Einblicke in ein vermintes Gebiet
Die politische Linke positioniert sich gegen die „Klimakatastrophe“. Dabei sind einigen Akteuren auch autoritäre Mittel recht. Aber ist der Alarmismus überhaupt angebracht? In wessen Interesse ist der „Green New Deal“? Und wie kann eine kritische linke Position dazu aussehen? Diesen Fragen geht der Sozialphilosoph und Marxist Karl Reitter nach. Teil acht unserer losen Rezensionsreihe zur Krise der Linken.
Teile der politischen Linken sind auf den Autoritarismus gekommen. Sicher, das wird ihr seit eh und je von der rechten Seite des politischen Spektrums vorgeworfen. Zumindest bei einigen trifft der Vorwurf zu. Maßgebliche Akteure in der Corona- und Klimapolitik, die sich in antiautoritärer Tradition verorten würden, tendieren schließlich zu drastischen Maßnahmen von oben. Bisher kritisierten viele von ihnen das an der bolschewistischen Tradition, nun stehen sie selbst für Einschränkungen, wenn es um die vermeintlich gute Sache geht. Gesundheits- und Klimaschutz sind in ihren Augen solch eine gute Sache. Und seit Anfang der Corona-Zeit versuchen einige Publizisten und Aktivisten, die Erfahrungen von Corona auf das Klima zu übertragen.
Der Sozialphilosoph und Marxist Karl Reitter erinnert in seinem Buch zur Klimapolitik an ein prägnantes Zitat zweier Linker – namentlich handelt es sich um den Professor und Publizisten Ulrich Brand und den Mitarbeiter der Arbeiterkammer Wien, Heinz Högelsberger – aus dem März 2020. Sie schrieben damals, wenn dringendes Handeln notwendig sei, dann überlasse niemand die Lösung dem „Markt“, „sondern Regierung und öffentliche Hand müssen agieren“ (S. 230). Dass müsse allerdings demokratisch und transparent geschehen. Karl Reitter hält diesen Nachsatz für irreal und Augenwischerei und sieht in den Worten der beiden Linken das Plädoyer für eine „autoritäre, mit Zwang und Verboten handelnde Staatsmacht“.
Der Green New Deal, wie die EU-Kommission ihre Klimapolitik heute nennt, werde hinter verschlossenen Türen ausgedacht, konzipiert und durchgesetzt, schreibt Reitter. Er beschreibt die „Klimalinke“ als nützliche Trittbrettfahrer des Projekts eines Green New Deals. Sie dürfen, um im Bild zu bleiben, so lange mitfahren, wie sie den Herrschenden nicht gefährlich werden. Sobald das geschieht, werden sie vom Trittbrett gestoßen. Der Zug der Geschichte fährt ohne sie weiter. Mal wieder.
Aber Moment: Ist Klimaschutz etwa keine gute Sache? Muss nicht noch mehr getan werden, als die Herrschenden sagen? Welche Rolle spielt die Linke genau? Diesen Fragen geht Reitter in seinem Buch nach. Bevor er zu seiner ausführlichen und fundamentalen Kritik kommt, muss er sich die Klimawissenschaft, ihre Ergebnisse und den Kampf um deren Interpretation anschauen. Reitter will einen Beitrag leisten, „die Diskussion um das Klima wieder auf eine unaufgeregte, sachliche Basis zu stellen. An die Stelle von Panik und Angst sollte eine abwägende Diskussion über sinnvolle Maßnahmen treten, wie mögliche negative Folgen des Klimawandels abgefedert werden.“ (S. 9)
Es ist Karl Reitter hoch anzurechnen, dass er sich in ein „vermintes Gebiet“ begibt und dort versucht, aus Polemiken, Informationen und Propaganda die Aspekte herauszufiltern, die für eine sachliche Einschätzung des Themas wichtig sind. Er tut dies nicht als Beteiligter an wissenschaftlichen Kontroversen sondern von außen. Als Sozialphilosoph und Marxist hat er zudem sowohl einen nüchternen Blick auf die Kontrahenten als auch auf die ökonomischen Hintergründe, die es bei der Bewertung zu bedenken gilt. Schon deshalb ist das Buch mit viel Faktenwissen und Verweisen zum Weiterlesen für die politische Linke eine interessante und wichtige Lektüre.
Über den Eishockeyschläger zum Konsens
Reitter geht vielen der vermeintlichen Gewissheiten nach, die in der öffentlichen Debatte zum Klima kaum noch hinterfragt werden. Dabei stellt er fest, dass neben der Öllobby auch die Klimaalarmisten gut vernetzt sind (S. 21) und zitiert die Wissenschaftler Werner Krauss und Hans von Storch: „Der Kampf gegen den Klimawandel hat zu einer routinierten Katastrophenrhetorik auf einer vermeintlich sicheren wissenschaftlichen Basis geführt.“ (S. 27) Reitter stellt nicht infrage, dass es eine Veränderung des Klimas gibt. Seine Fragen sind, inwieweit der Mensch verantwortlich ist, welche Bezugsgrößen sinnvoll sind und wie heute agiert werden kann. Er verweist auf Wissenschaftler, die auch bei der Halbierung der Emissionen von Treibhausgasen einen positiven Effekt ermittelt haben (S. 33) und stellt klar, dass generell der Verweis auf Phänomene wie Gletscherrückgängen keine Gewissheit über einen menschengemachten Klimawandel abgeleitet werden können.
Das gleiche gilt für eine vermeintliche Zunahme von Extremwetterereignissen. Reitter hat verschiedene Studien zur Rate gezogen und kommt zum Ergebnis, dass es dafür keine Belege gibt. (S. 92) Er schreibt: „Nicht die extremen Wetterereignisse haben zugenommen, zugenommen haben die Berichte darüber, und in eine von den Medien gemachten Welt muss es so erscheinen, als ob mehr Berichte auch mehr Vorfälle bedeuten.“ Wenn wir mehr Berichte und mehr Alarmismus erleben, dann wirkt die Angst. Zudem werden jegliche Extremereignissemit dem Klimawandel verknüpft. „Die Folgen des Klimawandels werden so zur simplen sinnlichen Gewissheit, es sei eben klar und man sehe es ja. Dort ein Waldbrand, hier eine Höchsttemperatur, dort Mangel an Regen, hier wiederum eine Überschwemmung.“ (S. 96)
Wenn allerdings ein Forscherteam darauf hinweist, dass nach Analyse der Daten keine signifikante Zunahme von Extremereignissen zu erkennen ist, dann werden die Forscher zur Zielscheibe. Nach einer Kampagne und Interventionen verschiedener Forscher wurde der bereits begutachtete und publizierte Artikel vom renommierten Wissenschaftsverlag Springer Nature zurückgezogen (S. 82). Das hat dann wenig mit Wissenschaft zu tun, sondern vor allem mit Politik. Ein weiteres Beispiel ist, dass immer noch von vielen interessierten Seiten die „Hockey-Stick“-Theorie ins Feld geführt wird. Sie beschreibt für die nördliche Hemisphäre der Erde eine konstante Temperatur über fast 2000 Jahre bis etwa 1850, danach steigt sie steil an. In der Darstellung als Kurve sieht sie damit aus wie ein Eishockeyschläger. Dieser Theorie widerspricht Reitter auf Basis diverser anderer Studien. Das Klima erlebte in der erwähnten Zeit mehrere Schwankungen und damit Kälte- sowie Wärmeperioden. (S. 50)
Auch die Berichte des Weltklimarates (IPCC) sind laut Reitter bei weitem nicht so repräsentativ, wie die meisten Menschen annehmen (S. 106). Das gleiche gilt für den angeblichen Konsens, dass 97 Prozent aller Klimawissenschaftler vom menschengemachten Klimawandel ausgehen. Dieser beruht letztlich auf einem Zirkelschluss. Laut der maßgeblichen Metastudie, auf die bei der Behauptung des Konsenses vor allem verwiesen wird, treffen zwei Drittel der untersuchten Studien gar keine Aussage über die Ursachen des Klimawandels und wurden bei der Erstellung der Statistik herausgerechnet. Das knappe Drittel der Studien, die Stellung zum Klimawandel beziehen, sieht zu 97 Prozent den Menschen als (mit)verantwortlich. Das Schweigen der Mehrheit wird als Zustimmung gedeutet und zwar von einem Aktivisten (James Cook), der all diejenigen, die Zweifel am von ihm behaupteten Konsens anmelden, als Leugner beschimpft.
Reitter verweist des weiteren auf die fragwürdigen Versuche, die Zukunft vorherzusagen. Immer wieder wird dabei deutlich, wie sehr die Aktivisten dabei auf Panikmache setzen. Mittlerweile ist dabei auch die Weltgesundheitsorganisation eingestiegen. „Indem sich die WHO des Klimathemas annimmt, ermöglicht die Koppelung von Klima & Gesundheit systematische repressive Eingriffe in Gesellschaft und Ökonomie, etwas, zu dem der IPCC nicht in der Lage sein kann und will. Über den Umweg der WHO wird das Klimathema zur Agenda der ‚guten Herrschaft‘, die für alle nur das Beste will.“ (S. 184) Dies erinnert an die vermeintlich linke Position, die zu Anfang dieser Rezension zitiert wurde.
Die Linke muss analytisch denken
Die Kritik an den Positionen der Linken zum Klimawandel nimmt im Buch einen breiten Raum ein, wobei Reitter die Linke in einem breiten, allgemeinen Verständnis meint. Dabei macht er zwei Gruppen aus. Die erste befasst sich nicht weiter mit dem Thema, erwähnt es allerdings, wenn es um die Probleme dieser Zeit geht. Die andere Gruppe nimmt die alarmistische Version des Diskurses auf und meint, davon ausgehend die kapitalistische Gesellschaft zu transformieren bzw. überwinden zu können. Laut Karl Reitter handelt es sich dabei um „ eine Illusion, die – ob man will oder nicht – zur linken Flankendeckung des Green New Deal avanciert“. (S. 191)
Seiner Meinung nach fängt das Problem bereits dabei an, dass der Diskurs wie das Wissenschaftsbild von außen übernommen wird. Eine sachliche und aufgeregte Diskussion, die Reitter mit seinem Buch anregen will, führt die Linke in ihrer Breite bislang nicht. Es fehle sowohl an Wissenschafts- als auch an Staatskritik. Das theoretische Denken verarme, was Reitter am Gegensatz von Ökologiebewegung und Klimadiskurs zeigt. Erstgenannte denke in vielen Ursachen und vielen Wirkungen und mache sich zu Recht Sorgen um den Zustand des Planeten:
„Der Machbarkeitswahn und die Technikgläubigkeit bescherte uns die AKWs, die Degradierung alles Lebenden zum bloßen Stoff der ökonomischen Verwertung die Fleischindustrie, die rücksichtslose Profitorientierung die Verschmutzung der Flüsse, Seen und des Meeres, die spezifischen Interessen der Chemieindustrie das Pflanzengift Glyphosat, die fordistische Lebensweise den Autowahn und die Autobahnschneisen, die Wissenschaftsgläubigkeit durch die Hybris der Naturwissenschaft die Gentechnologie, die internationale Produktionsketten die Zurückdrängung der lokalen Landwirtschaft, die Ausdehnung der menschlichen Siedlungsgebiete die Reduktion der Artenvielfalt, die Apparatemedizin ein eine unzureichende Gesundheitsversorgung usw.“ (S. 194)
Der Klimadiskurs kenne nur Emissionen als einzige Ursache und viele Wirkungen. Wer diese Simplifizierung übernimmt, der verabschiedet sich laut Reitter von grundsätzlichen Einsichten in die Dynamik der Kapitalakkumulation, denn er löst die Kapitallogik „völlig aus den Zusammenhängen und unterstellt, die fossilen Unternehmungen könnten ihre Profite primär mit politischen, manipulativen Methoden sichern, als wären sie nicht den Mechanismen des Ausgleichs der Profitrate unterworfen“. (S. 197) An die Stelle einer fundierten Kritik trete eine simple Verschwörungstheorie, es bleibe die moralisierende Kritik an bestimmten Kapitalisten.
Wenn die Linke nicht analytisch sondern moralisch vorgeht, bleibt sie im herrschenden Diskurs stecken. Sie erkennt die Zusammenhänge nicht und kann auch keine weitreichenden Lösungen entwickeln, die über die des herrschenden Diskurses hinaus gehen. Dies zeigt sich auch in den Begrifflichkeiten, die verwendet werden. So wird die „Gerechtigkeit“ hochgehalten, die sich immer auf Verteilung und Zuteilung auf Basis der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bezieht. Die Forderung danach sei zudem so vage, „dass so gut wie alle politischen Akteure sie erheben“. (S. 203) Eine Linke müsste die Verhältnisse analysieren und die soziale und politische Herrschaft an sich in den Blick nehmen.
Wer die Gesellschaft grundlegend ändern will – nichts anderes sollte das Ziel einer wirklichen politischen Linken sein –, der muss über diese Phrasen hinaus die Verhältnisse analysieren und kritisieren. „Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden im Klimadiskurs auf wenige Aspekte reduziert, Emission im Norden, Schäden im Süden und eine fies agierende fossile Lobby. Wenn alles Klima ist, dann sind die gesellschaftlichen Verhältnisse klimabedingt.“ (S. 220)
Viele Maßnahmen gehen an die Existenz der Lohnabhängigen
Linke Kritik habe die Verhältnisse und nicht die individuelle Gesinnung sowie das Verhalten in den Blick zu nehmen, so Reitter. Es komme darauf an zu erkennen, dass es soziale Gruppen und Klassen gibt jeweils als Pole von Herrschenden und Beherrschten. Das fehlt nicht ohne Grund im Diskurs der Herrschenden, den die Klimalinken nicht erweitern. In der Konsequenz kommt ihnen das gesellschaftliche Subjekt abhanden (S. 218). Auch umgekehrt bildet keine Klima-Basisbewegung aus dem eigenen Bedürfnis heraus, wie dies bei anderen Themen der Fall war und ist (wie z.B Wohnraum in Berlin oder Renten in Frankreich).
Gleichzeitig fühlen sich die einkommensschwachen Schichten von den Maßnahmen „zur Rettung des Planeten“ bedroht. „Die Appelle zum individuellen Einsparen wirken zynisch, viele der propagierten Maßnahmen existenzgefährdend.“ (S. 222) Es wundert vor diesem Hintergrund nicht, dass sich immer mehr Lohnabhängige von den etablierten Parteien abwenden. Steigende Heiz- und Energiekosten sind besonders für die Prekarisierten ein Problem. Und wenn diese sich nicht für die Diskurse interessieren, falsch wählen und nicht „verzichten“, dann werden sie von Aktivisten moralisch verdammt. Bis zu den vermeintlich notwendigen autoritären Maßnahmen, von denen schon die Rede war, ist es dann nicht mehr weit.
Der „Green New Deal“ der EU mit dem Ziel, 2050 „Klimaneutralität“ zu erreichen, führt zu mehr Staatsinterventionen, was rechtskonservative Kreise als „Sozialismus“ missinterpretieren. Allerdings: Damit der „Green New Deal“ überhaupt wirksam werden kann, braucht er eine gewisse Abkopplung vom Weltmarkt, insbesondere bei den Energieträgern (S. 238), was zu steigenden Preisen führt. Für die einkommensschwachen Schichten bedeutet das eine Verschärfung der finanziellen Lage. Die Verpflichtung zu Nullemission könnte zu Zwangsverkäufen führen, was wiederum die Konzentration im Grundbesitz steigern dürfte (S. 239).
Zusammengenommen geht es laut Reitter darum, neue Märkte zu erschließen – beispielsweise bei der Energieerzeugung. Es wurden für das Kapital von Seiten des Staates (bzw. der EU) neue Investitionsanreize geschaffen, die es ohne die Staatsintervention nicht geben würde. Die ideologische Flankierung („Nullemissionen“) war nötig, die Linken stützen die Interessen einer Kapitalfraktion. „Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Linke zur Avantgarde der kapitalistischen Entwicklung werden, dass sie das voraus-denken, was für die Erneuerung der sozialen und ökonomischen Herrschaft von Staat und Kapital notwendig ist“ (S. 231).
Karl Reitter ist es gelungen, viele Aspekte des aktuellen Diskurses zu analysieren und ihre Konsequenz offen zu legen. Seine marxistische Analyse ist dabei nicht immer ganz einfach zu verstehen, zumal er sie recht gedrängt im letzten Viertel des Buches zusammenfasst. Die Analyse der diversen allgemeinen Gewissheiten, die oftmals auf tönernen Füßen stehen, auf den ersten 190 Seiten des Buches ist aber zum allgemeinen Verständnis wichtig. Wer sich gegen den herrschenden Diskurs stellt, muss ihn nicht nur kennen sondern auch seine Halbheiten und internen Widersprüche verstehen. Reitter zweifelt nicht daran, dass der Mensch Anteil am Wandel des Klimas hat. Er hält es aber weder für das einzige Problem im Mensch-Natur-Verhältnis noch erkennt er in den vermeintlichen Lösungen Wege, die eine politische Linke mitgehen sollte. Für diese ist das Buch in einem der wichtigsten öffentlich verhandelten Themen eine Handreichung, die der tieferen Auseinandersetzung lohnt.
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Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.
Karl Reitter, Gemeinsam die Welt retten? Vom Klimaalarm zum Green New Deal, Promedia Verlag, 264 Seiten, 25 Euro
Teil 1: Artur Becker, Links, Westend 2022
Teil 2: Göran Therborn, Die Linke im 21. Jahrhundert, VSA 2023
Teil 3: Sven Brajer, Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken, Promedia 2023
Teil 4: Żaklin Nastić, Aus die Maus, Das Neue Berlin 2023
Teil 5: Lukas Meisner, Medienkritik ist links, Das Neue Berlin 2023
Teil 6: Peter Wahl, Der Krieg und die Linken, VSA 2023
Teil 7: Michael Brie, Linksliberal oder dezidiert sozialistisch, VSA 2024
Teil 8: Karl Reitter, Gemeinsam die Welt retten?, Promedia 2024