Abenteuerroman

Friedrich Gerstäcker – spannend, widerborstig und widersprüchlich

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Vor 200 Jahren wurde der Pionier der Abenteuer-Literatur geboren

Er führte ein abenteuerliches Leben, und sein Wahlspruch war: „Rast‘ ich, so rost‘ ich.“ Als Friedrich Gerstäcker im Jahre 1872 starb, hinterließ er ein beachtliches Werk. Seine ab 1872 im Verlag Hermann Costenoble in Jena veröffentlichten Gesammelten Schriften umfassten bereits die stattliche Anzahl von 44 Bänden, obwohl viele Manuskripte darin noch gar nicht enthalten waren.

Regulatoren in Arkansas

Friedrich Gerstäcker: Der reisende Schriftsteller beschrieb im 19. Jahrhundert die brutale Realität des amerikanischen Westens in seinen Abenteuerromanen.
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Zu seinen ersten Büchern gehörte der Roman Die Regulatoren in Arkansas; der Untertitel lautet: „Aus dem Waldleben Amerikas“. In diesem neben den Flusspiraten des Mississippi wohl bekanntesten Buch Gerstäckers beschreibt er in Form des Abenteuerromans, wie sich die Siedler von Arkansas gegen das zunehmende Unwesen des Pferdediebstahls und der Wegelagerei durch Selbstjustiz zur Wehr setzen.

Vereinigungen sogenannter Regulatoren traten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall im amerikanischen Westen auf, vor allem nach der Aufhebung der Todesstrafe für Pferdediebstahl im Jahre 1839. In Kalifornien nannten sie sich Vigilanten, und in San Francisco bildete sich zur Zeit des Goldrausches sogar ein Komitee, das eine irreguläre Truppe unterhielt, eine Art Bürgermiliz.

Hier begegnet uns also sehr bald der bekannte Ruf nach „Law and Order“, die für heutige Verhältnisse anachronistisch anmutende und doch immer wieder reale Leserbrief- oder Facebook-Forderung: Rübe ab! Aufhängen! Einfach an die Wand stellen! Wer diesen Aspekt allerdings herausstreichen und damit unterstellen wollte, Gerstäckers Bücher seien heute überholt, würde dabei dreierlei übersehen: Erstens die Zeit ihrer Entstehung, zweitens Gerstäckers individuell humanen Standort und drittens eine Vielzahl anderer Aspekte, die sein Werk nach wie vor lesenswert und aktuell erscheinen lassen.

Antizipativer humaner Ansatz

Am 10. Mai 1816 geboren, war Gerstäcker – und das vermag der Leser seiner Bücher kaum zu glauben – noch ein Zeitgenosse Goethes. Sein in Wirklichkeit antizipativer humaner Ansatz wird aber erst richtig erkennbar, wenn man bedenkt, dass wenige Jahrzehnte vorher in Deutschland noch öffentliche Hexenverbrennungen stattfanden und dass in Preußen die Strafe des Räderns erst im Jahre 1811 abgeschafft wurde.

Die Lynchjustiz war im amerikanischen Westen damaliger Tage durchaus nichts Ungewöhnliches. Es ist bekannt, dass sich in diesen damals entlegenen Landstrichen eine Vielzahl von Strauchdieben und Halsabschneidern herumtrieb, so dass die Siedler des Westens mangels staatlicher Hilfe darauf angewiesen waren, sich selbst zu schützen. Umso verblüffender sind, bei aller Vorführung von Heldenmut und Männlichkeit, Gerstäckers deutliche und sein ganzes Werk prägende Wendungen zu Sanftheit, echter menschlicher Güte, Verträglichkeit und Mitgefühl, die vereinzelten – aus heutiger Sicht bedenklich erscheinenden – Ansichten von vornherein oder im Nachhinein die Schärfe nehmen.

Friedrich Gerstäcker in seinem Arbeitszimmer in Braunschweig
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Die aus Gerstäckers Büchern sprechende menschliche Reife lässt sich aus seinem nicht ganz einfachen Lebensweg erklären. Als er neun Jahre alt war, starb der Vater, ein damals bekannter Operntenor. Die Mutter, ebenfalls Opernsängerin, gab den Sohn aus finanziellen Gründen in die Familie eines Onkels nach Braunschweig. Mit siebzehn kam Gerstäcker dann nach Kassel in eine kaufmännische Lehre, die er jedoch nach einem halben Jahr abbrach. Er wollte nach Amerika auswandern, wurde aber von seiner Mutter noch zurückgehalten. So erlernte er drei Jahre lang auf dem Rittergut Haubitz in Sachsen die Landwirtschaft, bis er schließlich im Alter von einundzwanzig Jahren Deutschland verließ. Sechs Jahre lebte und vagabundierte er in Nordamerika und lernte dort Land und Leute kennen; 1843 kehrte er nach Deutschland zurück. Seine Streif- und Jagdzüge waren inzwischen durch Vermittlung seiner Mutter, aber ohne sein Wissen, als Tagebuchaufzeichnungen in der Zeitschrift „Rosen“ veröffentlicht worden, 1844 erschienen sie als Buch. Schon darin erwies sich der Autor als scharfer Beobachter und hervorragender Erzähler.

Realistische Literatur

Beeinflusst von den Gedanken der Französischen Revolution und der neu auflebenden deutschen Freiheitsbewegung, geprägt aber auch durch eigene Erfahrungen fern vom feudalen Europa, war sich Gerstäcker bewusst, dass Andersartigkeit von Menschen, Renitenz oder Aufsässigkeit durchaus positive Aspekte haben und dass sogar von der Norm abweichendes Verhalten moralisch gerechtfertigt sein kann. Gerstäcker bemüht sich, unterschiedliche Standpunkte und Sichtweisen in seine Bücher einzubringen. Insofern gibt es bei ihm auch nicht den blutrünstigen Wilden als Bestie in Menschengestalt oder die hochstilisierte edle Rothaut, wie wir sie beispielsweise bei Karl May finden.

Friedrich Gerstäcker stellt die Verhältnisse dar, wie er sie kennengelernt und empfunden hat. Er erzählt Abenteuerliches, auch Exotisches, aber er beschönigt nicht und würdigt nicht herab. An der Person des Indianers Assowaum in den Regulatoren verdeutlicht er die Verdrängung der Roten durch die Weißen (ähnliche Gedanken finden sich zum Beispiel in den Romanen Tahiti oder Unter dem Äquator), und er scheut sich nicht, den Vernichtungsfeldzug gegen die Ureinwohner des amerikanischen Kontinents zu verurteilen.

Zugleich erfahren die Leser vielerlei Einzelheiten aus dem Leben der amerikanischen Hinterwäldler und über das Land, das sie eben erst in Besitz genommen haben. Das geht bis hin zu Essgewohnheiten, Familienfesten, Gerichtstagen oder Wohnbedingungen. Gerstäcker beschreibt dabei im Rahmen einer spannenden vorwärtsdrängenden Abenteuergeschichte, anders als Karl May, eine reale Umgebung mit realen Menschen. Die Leser werden, wenn auch scheinbar beiläufig, vertraut mit der Existenz dieser Farmer, Jäger, Abenteurer und Wegelagerer im Wilden Westen des 19. Jahrhunderts, der sich völlig anders, aber glaubwürdiger darstellt, als wir ihn aus den Wildwestfilmen kennen. Nicht nur das Abenteuer fesselt in diesen Büchern, sondern darüber hinaus die sich mitteilende dichte Atmosphäre von Lebensbereichen, die der Autor – auch das wird spürbar – aus eigener Anschauung kannte.

Viele der Schauplätze, auf denen Gerstäcker seine Romanhandlungen angesiedelt hat, sind authentisch. So gelang es beispielsweise in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts dem Sozialhistoriker Clarence Evens von der University of Arkansas, den von Gerstäcker in seinen Regulatoren sehr genau beschriebenen Gerichtsplatz oberhalb des Fourche La Fave River ausfindig zu machen. Weiter stellte Evens fest, dass es sich bei der Stadt Pettyville, in der Gerstäcker eine Sheriffwahl stattfinden lässt, in Wirklichkeit um Perryville gehandelt hat.

Auch manche der Gestalten, die in den Romanen und Erzählungen vorkommen, wurden vom Autor in Anlehnung an damals lebende Vorbilder konstruiert. Zum Beispiel weist Gerstäcker seine Leser im Vorwort zu den Regulatoren selbst darauf hin, dass besonders der hinterhältige Methodistenprediger, den er unter dem Namen Rowson auftreten lässt, tatsächlich existiert hat und dass nicht alles, was er beschreibt, seiner Fantasie entsprungen ist. Freilich werden Orte, Personen und Geschehnisse dann jeweils so „verarbeitet“, wie es der Handlung eines Romans oder einer Geschichte am besten entspricht.

Diese Art zu schreiben, noch dazu mit einem guten Gefühl für Sprache und Stil, hat Gerstäcker weitgehend davor bewahrt, heute – etwa hundertsiebzig Jahre später – antiquiert, kitschig oder seicht zu wirken. Der realistische Ansatz bricht sich immer wieder Bahn und führt auch dort noch zu einem akzeptablen literarischen Niveau, wo der Autor in einzelnen Passagen dem damaligen Empfinden gemäß zu Sentimentalität und Schwülstigkeit neigt. Vor allem fehlt bei ihm die triviale Volkstümelei, die uns bei Karl May begegnet, die aber wohl – einem breitesten „Volksempfinden“ entsprechend – dessen Ruhm begründet und bis in die Gegenwart erhalten hat.

Gerstäcker und Karl May

Es fällt auf, dass sowohl in Gerstäckers Regulatoren als auch bei Karl May (Unter Geiern) diese scharf konturierte Figur eines schurkischen Sektenpredigers auftaucht. Weiter gibt es bei Gerstäcker den skurrilen Hinterwäldler, den Schwänke erzählenden Jäger, den eingehend als Persönlichkeit beschriebenen Indianerhäuptling (Assowaum), der eine silberbeschlagene Büchse geschenkt bekommt, und nicht zuletzt den aufrechten jungen Westmann – also Romanfiguren, die wir dann als Typen auch bei May wiederfinden.

Nun stammen Gerstäckers Regulatoren bereits von 1846, während Karl May erst 1842 geboren wurde. Es liegt also nahe, dass May sich intensiv mit Gerstäckers Werk auseinandergesetzt und manches von ihm profitiert hat (wenngleich May das immer bestritten hat). Eindeutig ist das in den Passagen Mays, die nachweisbar aus Gerstäcker Werken übernommen wurden, wo May also – um es deutlich zu sagen – seitenweise von Gerstäcker abgeschrieben hat.

Aber dieser Vorwurf des Plagiats ist bekannt und schon zu Lebzeiten Karl Mays erhoben worden (u. a. 1910 von dem durch seine sozialkritischen Reportagen berühmt gewordenen Journalisten Egon Erwin Kisch). May versuchte sich seinerzeit damit herauszureden, dass er wahrscheinlich dieselben geographischen Werke als Quellen benutzt habe. Ein solcher Einwand hält jedoch selbst flüchtiger Überprüfung nicht stand, da die Parallelen bis in Einzelheiten von Personenbeschreibungen zu augenscheinlich und umfangreich sind, ganz abgesehen von den seitenweisen wörtlichen Übereinstimmungen.

Darauf hinzuweisen, bezweckt selbstverständlich nicht eine Herabsetzung des Autors May im Verhältnis zu Gerstäcker, zumal eine Konkurrenzsituation ohnehin nie bestanden hat und nicht besteht. Andererseits lässt sich ein solcher Hinweis, will man der geschichtlichen Wahrheit die Ehre geben, nicht umgehen, wie immer man zu den Werken Karl Mays stehen mag.

Spannend, widerborstig und manchmal auch widersprüchlich

In dem Buch Streif- und Jagdzüge durch die Vereinigten Staaten Nordamerikas ist vieles schon vorbereitet, was sich einige Jahre später in den ersten Romanen Gerstäckers wiederfindet. Seine Wanderungen westlich des Mississippi, der Besuch deutscher Ansiedlungen, Begegnungen mit Indianern, die Jagdabenteuer in der Wildnis am Ufer des Fourche La Fave River und im Ozark-Gebirge boten reichen Stoff und den Hintergrund für spannende Handlungen. Er greift später häufig auf seine Reiseskizzen zurück, und augenscheinlich hat das auch Karl May getan, in dessen Winnetou-Bänden der junge Hauslehrer May (Gerstäcker legte in Cincinnati übrigens ein Lehrerexamen ab) und spätere Old Shatterhand in Gerstäckers unverwechselbaren hohen Wasserstiefeln daherkommt, das Jagdmesser am Gürtel und die Büchse über der Schulter.

Während Gerstäcker in seinem ersten Buch noch berichtet, Fakten wiedergibt, Anekdoten erzählt und sogar authentische Daten und Namen nennt, verselbständigen sich seine Romaninhalte immer mehr. Realität wird von der Fantasie überholt, das Romangeschehen entwickelt sich eigenständig. Spannung wird aufgebaut, ein Geschehensablauf konstruiert, der über das ursprünglich Erlebte und Erfahrene weit hinausgeht. Die Leser fühlen sich gepackt, sie werden mitgerissen.

Wie kommt es dann aber, so fragt man sich, dass Gerstäckers Werke kaum noch bekannt sind. Ohne Zweifel ist er doch ein Vorläufer, einer der wenigen wahren Pioniere heutiger Abenteuerliteratur. Vielleicht ist seine Verdrängung aus den Buchhandlungen damit zu erklären, dass seine Werke in jenem schwer katalogisierbaren Bereich zwischen Erwachsenenliteratur und Jugendbuch angesiedelt sind, dass sie weder glatt und populär noch intellektuell und verschlüsselt sind, sondern ganz einfach spannend lesbar und manchmal auch ein bisschen widerborstig und widersprüchlich für uns heute.

Da gibt es noch Lagerfeuer und Hetzjagden, da wird noch geschossen und aufgehängt, und die Guten bringen die Bösen zur Räson. Aber ganz so einfach ist es eben doch nicht; es ist sogar viel schwerer. Denn selbst da, wo Gerstäcker in den Regulatoren die Lynchjustiz beschreibt, bleiben die Ankläger noch menschlich und die Mehrzahl der Täter kommt recht glimpflich davon oder erhält sogar eine reelle Chance.

In anderen Werken, zum Beispiel in seinen Erzählungen „Eine Menschenjagd“, „Die Sklavin“ oder „Der erkaufte Henker“, wird erst recht deutlich, dass Gerstäcker die Lynchjustiz wie auch die Sklavenhaltung in den Südstaaten auf das Schärfste verurteilte. Außerdem weist er in seinem Vorwort zu den Regulatoren ausdrücklich darauf hin, dass sich die Tätigkeit der Regulatorenbündnisse nicht immer segensreich auswirkte, dass es nicht selten zu Übergriffen gegen unschuldig Verdächtigte kam.

Biedermänner und „Brandstifter“

Ein typisches Merkmal Gerstäckerscher Erzählkunst ist die überraschende Wende, dass sich der Biedermann plötzlich als „Brandstifter“ erweist; solche Doppelidentitäten durchziehen sein literarisches Werkt wie ein roter Faden. Auch diese Romangestalten waren nicht selten realen Ursprungs, die Fantasie des Autors fand Anknüpfungspunkte in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Denn wo vor allem materielle Werte zählen, tritt der Schein oft an die Stelle der Moral: Was sich ehrenwert gibt, geht in Wahrheit über Leichen, Honoratioren erweisen sich plötzlich als Kriminelle, der angesehene Bürger entpuppt sich als Schurke. In den Regulatoren ist es ein heimtückischer Sektenprediger, in den Flusspiraten ein schurkischer Friedensrichter, in Sennor Aguila ein korrupter Haziendero, in Unter dem Äquator ein verbrecherischer Kontorist, in Tahiti ein hinterhältiger Missionar.

In solchen Konstruktionen doppelgesichtiger Romanfiguren tritt ein gesellschaftspolitisches Anliegen Gerstäckers und seine Skepsis gegenüber jeder angemaßten Autorität zutage, sein Hang zur Ungebundenheit und seine Auflehnung gegen die Zwänge feudaler Obrigkeit. Er hat sich in der Welt umgesehen, war sein Leben lang viel auf Reisen, oft abseits der ausgetretenen Pfade und nicht immer unter bequemen Bedingungen. Dabei nahm er Entbehrungen und Gefahren in Kauf, die ihn geprägt haben. Er war ein Einzelgänger; und auch in Deutschland führte er mehr ein Außenseiterdasein, obwohl er gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer berühmten Persönlichkeit wurde. War er zu Hause, arbeitete er überwiegend an seinen Manuskripten.

Gold! Ein kalifornisches Lebensbild aus dem Jahre 1849 heißt der zuerst im Jahre 1858 erschienene Roman.
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Während des 1848er Aufstands war Gerstäcker Zugführer der Leipziger Scharfschützenkompanie, einer revolutionären Bürgergarde; er verfasste sogar ein Handbuch über den Umgang mit Waffen: Schießwaffen – Einige Worte über den Gebrauch und die Behandlung der Büchsen und Flinten. Außerdem veröffentlichte er Artikel und Bücher, in denen er sich mit den Lebensverhältnissen der deutschen Auswanderer in Übersee befasste.

Seit 1896 wohnte Gerstäcker in Braunschweig jenseits der Oker in einem Haus, das sich damals von der Stadtseite her nur mit einem Boot erreichen ließ (Ricarda Huch, seine Großnichte, hat in ihren Lebenserinnerungen sehr anschaulich darüber berichtet). In seinem Arbeitszimmer hatte er für die von ihm bereisten Länder typische Kultgegenstände und Trophäen gesammelt; für Deutschland waren – nach einmaliger Benutzung zur Hochzeit seiner Tochter – Frack, Zylinder und Glacéhandschuhe an die Wand genagelt. Er ging seiner eigenen Wege, beobachtete und analysierte.

Diese Haltung spiegelt sich in seiner Literatur wider: Er schaut hinter die Kulissen, deckt auf und entlarvt, wobei er ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen zeigt und viel Witz und Humor. Zwar ermüden manchmal die breit angelegten Landschaftsschilderungen, aber seine Dialoge sind Meisterleistungen der Erzählkunst. Er schreibt glaubwürdig, auf gutem literarischen Niveau, wenn auch – dem damaligen Geschmack entsprechend – hin und wieder etwas sehr gefühlvoll und in seiner letzten Schaffensperiode auch nicht mehr mit dem Schwung und der sprühenden Fantasie, die seine Leser von den ersten Werken gewohnt sind. Seine Sympathie gehört den „einfachen Leuten“, den Backwoodsmen, Squatters, Flussschiffern, Matrosen, Jägern, Eingeborenen, sie gehört der Natur, in der er sich heimisch fühlte.

Hintergründe, Kontraste und gesellschaftliche Zwänge

Auch in seinem Java-Roman Unter dem Äquator gelingt es dem Autor wieder, durch die Verknüpfung verschiedener Schicksale und Geschehnisse in exotischer Umgebung, die er aus eigener Anschauung kannte, eine spannende Handlung zu konstruieren. Wie schon in den Romanen Die Regulatoren von Arkansas, Die Flusspiraten des Mississippi oder auch Tahiti begegnen wir in der Person eines holländischen Kaufmanns einer zentralen Romanfigur, die eine angesehene gesellschaftliche Stellung bekleidet, hinter den Kulissen jedoch ihre kriminellen Machenschaften betreibt. Der Autor schafft sich damit die Möglichkeit, Kontraste herauszuarbeiten, Hintergründe zu durchleuchten und die zur Schau getragene Wohlanständigkeit typischer Vertreter der höheren Gesellschaftsschicht als bloße Fassade zu entlarven – ein Schreibansatz, der offensichtlich seinem gesellschaftskritischen Grundanliegen entgegenkommt.

Es konnte daher nicht ausbleiben, dass Friedrich Gerstäcker den vorgefundenen sozialen und politischen Verhältnissen nicht nur in Java mit großer Skepsis begegnete. Vertraut mit den Gedanken der Französischen Revolution und der Freiheitsbewegung in Deutschland, stachen ihm die feudalen Zustände in der Kolonie der Niederländer in die Augen. Zahlreiche Passagen des Romans beweisen seinen Unmut, den er freilich nach der misslungenen 1848er-Revolution, an der er beteiligt war, nur sehr verhalten und maßvoll zu äußern vermochte. Denn es wäre einem beruflichen Selbstmord gleichgekommen, hätte er seine revolutionären Einsichten offen und unverblümt publiziert. Er war inzwischen als Berufsschriftsteller mit Familie auf die Einnahmen aus seinen Büchern angewiesen, also musste er sich arrangieren. Diese Tendenz ist unverkennbar in seinem Werk, und auch der Roman Unter dem Äquator zeugt an vielen Stellen davon.

Hinzu kommt, dass Gerstäcker offenbar die angenehmen Seiten des bürgerlichen Lebens, dem er entstammte und zu dem er nach einiger Zeit unsteten Wanderlebens wieder zurückfand, schätzen gelernt hatte. Das ändert jedoch nichts an seiner Grundeinstellung, die immer wieder zum Durchbruch gelangt. So deckt er unter anderem die Teilhaberschaft der Regierung am Opiumhandel auf, er scheut sich nicht, einen reichen Kaufmann als Spekulanten zu bezeichnen und darzustellen oder die Missionstätigkeit der christlichen Kirchen in Frage zu stellen, und er beschreibt eindrucksvoll das demütige Verhalten der geknechteten Eingeborenen gegenüber ihren Kolonialherren.

Knechte und Herren

Solche kritischen Ansätze begegnen uns bereits – und zum Teil wesentlich schärfer formuliert – in den Reisen, wo Gerstäcker beispielsweise anmerkte, dass den Gouverneuren von Java in der Hauptsache daran gelegen war, in den wenigen Jahren ihrer Regierung so viele Schätze wie möglich zusammenzuraffen, „um damit später in Holland ihr indisches Leben fortsetzen zu können“. Über die kolonialen Verhältnisse schrieb er: „Mir war das in der Seele fatal – ich hasse ohnehin diese Entwürdigung des Menschen … Sind wir nicht auch in Deutschland früher unter Fron- und Knechtsdienste gebeugt gewesen? Haben die Fürsten und Ritter nicht den Bürger und Bauern mit Füßen getreten, und geschieht das nicht jetzt etwa schon auf eine viel höflichere Art und Weise als in früher Zeit? Es ist also jedenfalls schon eine Besserung unseres Zustands eingetreten, und die rollende Zeit befreit die Völker – sie wickelt die Kette allmählich ab … Das mag ein beruhigender Trost für die Völker und Stoff, recht bedeutender und ernster Stoff zum Nachdenken über die ‚Fürsten und Herren‘ sein. Was all die armen wilden Völkerstämme der Erde getan und gesündigt haben, dass sie jetzt auf einmal mit europäischen Oberherren und Missionaren gestraft werden … Es sind Knechte und Herren, die sich begegnen, und zwischen ihnen herrscht Furcht und Demut auf der einen, wie Stolz und Geringschätzung auf der anderen Seite …, während der Weiße mit seinem sauber gebleichten Fell sich gerade mit demselben Recht brüstet, mit dem sich weißer Zwirn vor schwarzem brüsten könnte.“

Das sind deutliche Worte, für die damalige Zeit erstaunlich fortschrittliche Ansichten, die Gerstäcker hier notiert hat und die ihm nicht nur Lob eingetragen haben. Für das Vordringen der europäischen Zivilisation findet er einen recht treffenden Vergleich: „Es ist das ungefähr so, als ob ich jemandem im kalten Wetter die Haare glatt vom Kopf schere und verkaufe ihm dann eine Mütze – die Mütze hält ihm den Kopf allerdings ebenso warm, wie es die Haare getan haben würden, aber weshalb habe ich ihm denn nicht überhaupt seine eigenen Haare gelassen? – Bloß um ihm die Mütze zu verkaufen.“

In seinem Roman Unter dem Äquator lässt Gerstäcker dann einen Hotelier mit unmissverständlichen Worten die Meinung vertreten, dass der Kolonialregierung gar nicht daran liegen könne, dass die Javaner aufgeklärt und Christen würden, da sonst eine Rebellion gegen die zahlenmäßig geringe holländische Oberschicht die zwangsläufige Folge sein müsste. Als der Missionar Salomon Holderbreit daraufhin einwendet, die christliche Religion lehre doch gerade Duldung, Toleranz und Mitmenschlichkeit, lässt Gerstäcker den Hotelier antworten: „Papperlapapp! Wir reden hier vernünftig miteinander, darum lassen Sie Ihre Redensarten weg. Sie wissen so gut wie ich, wieviel Duldung die Christen daheim und in fremden Welten üben, und wenn wir gescheit sind, halten wir wenigstens das Maul davon und prahlen nicht noch damit.“

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Von dieser Haltung zeugt auch eine Vielzahl eher beiläufiger Anmerkungen, die zum Teil in Dialoge eingearbeitet sind. „Gestrenge Herren regieren nicht lange“, heißt es da, oder bezogen auf die Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung: „So durfte sich kein Mensch vor dem anderen demütigen.“ Dabei bemüht sich der Autor allerdings immer wieder, die unterschiedlichen Sichtweisen zum Ausdruck zu bringen und – anders als in den Reisen – zuletzt den Lesern das Urteil zu überlassen. Friedrich Gerstäckers Romane sind nicht nur historische Sittengemälde, Abbilder einer vergangenen Zeit, sondern sie enthalten Anschauungen, Konzepte und Lebenswahrheiten, die zu jeder Zeit Gültigkeit haben.


© Die Abbildungen wurden von der Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft zur Verfügung gestellt.

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