Die Doppelmoral des Westens
Die Frage des Völkerrechts ist – was den Krieg in der Ukraine angeht – aktuell kaum mehr im Fokus. Da passt es gut, dass der renommierte Völkerrechtler Kai Ambos einen Essay zu dem Thema vorgelegt hat. Es ist ein sehr aktuelles Buch, das am heutigen Montag erscheint. Eine Rezension.
Kaum ein Wort fiel zu Beginn des aktuellen Ukraine-Krieges in der kritischen Öffentlichkeit so oft wie „Doppelmoral“. Die Meinungsführer im Westen haben mit Inbrunst einen Völkerrechtsbruch Russlands angeprangert. Die gleichen Personen unterstützen Saudi-Arabien im Krieg gegen den Jemen oder schweigen zu den Tötungsaktionen der USA in Afghanistan und anderswo. Und schaut man noch genauer hin, dann gehen viele weitere Verstöße gegen das Völkerrecht gerade von den Staaten des Westens aus. Der Vorwurf der „Doppelmoral“ hat also eine profunde Basis. Der Göttinger Jura-Professor Kai Ambos hat seinen soeben erschienenen schmalen Band zu den völkerrechtlichen Implikationen des aktuellen Krieges mit diesem plakativen Titel versehen lassen. Vermutlich werden einige Leser schon deshalb zugreifen.
Trotz einiger durchaus grundsätzlicher Kritikpunkte, auf die im weiteren Verlauf dieser Rezension einzugehen ist, lohnt sich die Lektüre der gut 40 Textseiten, der ein sehr umfangreicher Fußnotenapparat von noch einmal mehr als 30 Seiten beigegeben ist. Denn durch die ausführlichen Anmerkungen können die Leser tiefer in die juristische Materie einsteigen, sie bekommen auch viele Hinweise auf Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zum Thema. Gleichzeitig konzentriert sich der Autor durch die umfangreichen Nachweise und Zitate aus einschlägigen Artikeln in seinem Essay auf das Wesentliche.
In drei Schritten versucht Ambos, seine These von der Doppelmoral völkerrechtlich nachzuweisen. Zunächst geht es um die begrenzte Unterstützung der westlichen Ukraine-Politik in der Weltgemeinschaft, dann um den widersprüchlichen Umgang mit dem Völker(straf)recht und schließlich fordert er eine größere westliche Konsistenz bei eben diesem Thema. Ambos argumentiert dabei von einem westlichen Standpunkt, aber er versucht diesen mit dem Blick auf das Völkerrecht zu objektivieren. Und schon seine Grundthese von der Doppelmoral zeigt, dass er nicht allein den westlichen Narrativen folgt, schließlich stellt er einige von ihnen in Frage, während er andere fortschreibt.
Anspruch und Wirklichkeit
Ausgangspunkt von Ambos‘ kurzem Essay sind die geltenden Normen des Völkerrechts, womit in besonderer Weise die UN-Charta und damit das Gewaltverbot und die Unverletzlichkeit der territorialen Integrität souveräner Staaten gemeint sind. Es gebe keinen Zweifel, dass beide Rechte durch Russlands Vorgehen in der Ukraine verletzt worden sind, schreibt Ambos. Die Frage aber sei, ob „ausgerechnet der Westen den Anspruch erheben kann, mittels seiner Ukraine-Politik diese Norm und die regelbasierte Völkerrechtsordnung insgesamt zu verteidigen bzw. wiederherzustellen“. Wer diese Frage stellt, impliziert ein „Nein“ als Antwort. Wobei Ambos im weiteren Verlauf vorsichtiger formuliert. Der Anspruch könne durch den Umgang des Westens mit dem Völkerrecht nur bedingt eingelöst werden, heißt es relativierend in der Einleitung. Seine eigenen Worte im weiteren Verlauf des Essays legen eine schärfere Formulierung nahe.
Erster Baustein seiner Argumentation ist die Resolution der UN-Generalversammlung vom 1. März 2022. Zwar haben viele Staaten (141) dieser zugestimmt, aber nur maximal 45 Staaten unterstützten die Ukraine direkt durch Russland-Sanktionen und/oder Waffenlieferungen. Die Rede von der Isolierung Russlands sei also ein Euphemismus. Als nächstes weist Ambos auf verschiedene Kritiken am westlichen Umgang mit dem Völkerrecht hin, der von Staaten der Dritten Welt als Mittel der europäischen Beherrschung von Nicht-Europäern gesehen werde. Das Völkerrecht sei als Mittel der Kolonialherrschaft genutzt und auch nach 1945 vom Westen zu eigenen Gunsten eingesetzt worden. Ambos schreibt: „In unserer heutigen multipolaren – von mehreren globalen und regionalen Großmächten beherrschten – Weltordnung verschafft sich jedoch mehr und mehr ein posthegemoniales Völkerrecht Geltung, in dem nicht mehr der bisherige Hegemon (,der Westen‘) ein Auslegungsmonopol beanspruchen kann, sondern völkerrechtliche Regeln multilateral ausgehandelt werden müssen.“
Der Westen, insbesondere die USA und ihre Verbündeten, bricht immer wieder das Völkerrecht. Ambos nennt als Beispiel die Irak-Invasion der USA und ihrer Alliierten, aber auch das Vorgehen in Afghanistan, wo bis heute „extralegale Hinrichtungen“ stattfinden. Die Literatur beschreibe sie überwiegend als unvereinbar mit dem Völkerrecht. Also seien die Tötungen aus Sicht „regelbasierter Völkerrechtsordnung“ unerträglich. Amboss stellt die Nicht-Verfolgung dieser Straftaten in Kontrast zur Verfolgung „russischer Auftragsmorde“ im Westen. An dieser Stelle spielt es keine Rolle, ob es solche gab und in welcher Zahl, es geht um das Ungleichgewicht.
Einen großen Widerspruch sieht Amboss auch im Umgang der Ukraine mit dem Völkerrecht. Es gelte auch nach Verletzung des Gewaltverbots durch einen Gegner. Im humanitären Völkerrecht würden beide Konfliktparteien gleich behandelt. Aktuell gebe es die ernsthafte Gefahr einer Instrumentalisierung des Internationalen Strafgerichtshofs, denn zum einen spiele die Ukraine in der eingerichteten gemeinsamen Ermittlungsgruppe zu Kriegsverbrechen eine besondere Rolle und zum anderen seien insbesondere russlandkritische Staaten wie Estland, Lettland, Litauen, Polen und die Slowakei an dieser beteiligt. Außerdem soll eine US-Amerikanerin zur Leiterin der Ukraine-Ermittlungen beim Internationalen Strafgerichtshof gemacht werden, wobei die USA bisher aus Eigeninteressen das Statut des Gerichts nicht unterzeichnet haben. Der Bock wird zum Gärtner.
Ambos‘ Schlussfolgerung: Wer das Völkerrecht so eklatant verletzt wie der Westen, könne den anderen nicht legitim und glaubwürdig zur Einhaltung auffordern. Da er selbst letztlich Vertreter des Völkerrechts und eben auch des Westens ist, ist seine logische Forderung am Ende seines Textes, „dass sich liberale Demokratien gerade wegen ihres rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Anspruchs fortwährend um eine größere Kohärenz in ihrem Umgang mit dem Völkerrecht bemühen sollten, und sei es auch nur um ihrer selbst wissen“.
Blinde Flecken
Das letzte Zitat weist schon auf die Begrenzung von Ambos’ eigenem Standpunkt hin. Als Experte für das Völkerrecht sind seine blinden Flecken mindestens die Geopolitik und der westliche Menschenrechtsimperialismus. Denn der Westen geht schließlich ebenso instrumentell mit den Menschenrechten um wie mit dem Völkerrecht. Hinzu kommt sein Verhaftetsein in verschiedenen westlichen Narrativen zum gegenwärtigen Konflikt. So bezeichnet er es als abwegig, dass die Ukraine „neo-nazistisch kontaminiert“ sei.1 Außerdem hält er die These des US-Historikers Timothy Snyders vom „faschistischen Russland“ für möglich. Doch diese Ansicht könnte man selbst mit westlich orientierten Wissenschaftlern in Frage stellen – was unter anderen die Argumentation des Historikers Norbert Frei belegt.2 Es wäre besser gewesen, Ambos hätte die juristische Ebene nicht verlassen.
Man wird das Gefühl nicht los, dass Ambos Opfer seiner eigenen völkerrechtlichen Analyse geworden ist und vor möglichenKonsequenzen zurückschreckt. Er will wohl auf keinen Fall zu den „Russland-Freunden“ gezählt werden. Allerdings: Schon seine völkerrechtliche Argumentation macht klar, dass er Russlands Vorgehen keinesfalls gutheißt. Insofern ist die Übernahme westlicher Narrative im Buch mehr als störend. Die Hoffnung, dass er dadurch wohlwollender und in seinen Kernthesen im Mainstream inhaltlich rezipiert wird, dürfte keinen Erfolg haben. Die Kritik wird sich auf die These der „Doppelmoral“ stürzen und die passende Schublade für ihn finden. Um Inhalte geht es schließlich kaum noch.
Kai Ambos: Doppelmoral. Der Westen und die Ukraine, Westend Verlag, 91 Seiten, 15 Euro (der Titel ist auch als Hörbuch und E-Book erhältlich)
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Endnoten
1 Dagegen steht zum Beispiel die umfassende Analyse, die wir vor einigen Monaten veröffentlicht haben: https://www.hintergrund.de/politik/welt/verblendet-durch-die-schwarze-sonne/
2 https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/russland-ist-nicht-faschistisch-wladimir-putin-li.264934