Aufarbeitung

Corona als Symptom einer grundlegenden Krise

Die multiplen Krisen der Gegenwart verlangen nach einer konsistenten Erklärung. Nach Analysen, die nicht nur die verschiedenen Krisen der Gesellschaft und des Kapitalismus zusammenbringen und verständlich machen, sondern auch deren unterschiedliche Ebenen beleuchten. Der neue Sammelband „Schwerer Verlauf“ aus einem linken Umfeld versucht sich daran. Mit Erfolg: Die insgesamt zehn Beiträge tragen sehr zum Verständnis der Gegenwart bei und machen klar, welche Funktionen die verschiedenen Maßnahmen haben.

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Für die Autoren des Sammelbandes “Schwerer Verlauf” ein Beispiel für Regression: Linke Demonstranten in Hamburg Anfang 2022.
Foto: Rasande Tyskar, Lizenz: CC BY-NC 2.0 , Mehr Infos

Die Gesellschaft ist in der Krise, war es und sie wird es bleiben. Der Krisenmodus ist allgegenwärtig. Flüchtlinge, Corona, Krieg. Darum ging es in den vergangenen Jahren. Und zuvor war es Terror und die Finanzkrise. All das sind Symptome einer großen Krise, der Krise des Kapitalismus. Geht es nach den Autoren des neuen Sammelbandes „Schwerer Verlauf“, die teilweise unter Pseudonym veröffentlichen, dann ist der Kapitalismus selbst die Krise. Die Beiträge des Buches helfen, die Zusammenhänge der globalen Verwerfungen zu verstehen, die bis in unseren Alltag vorgedrungen sind. Das Buch stammt aus einem Umfeld, das sich seit langem mit Krisen beschäftigt: Der Wertkritik, in diesem Fall der Website wertkritik.org. In ihrer Selbstdarstellung formulieren die Autoren unter anderem:

Im Zentrum steht die Annahme, dass wir gegenwärtig in einer Epoche der fundamentalen Krise der kapitalistischen Gesellschaft leben, die die Menschheit vor eine existenzielle Alternative stellt: Emanzipation oder Barbarei. Die Theoriebildung von wertKRITIK.org steht in der Tradition der Wertkritik bzw. Wert-Abspaltungskritik, wie sie seit den 1980er Jahren sowohl in Abgrenzung als auch in Weiterentwicklung der Theorie von Karl Marx sowie daraus hevorgegangener Marxismen entwickelt wurde. Sie knüpft vor allem an jene Teile des Marx’schen Werkes an, die sich auf die schonungslose Analyse und Kritik des Kapitalismus als einer „fetischistischen“ Gesellschafts- und Lebensform mit ihren vielfältigen immanenten Widersprüchen beziehen – Widersprüche, die letztlich in ihrer eigenen finalen Krise kulminieren.

Der wichtigste Autor dieser Tradition ist der 2012 verstorbene Robert Kurz, dessen Werk unter anderem aus einer umfangreichen Krisenanalyse besteht. Kurz wirkt bis heute nach, was in den verschiedenen Aufsätzen des Bandes zu merken ist. Sie beziehen sich immer wieder auf ihn und seine Krisentheorie. Schon diese Bezüge zeigen, dass das Buch tiefer bohrt als vieles, das in den vergangenen drei Jahren zum Thema erschienen ist. Zudem knüpft es an die beiden bisherigen Corona-Sammelbände aus dem Promedia Verlag an.1 Beide waren wichtig für das Verständnis der Krise und auch der Reaktion der politischen Linken darauf. Oder von dem, was davon übrig geblieben ist.

Kurz gefasst gehen die Autoren in „Schwerer Verlauf“ davon aus, dass wir in den vergangenen drei Jahren eine erneute Wirtschafts- und Finanzkrise erlebt haben, die sich als Gesundheitskrise manifestierte. Die Herrschenden reagierten dabei mit einem autoritären Reproduktionsmodell, um der globalen Notlagen Herr zu werden. Wobei das der falsche Ausdruck ist, denn die Krise der kapitalistischen Produktionsweise dauert an. Es braucht einen immerwährenden Ausnahmezustand. In der Corona-Zeit wurde er durch einen „moralischen Überbau“ kompensiert, den wir in der viel beschworenen „Solidarität“ erlebt haben, so Fabio Vighi in seinem Beitrag. Zwischen den verschiedenen Lagern, den Befürwortern und Gegnern der Maßnahmen, ging es vor allem darum, die „Normalität“ zurückzugewinnen, schreibt Gerd Bedszent. Für die einen waren Lockdowns dafür die notwendige Maßnahme, die anderen wollten sofort zurück zum Status quo ante. Aus diesem fundamentalen Gegensatz ist eine Parallelität von Ängsten entstanden, die aufeinander bezogen sind. Alan Schink schreibt: „Die Virusangst ist ein Komplement der Verschwörungsangst.“ (S. 130). Jede Seite beschuldigte die jeweils andere, der Rückkehr zur Normalität im Wege zu stehen. Hier wäre die Linke gefragt gewesen, die aber auf ganzer Linie versagte. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, schreibt Gerd Beszent,

den Protestierenden die Erkenntnis zu vermitteln, dass es ein goldenes Zeitalter des Kapitalismus nie gab und auch nie geben kann. Dass sich Proteste also nicht gegen einzelne Verwerfungen, sondern gegen den Kapitalismus insgesamt richten sollten. Ein Bewusstsein von all den Ungeheuerlichkeiten unserer glorreichen Gesellschaft ist erste Voraussetzung dafür, über den Kapitalismus hinauszudenken. Diese Aufgabe wird derzeit von der Linken – zumindest in Deutschland – überhaupt nicht wahrgenommen. Die Mehrheit der linken Gruppen und Strömungen kommt von ihrer Fixierung auf ,Politik und Demokratisierung‘ nicht los. (S. 63)

Das, was Bedszent hier am Ende mit Verweis auf eine Kritik an der politischen Linken von Robert Kurz aus dem Jahr 2000 schreibt, trifft eben auch auf die aktuelle „Demokratiebewegung“ zu. Und genau deshalb wäre es eine Aufgabe der Linken, deren Kritik zu radikalisieren, also zur Wurzel der Probleme zu führen. Das tun nun die Autoren im vorliegenden Buch.

Für Herausgeber Andreas Urban und seinen Co-Autor F. Alexander von Uhnrast zeugt der „irrationale Umgang“ mit dem Virus von einem generellen Realitätsverlust in der Gesellschaft. Als Beispiel für den Verlust von Wirklichkeit beschreiben beide die Position einiger vehementer Maßnahmen-Befürworter und ZeroCovid-Aktivisten, die meinten, den vermeintlichen Nutzen der Maßnahmen gäbe es ohne den durch sie unweigerlich verursachten Schaden. „Umso beharrlicher mussten dann z. B. die Kollateralschäden der Lockdowns geleugnet oder kleingeredet werden.“ (S. 77) Und da die Maßnahmen im Laufe der Zeit immer weniger rational begründbar waren, mussten sie, so die Autoren, immer autoritärer werden.

Warum aber unterwarf sich die Mehrheit dieser Autorität? Gerd Bedszent spricht von einer Generation von Netz-Zombies, die durch den zunehmenden Abbau von Kunst und Kultur entstehe. Die heutige Generation werde zu „kritiklosen Konsumenten der Produkte professionell arbeitender Werbeagenturen und PR-Büros, willige[n] Vollstrecker auch der absurdesten und gemeinsten Weisungen von Konzernchefs und Verwaltungsbürokraten“ herangezogen (S. 62). Ergänzend konstatieren Urban und von Uhnrast, dass das „Gros der Bevölkerung aufgrund der weit vorangeschrittenen, nicht zuletzt durch kulturindustriellen Dauerbeschuss beförderten Abkopplung von der Realität in hohem Maße manipulierbar ist“. (S. 75)

Dabei wird die Verflachung des Denkens in der Corona-Krise von Regression und Infantilisierung begleitet. Auch dem Psychologen Dietmar Czycholl gelingt es in seinem Text, viele der Ungeheuerlichkeiten wieder ins Bewusstsein zurückzurufen, die durch das Wochen, Monate und am Ende mehr als zwei Jahre andauernde mediale und gesellschaftliche Dauerfeuer an Hygiene-Propaganda zur buchstäblichen neuen Normalität geworden sind. Welche Geschäfte haben denn die Plexiglasscheiben abgebaut, die wahlweise die Kunden, die Mitarbeiter oder am besten beide voreinander schützen sollten? Erwachsene wurden wie Kinder behandelt, die man in jungen Jahren selbstverständlich nach dem Spielen im Garten an das Händewaschen erinnert oder beim Niesen an die Armbeuge erinnert.

In Corona-Zeiten gab es eine stetige Wiederholung solcher Selbstverständlichkeiten. Die Hygienepropaganda der Regierung in den Medien wurde durch Aufkleber, Abstandsmarker oder eben Plexiglasscheiben aktualisiert. „Vertreter der unteren Exekutive und letztlich die verordnenden Regierungen der Länder und des Bundes geraten damit in die Rolle von Eltern, die über die Kinder bestimmen, die kontrollieren und maßregeln.“ (S. 104f.) Czycholl nennt dies eine regressive Dynamik, die mit der Maske – und später dem Bekenntnis zur Impfung – ihre eigentlichen Höhepunkte erlebte. Dass die Maske viel mehr ein Symbol als ein medizinisches Schutzprodukt war, zeigte den Nutzern schon der Beipackzettel, der eben die Schutzwirkung ausschloss. Stattdessen bestätigte sie den Ausnahmezustand. Czycholl vergleicht die Maßnahmen mit dem Volksaberglauben, der zu einem großen Teil aus Regeln bestehe, „die vor irgendwelchem Unheil schützen sollen und die bei rationaler Betrachtung als zusammenhanglos und unwirksam erscheinen“. (S. 106)

Und warum der ganze irrationale Hokuspokus? Die Krisenverwaltung wurde, so schreiben es Andreas Urban und F. Alexander von Uhnrast, auf ein „neues, effizientes und technologisch zeitgemäßes Niveau gehoben“ (S. 82). Natürlich gibt es auch Kapitalfraktionen, die profitieren. Zu nennen wären Digitalkonzerne, Pharmaindustrie und Online-Handel. Man muss sich aber auch die Gesellschaft selbst anschauen. Ada Frankiewicz beschreibt einen Wandel der „Subjektordnung“, denn der Finanz- und Digitalkapitalismus erfordere neue Verwertungsanforderungen. Die Menschen sind nicht mehr ein fixes, stabil funktionierendes Rädchen in der Produktionsmaschine wie der industriellen Gesellschaft. In der postindustriellen Welt müssen sie sich permanent anpassen.

Das Subjekt wird im ,Projektkapitalismus‘, in dem alles zum fristbegrenzten Projekt wird, selbst zum Projekt mit der Pflicht zur permanenten Selbstoptimierung und der Sicherstellung der eigenen Vermarktbarkeit. (S. 177)

Das Subjekt müsse jederzeit die eigene optimale Funktionalität sicherstellen. Abweichungen wie Impfverweigerung oder Regelbrüche gelten „als abzustellende Störung, als Devianz, die technisch, psychiatrisch, polizeilich zu verwalten ist“. Parallel dazu versteht sich die Autorität als „sachlich, rational, notwendig und richtig“. Frankiewicz weist darauf hin, dass die Spaltung der Gesellschaft bereits vor 2020 zwischen denen bestand, die die Veränderung der Subjektordnung als positiv beschworen (hierzu gehört die Klientel der Grünen) und denen sie zu nützen scheint sowie auf der anderen Seite denen, die zunehmend prekarisiert werden und die alten sozialen Verhältnisse unkritisch affirmieren. Dieser Gedanke erinnert an die unterschiedlichen Normalitäten, von denen bereits die Rede war.

Basis des Mainstream ist dabei, folgt man Kurt B. Uhlschütz – einem weiteren Pseudonym, „ein ganz flaches, aber geschlossenes Weltbild“. Es habe sich ein „neuer Dogmatismus entwickelt, der die dekonstruierten alten Wahrheiten durch neue ersetzt, ein Katechismus der hegemonialen Schicht der Gebildeten“, die der Autor aufzählt („Follow the Science“, Geschlechtsidentität, Klimawandel usw.), die sich allerdings auch jederzeit ändern könnten, ohne dass dies ihre Träger zum Nachdenken bringen würde. Für Uhlschütz ist diese Irrationalität, er nennt das Ganze „Inkompetenzgesellschaft“, das untrügliche Zeichen einer systemischen Krise, womit wir wieder bei einem Verweis auf Robert Kurz angelangt wären. Angesichts dieser Diagnose schreibt Uhlschütz, dass jedes politische Personal mit der Aufgabe, die Probleme zu lösen, überfordert wäre,

weil die kapitalistische betriebswirtschaftliche Rationalität eine Gesellschaftssteuerung im Sinne gesamtgesellschaftlicher Rationalität, also der Wohlfahrt und des Glücks der Menschen nicht zulässt. (S. 209)

Vor dem Hintergrund von multipler Krise, Realitätsverlust, Regression, Inkompetenz und Spaltung war der „schwere Verlauf“ der Corona-Zeit fast unvermeidbar, zumal die Linke sich, wie erwähnt, quasi als Komplettausfall präsentierte. Ihr fehlte die Distanz zur modernen Medizin und zur pharmazeutischen Industrie (Urban/von Uhnrast), stattdessen beteiligen sich viele „Links-Progressive“ an der Umsetzung der neuen Subjektordnung und damit an der Durchsetzung des neuen Akkumulationsregimes (Frankiewicz). Jede Form des sozialen Protestes werde von der einen Seite der vermeintlichen Linken „als Bedrohung des demokratischen Gemeinwesens durch dunkle, vorzivilisatorische Mächte“ verstanden (Bedszent). Solcherart Linke akzeptieren die Zwänge des Marktes als etwas Natürliches, weswegen sie jeglicher noch so unsinnigen staatliche Repression folgen. Sie identifizieren sich mit dem Staat, während kleinere linke Gruppen, die sich dem widersetzen, sich als umgekehrt staatsfixiert erweisen. Konkreter wird Bedszent leider nicht, stimmt aber tendenziell Letztgenannten zu, denn:

Die derzeitige autoritäre Welle wird von ihnen in erster Linie als eine Bedrohung durch den Staatsapparat wahrgenommen. Dies sicher nicht ganz zu Unrecht: Das repressive Instrumentarium der Anti-Pandemie-Maßnahmen lässt sich ja wunderbar im Falle sozialer Proteste größerer Teile der Bevölkerung nutzen. (S. 64)

Gibt es einen Ausweg? Bedszent weist zurecht darauf hin, dass die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft keine Naturgesetze sind, sie nur in unseren Köpfen existieren. Sie könnten also auch überwunden werden. Dabei scheint der Kampf um die Köpfe durch die Propaganda und mediale Dauerbeschallung und das Framing gegen jegliche Opposition, wie sie Ortwin Rosner in seinem Beitrag beschreibt, zumindest derzeit entschieden. Nur eine Minderheit beschäftigt sich in der gespaltenen Gesellschaft mit oppositionellen Meinungen, die noch dazu oft genug selbst nur die reine Gegenseite des herrschenden Propagandanarrativs sind.

Die kritische und aufmerksame Lektüre des vorliegenden Buches hilft gegen solcherart Halbheiten. Es schaut hinter die Fassade und erklärt viele der Zusammenhänge. Dabei ist vieles bereits an anderer Stelle zu lesen gewesen, allein die Sammlung dessen ist wertvoll. Die Beiträge der Autoren bauen aufeinander auf, ergänzen einander und vertiefen so das Verständnis des Ganzen. Dabei schreiben die Autoren zuweilen etwas umständlich. Die Texte sind nicht immer eingängig und wirken zuweilen hermetisch und distanziert, man will sich mit keiner Sache gemein machen. Was angesichts der beschriebenen Fakten und der kundigen Analysen verständlich ist. Dem Buch ist in jedem Fall eine breite Rezeption und Diskussion zu wünschen. Wer Corona und die Krisen dieser Zeit, die „Alles-Blase“ (Fabio Vighi) verstehen will, der sollte es lesen.

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Andreas Urban (Hrsg.), Schwerer Verlauf, Corona als Krisensymptom. Promedia Verlag, Wien. 269 Seiten, 24 Euro

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