war, der musste heute um bessere Bedingungen und mehr Geld kämpfen, das führte zu direkten Aktionen gegen die Unternehmer. Das Tarifvertragssystem, das von den klassischen Gewerkschaften getragen wird, kritisieren die Syndikalisten.

Die Gewerkschaften identifizierten sich „aufgrund der Tarifverhandlungen zu stark mit den Unternehmern, aufgrund der Schlichtungsverfahren und des Wohlfahrtsgedankens zu stark mit dem Staat.“ (54) Überall dort, wo es Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebern gelang, den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit zu institutionalisieren, konnten die Arbeiter integriert werden. Der Syndikalismus wiederum erreichte in revolutionären Situationen eine gewisse Majorität in der Bewegung und wurde nach deren Ende wieder an den Rand gedrängt.

Sozialdemokratie und Gewerkschaften

Entscheidend für die Integration der Arbeiter in Staat und Kapitalismus sind Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Den einen, den Sozialdemokraten, ist es gelungen, die Arbeiter politisch zu integrieren – zunächst im Kampf für das allgemeine Wahlrecht und dann um den Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Die anderen, die Gewerkschaften, integrierten die Arbeiter durch das Tarifvertragssystem in den Kapitalismus.

Das Ziel der Sozialdemokratie war demnach die bürgerliche Emanzipation der Arbeiterklasse, sie war laut van der Linden auch vor dem Ersten Weltkrieg nicht revolutionär. Dass in revolutionären Zeiten wie in der Novemberrevolution die Arbeiter auf die Sozialdemokratie setzten, führte letztlich zur blutigen Niederlage der Revolutionäre. Die Sozialdemokratie hatte (nicht nur) hierzulande das allgemeine Wahlrecht erkämpft und zielte nun darauf, dass die ungehemmte kapitalistische Konkurrenz durch eine geplante Wirtschaft ersetzt würde, der Keynesianismus setzte sich durch.

Die Übernahme des sozialen Keynesianismus in Praxis und Theorie veränderte den Charakter der sozialdemokratischen Parteien durchgreifend. Aus reformistischen ArbeiterInnenparteien hatten sich Reformparteien mit ArbeiterInnenanhang entwickelt. (76)

Die Arbeiter blieben der Sozialdemokratie verbunden, weil sie durch diverse Netzwerke an sie gebunden waren. Und solange auf der einen Seite ein relativer Mangel an Arbeitskräften existierte und auf der anderen Seite dem Kapital das sowjetische Beispiel drohte, funktionierte der sozialdemokratische Wohlfahrtstaat. Dafür sorgten auch die Gewerkschaften, die nach langen, teilweise syndikalistischen Kämpfen, zumindest in Deutschland im November 1918 von der Industrie als Partner anerkannt wurden. Das Tarifvertragswesen, für das es eine starke Gewerkschaftsbürokratie zur Verwaltung der Streikkasse brauchte, führte zu stabilen Verhältnissen.

Das Ergebnis war die Integration der Gewerkschaftsbewegung in die kapitalistische Wirtschaft, denn die Gewerkschaften hatten wie die Unternehmer ein Interesse daran, die bestehende ökonomische Grundstruktur aufrechtzuerhalten: Die kapitalistische Produktionsweise war zur Grundlage ihrer organisatorischen Existenz geworden. (158)

Das gilt im Grunde genommen bis heute, zumindest für die Kernbelegschaften. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, der Öffnung der globalen (Arbeits-)Märkte sowie der Restrukturierung der industriellen Produktion kommen Gewerkschaften wie sozialdemokratische Parteien in eine Krise.

Allmählich machte der von Keynes inspirierte Wohlfahrtsstaat Platz für ,Nationale Wettbewerbsstaaten‘, die der Förderung der Konkurrenzposition der nationalen Ökonomie den Vorrang gaben gegenüber der ‚Sozialpartnerschaft‘ aus der Zeit des Kalten Kriegs. (162)

Die Parteien haben in dieser Situation einen geringeren Spielraum dafür, „gute Dinge für die Menschen zu tun“ (84). Unter den veränderten strukturellen ökonomischen Bedingungen bauen sie Sozialleistungen ab und werden dafür abgestraft. Die traditionelle Arbeiterklasse und damit die Kernwählerschaft der Sozialdemokraten schrumpft, zumindest in den ehemaligen Zentren. Dazu steigt zum einen die Bedeutung des Umweltschutzes, was den Aufstieg grüner Parteien erklärt, und zum anderen wenden sich viele Wähler der rechten Opposition zu, die Alternativen versprechen. Die Sozialdemokraten haben sich zu „normalen“ bürgerlichen Parteien entwickelt, so van der Linden. Auch der radikale Flügel, die Kommunisten, bietet nach dem Ende des Ostblocks keine Alternative mehr.

Bolschwismus, Leninismus und kommunistische Parteien

Wobei der Parteikommunismus nie eine wirkliche Alternative im Hinblick auf das oben bestimmte Fernziel darstellte. Dagegen stand schon der zentrale Widerspruch in Lenins Organisationstheorie, der letztlich alle Organisationen beeinflusste. Van der Linden schreibt: „Sie [die Organisationstheorie] will die Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse fördern, indem sie sie einer übergeordneten, hierarchischen Organisation unterordnet.“ (117) Für Lenin war, in Anlehnung an Karl Kautsky und andere, die Revolution eine Frage des Überbaus, der wissenschaftliche Sozialismus unabhängiges Produkt revolutionärer Intellektueller.

Ganz richtig konstatierte Lenin, dass der ökonomische Kampf der Arbeiterklasse verschmelzen muss mit der revolutionären politischen Theorie, aber er sieht diese Verschmelzung als die Kombination zweier völlig unabhängiger Elemente. (109)

Laut van der Linden brachte Lenin zwei Ideen zusammen: „Die deutsch-marxistische Idee, revolutionäre Gedanken von außen einzubringen, wurde kombiniert mit dem russischen Konzept einer konspirativen Eliteorganisation.“ (110) Lenins Theorie wurde unter Bezug auf Russland und dessen despotische Tradition entwickelt. Dies wurde nach der Oktoberrevolution im westlichen Marxismus breit diskutiert und muss bei der Analyse der Fehler und Halbheiten früherer Organisationen ebenfalls bedacht werden. Letztlich wurde der „Marxismus-Leninismus“ zu einer starren Ideologie einer „bürgerlichen Elite“, so van der Linden, wobei diese, das wäre begrifflich präziser, zumindest in der Sowjetunion eher in der Tradition der despotischen Bürokratie des zaristischen Russlands stand.

Die revolutionäre Theorie Lenins und die Praxis der Bolschewiken in Russland prägte einen ganzen Flügel der Arbeiterbewegung, der vielerorts als Folge des Ersten Weltkriegs und der Einhegung der Sozialdemokratie in den Staat entstand. Die Parteien zogen vor allem Arbeiter an, die sich um die unmittelbare Zukunft sorgten und in „sozialer Ungeduld“ sofortige (revolutionäre) Veränderungen anstrebten, auch die Parteien verfolgten das Ziel einer schnellen proletarischen Machtergreifung, in Deutschland beispielsweise.

Als sich die soziale Lage etwas stabilisierte, mussten sich auch die Parteien anpassen. Sie hatten dann zwei Möglichkeiten: Entweder sie konzentrierten sich auf soziale Reformen und wurden dann leicht zu einem ‚linken Flügel‘ des bestehenden Systems; oder sie verzichteten auf einen harten Kampf für Reformen und die damit verbundenen Kompromisse und wurden entweder zur Sekten, die ihre Machtlosigkeit mit revolutionärer Phraseologie verhüllt, oder sie verfielen, von Ungeduld getrieben, in putschistische Abenteuer. (130)

Diese Entwicklung hält letztlich bis heute an, auch wenn die putschistischen Aktionen zum Glück meist unterbleiben. Auf die ökonomischen und sozialstrukturellen Veränderungen haben die kommunistischen Parteien keine offensive Antwort gefunden. Das mag auch damit zusammenhängen, dass bis heute oftmals die schonungslose Selbstkritik und das Bewusstsein über grundlegende Widersprüche der eigenen Organisationstheorie fehlt. Van der Lindens Hinweise auf wenigen Seiten und seine umfangreichen Belege können hierfür hilfreich sein.

Für Autonomie und gegen Regression

Wer heute versucht, die Werktätigen neu in Bewegung zu bringen, muss sich mit grundlegend veränderten Bedingungen befassen. Es braucht eine Antwort darauf, dass die Verdoppelung der Arbeitskräfte, die für den Weltmarkt produzieren, den Druck auf die Arbeitsmärkte hochhält. Das gleiche gilt für den Migrationsdruck, insbesondere auf die Arbeitskräfte in den entwickelten Ländern. Die Streikwaffe der Arbeiterklasse stumpft durch beides ab. Spiegelte der „Vollbeschäftigungskapitalismus“ die wachsende Macht der Arbeiterklasse wider, änderte sich dies mit dem erneuten Fall der Profitrate.

Ideologisch kam es zu einem Wandel von einer nachfragebezogenen hin zu einer angebotsorientierten Politik, die gegen die Arbeiterklasse gerichtet ist. Das sind einige der Stichworte, mit denen die Krise der klassischen Arbeiterbewegung erklärt werden kann. Gleichzeitig wird dadurch aber auch klar, warum die „Rechten“ mit ihren Vorschlägen zur Wahrung nationaler Interessen Zulauf erhalten, denn ihre Vorschläge könnten die Konkurrenz unter den Arbeitskräften wieder einschränken. Die politische Rechte wird damit an dieser Stelle objektiv zum Statthalter der politischen Linke und den mit ihnen verbündeten Gewerkschaften.

Letztlich befinden sich alle linken Bewegungen in der Sackgasse, während die Probleme der einfachen, der lohnabhängigen Menschen eher mehr werden. Van der Linden sieht, davon war bereits die Rede, die Lösung in einer Kombination verschiedener Strategien. Er nimmt Anleihen an Marx und Hans-Jürgen Krahl, die beide vom notwendigen Wandel des Bewusstseins geschrieben haben. Die Arbeiter müssten sich selbst zur Herrschaft befähigen, schrieb Marx 1850, Krahl formulierte es 1969 ähnlich: „Nicht auf einen primären Machtkampf um die politische Macht im Staate kommt es an, sondern darauf, einen wirklich sehr langen Aufklärungsprozess in die Wege zu leiten.“ (208)

Laut van der Linden stehen die Lohnabhängigen vor der Wahl zwischen Autonomie und Regression, denn die Alternative zur Selbsttätigkeit und zur Organisation der eigenen Bedürfnisse ist die Sehnsucht nach einem „allmächtigen Retter“. Er zitiert den Psychoanalytiker Otto Fenichel mit den Worten: „Je größer die Hoffnungen auf einen Erfolg sind, desto stärker sind die aufrührerischen Neigungen. Je größer die Hoffnungslosigkeit ist, desto stärker die Sehnsucht nach Regression.“ (209) Ergänzen könnte man dies unter anderem durch Wilhelm Reichs Überlegungen zum Klassenbewusstsein im Angesicht der Niederlage der Arbeiterbewegung nach 1933.2

Nach der Analyse der Krise und einem knappen Überblick über den Stand des Kapitalismus fehlt an dieser Stelle bei van der Linden allerdings die Verbindung der Organisationsfrage zur ökonomischen Situation der Werktätigen. Deswegen wirken seine abschließenden Seiten wie ein Appell zur Neuorganisation, während die Werktätigen von den Herrschenden immer mehr in Richtung Konsumismus und Passivität gedrängt werden. Van der Lindens Bezug auf das Internet als Hilfsmittel für eine neue Struktur wirkt seltsam naiv, schließlich ist es längst wichtigstes Mittel der Konsumpropaganda geworden.

Letztlich bleibt nichts anderes übrig, als bei den konkreten Erfahrungen und Interessen derer anzusetzen, die sich organisieren müssen. Und es wäre hilfreich, konkrete alternative Überlegungen zur Organisationsfrage zu Rate zu ziehen, wie sie beispielsweise eine Rätepartei im Geiste Rudi Dutschkes3 darstellen könnte. Als Basis für eine schonungslose Analyse des Gewesenen ohne dabei die Hoffnung auf einen Neubeginn zu verlieren, ist Marcel van der Lindens Buch in jedem Fall eine wertvolle Lektüre. Das Buch ist gut lesbar und durch seine verständliche Struktur auch für Neueinsteiger in die Materie geeignet. Es kann so zu einem der Lehrbücher für den notwendigen Neubeginn werden.

Marcel van der Linden, „… erkämpft das Menschenrecht“. Vom Aufstieg und Niedergang klassischer ArbeiterInnenbewegungen, Promedia Verlag, 216 Seiten, 25 Euro

Quellen

1 Eine solche lieferte zuletzt Alexander Neupert-Soppler, Organisation. Von Avantgardepartei bis Organizing, Stuttgart 2021, vgl. https://web.archive.org/web/20220116183422/https://www.jungewelt.de/artikel/418642.organisationsproblem-aus-der-defensive.html

2 https://archive.org/details/Parell_1934_Was_ist_Klassenbewusstsein_k/mode/2up

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3 Siehe Carsten Prien, Rätepartei. Zur Kritik des Sozialistischen Büros. Oskar Negt und Rudi Dutschke. Ein Beitrag zur Organisationsdebatte, Seedorf 2019

Rezensionsreihe zur Krise der Linken

Teil 1: Artur Becker, Links, Westend 2022
Teil 2: Göran Therborn, Die Linke im 21. Jahrhundert, VSA 2023
Teil 3: Sven Brajer, Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken, Promedia 2023
Teil 4: Żaklin Nastić, Aus die Maus, Das Neue Berlin 2023
Teil 5: Lukas Meisner, Medienkritik ist links, Das Neue Berlin 2023
Teil 6: Peter Wahl, Der Krieg und die Linken, VSA 2023
Teil 7: Michael Brie, Linksliberal oder dezidiert sozialistisch, VSA 2024
Teil 8: Karl Reitter, Gemeinsam die Welt retten?, Promedia 2024
Teil 9: Marcel van der Linden, „… erkämpft das Menschenrecht“, Promedia 2023

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