Zwischen Ost- und Westdeutschland

Abkehr von enttäuschten Hoffnungen

Ein Hafttagebuch aus dem Hier und heute. Über einen, der sich seinen früheren Opportunismus nicht verzeihen kann. Von einem Mann aus dem Osten: Birk Meinhardt. - Eine Rezension

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Aufschluss im Gefängnis Köpenick
Foto: Denis Barthel, Lizenz: CC BY-SA, Mehr Infos

Birk Meinhardt? „Kenn ich nicht?!“ Na der hat zum Beispiel den Beststeller „Wie ich meine Zeitung verlor“ geschrieben. „Ach so, ja. Hab‘ davon gehört. Nee, den kenn ich nicht.“ Das ist ein Fehler, denn er hat Abkehr geschrieben, ein tolles Buch, das so vieles über den Osten, vor allem aber auch über den gesamt- oder großdeutschen Westen erzählt.

Ich hatte von Birk Meinhardt gehört. Einer aus dem Osten, der im Westen gefeiert und vielfach ausgezeichnet wurde, sich dann aber querstellte und wieder auf die schiefe Ostbahn gekommen sein soll. Über seine Sicht auf den deutschen Qualitätsjournalismus schrieb er 2020 ein Buch: Wie ich meine Zeitung verlor. „Seine Zeitung“, das war die Süddeutsche, für die er von 1996 bis 2012 gearbeitet hat. Darin bringt er, so las ich, seine Enttäuschung zum Ausdruck, in den „freien“ Qualitätsmedien des Westens nicht das finden zu können, was er, der ostdeutsche Journalist, sich vom Westen erhofft hatte. Es gilt als ein „kluges“ und durchaus „selbstkritisches“ Buch: er hatte von der Freiheit des Westens zu viel zu erwartet; das Geschäft der Medien misst er an seinem Ideal, will sich nicht anpassen und auch nicht den Kampf führen, die Dinge seinen Vorstellungen anzuschmiegen. Wenn er bei „seiner“ Zeitung nicht so schreiben konnte, wie er schreiben wollte, dann musste man sich eben trennen. Was ich darüber gelesen hatte, schien mir plausibel. Mein zustimmendes Nicken kam aber ohne eigene Lektüre aus. Von einem Spiegel-Bestseller erwartete ich eh‘ keine großen Einsichten.

Wenn mich also vor zwei Wochen jemand gefragt hätte, ob ich Birk Meinhardt kenne, hätte ich wohl den Kopf geschüttelt und erst nach Erwähnung des „Bestseller“-Titels mit „Ach den meinst Du?! Nee, kenn ich nicht“ geantwortet.

Nun wurde ich aber von Michael Meyen auf Birk Meinhardt gestoßen. Birk Meinhardt hat jetzt im August 2024 ein Buch veröffentlicht, das ich nun dank Michael Meyens Empfehlung gelesen habe: Abkehr. Ein Hafttagebuch. Ich hatte noch ein anderes Ossi-Buch auf meiner Leseliste, Lutz Seilers Kruso, ein Roman über die Wende, der im Westen mächtig gefeiert wurde. Wie Lutz Seiler und Birk Meinhardt kommt Michael Meyen aus dem Osten und weiß, wovon er spricht: „Ja, der Kruso sei schon lesenswert, aber …“ Und Recht hatte er! Jetzt, nachdem ich beide gelesen hab, steht mein Sinn ganz auf Abkehr. Ein beklemmendes Hafttagebuch, das mich sofort in seinen Bann geschlagen hat. Es ist keine leichte, keine fröhliche Lektüre, die auf den Leser wartet. Aber es ist ein Buch, das Wirklichkeit erschließt – auch die im „Osten“, vor allem aber die im gesamtdeutschen „Westen“.

Untersuchungshaft

Ich sitze im Gefängnis. Der Gedanke ist mir fremd, fremd wie die vor mir liegende Hand, die gerade schreibt. Doch es ist Tatsache, ich sitze im Gefängnis…

So beginnt Birk Meinhardts Hafttagebuch. Schreiben lässt er es von Erich Werchow, „Held“ auch der beiden Bände, die Birk Meinhardt 2013 und 2017 zur Wende-Zeit veröffentlicht hat. (1) Wir werden damit an einen anderen, berühmten ersten Satz erinnert: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Wie in Kafkas Prozess legt sich eine geheimnisvolle, alles beherrschende Macht über das Leben. „Ich bin nicht verurteilt, ich bin in U-Haft. Heute vormittag eingeliefert.“

„In der Zelle drin ist’s noch ein Sanatorium, das weiß ich jetzt. Aber draußen auf den Gängen kann es die Hölle sein…“ Wenn die Tür sich öffnet – beim Aufschluss (2) – drängen sich andere heran, Häftlinge, die sich in Gruppen ordnen, „Araber, Tschetschenen, Russen. Dann Vietnamesen. Hintendran die Deutschen.“ Hierarchien, in die man sich ein- und unterordnen, denen man dienen muss. Er lernt, wie schnell man sich an einer Trinkflasche tödlich verschlucken kann. Es wird geprügelt und erniedrigt. Wir werden ins Gefängnisleben hineingezogen. Aber das Leben im Gefängnis ist – nach Öffnung der Zellengrenze – ein Abbild einer mehr und mehr verwahrlosten Gesellschaft. Der Häftling, der nicht recht weiß, wie ihm geschieht, blickt auf sich selbst und versucht sich durch Schreiben zu retten. Er führt ein Hafttagebuch, in dem er von der Haft und dem Leben schreibt, das ihn schließlich ins Gefängnis gebracht hat. Wir erfahren langsam die Vorgeschichte seiner Untersuchungshaft. Er erinnert sich an seine Jugendjahre noch im alten Staat und sein Hinübergleiten in den neuen.

Die eigene Schuld

Im alten Staat, noch vor dem „Aufschluss“, hatte er sich, um sein Außenhandelsstudium nicht zu gefährden, von der Schwester distanziert, die „den“ 1976 ausgebürgerten Liedermacher anhimmelt und deshalb ins Visier der Staatssicherheit gerät. So kann er – anders als die Schwester – sein Studium fortsetzen und wird „in der Weltwerbung“ eingesetzt, freilich nur „als Messebetreuer für ausschließlich die sozialistischen Länder“. Er will sich seinen Opportunismus nicht verzeihen. Das bestimmt auch sein Handeln im neuen Staat. Als das Tor zur Freiheit sich 1989 öffnet, scheint zunächst alles großartig. Jenseits der beschränktspießigen Ost-Behörde eröffnet sich jetzt die glänzende Welt der freien Wirtschaft. Er „darf“, so der westliche Neusprech, für eine Agentur mit dem sprechenden Namen Generosis „tätig sein“, die seine Ost-Kontakte für die Osterweiterung ihres Geschäfts nutzen will. Schon bald wird ihm klar, dass er sich wieder verbiegen müsste, wollte er einer von Generosis werden. Er muss für die vorsorgliche Einnahme eines reichlich überflüssigen Psychopharmakas durch Gesunde werben, denn „Beschwerdefreiheit“ sei lediglich als „Prä-Erkrankungsphase“ zu werten. Auch wir haben gelernt, dass gerade die (scheinbar) symptomfreien Krankheiten zu den schwersten zählen, die deshalb so einschneidende Maßnahmen erzwingen, dass auch Grundrechte ihnen angepasst werden. Und tatsächlich wird die weitere Selbstbesinnung im Hafttagebuch durchaus zeigen, dass die neue „Beschwerdefreiheit“ in Wahrheit doch die Vorstufe einer schweren Erkrankung ist, deren schmerzliche Symptome bald spürbar werden. Es gibt sie schon, die Symptome einer schleichenden Erkrankung und Deformation, ohne dass sie von den Betroffenen gespürt würden.

Ein Trauerredner

Der spätere Häftling kündigt bei Generosis und beginnt trübsinnig zu werden. Seine Frau hilft ihm „etwas Neues zu finden“. Sie stellt die entscheidenden Fragen: „Wo liegen deine Stärken, ich meine, die ureigensten? Welche ausgeprägten Fähigkeiten kannst Du einsetzen?“ Seine Frau meint, er könne mit Menschen umgehen und „genauso mit der Sprache, dir gelingt es doch immer, die rechten Worte zu finden.“ Deshalb schlägt sie ihm vor, Trauerredner zu werden. Und das wird er dann auch und ist darin erfolgreich. Er erzählt die Geschichten der Toten, von „ihren verlässlichen Freundschaften, von ihrem erfüllten Leben“.

Nach der Wende wird alles anders. Was konnte man da noch von den Toten zu erzählen. Fragte er die Angehörigen,

dann lautete die Antwort, der Vater, die Mutter, der Bruder, die Schwester haben wirklich noch eine sehr schöne Zeit gehabt. Sie sind mit Schmidt nach Amsterdam gefahren, nach Paris und sogar bis in die Toskana. Schmidt?, frage ich. Na das Busunternehmen hier. […] Die früheren Melker, Zerspaner, Agrotechniker, Metallfacharbeiter sind alle mit Bussen nach Amsterdam und Paris gefahren, und sie waren erst Fünfzig! Erst Fünfzig, und sonst nichts mehr in ihrem Leben. Keine sinnvolle Tätigkeit mehr, kein Gebrauchtwerden in einem größeren Sinn. Kein selbstverdientes Geld. Kein Stolz auf die Hände, die noch fest waren und noch so vieles gekonnt hätten, das war es, was mich, je mehr Einzelne aus dieser stillgelegten Generation ich durch die Berichte ihrer Nachfahren kennenlernte, mit immer tieferer Trauer und bald mit Schmerz erfüllte.

Die Stärke der Wiedererkennung

Der erfolgreiche Trauerredner wird darüber trübsinnig, gibt auf und bleibt sich darin treu. Schon vorher hatten wir erfahren, worin er eine besondere Stärke sieht, die ihn vor anderen Zeitgenossen auszuzeichnen scheint. Er nennt es „Wiedererkennung“. Er erkennt als Bürger des „inzwischen abgeschafften Staats“ Krankheitssymptome wieder, die anderen unscheinbar bleiben. Er hat sie so oder so ähnlich schon einmal erlitten. Er hört in dem Gesprochenen, das darin Gemeinte. Unliebsame Internet-Seiten zum Beispiel werden nicht einfach „gelöscht“, sondern „deaktiviert“, Meinungsfreiheit wird verteidigt, indem man abweichende Meinungen als „Desinformation“, „Delegitimation“ oder „Verhöhnung“ des Staats entlarvt und unter Strafe gestellt. Das gilt vor allem, wenn man es wagt, die neu entwickelten Instrumente zum Schutz von Staat und Demokratie mit denen von „alten, inzwischen abgeschafften“ Staaten zu vergleichen. Demokratie ist, was im Sinn der herrschenden Partei(en) ist. Der „Fraktionszwang“ zum Beispiel, der die frei gewählten und nur ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten im Bundestag und in den Landesparlamenten unter existentiellen Druck gleichschaltet, ist nichts als löbliche „Fraktionssolidarität“, die natürlich nicht zum Nachteil der Solidarischen ausschlägt. Alles andere ist böswillige Delegitimation.

Was einem alles einfällt, wenn man erstmal beim Notieren ist: Unsere Menschen, haben die Politiker im dann abgeschafften Staat ständig gesagt, wohingegen die Politiker im heute existierenden Staat immer sagen, die Menschen da draußen. Das eine Vereinnahmung, das andere Abschottung, einst Umklammerung, heute das Fortweisen …

Was einst „dem deutschen Volke“ verpflichtet war, kennt jetzt nur noch Wahlbürger, deren Rechte in ihrem (Wohl-)Verhalten gründen. „Wer die Werte, die im Land vermittelt würden, nicht vertrete, könne [ja] jederzeit das Land verlassen“ und sich „ausbürgern“. „Das sei die Freiheit jedes Deutschen.“ Flüchtlinge dagegen werden unbedingt und grenzenlos willkommen geheißen, ohne auf ihre Werte befragt zu werden. Und „Flüchtlinge haben ohne jeden Zweifel ihre Heimat“, eine kulturelle Heimat, aus der sie sich zu flüchten genötigt sehen. Wohin sie fliehen, ihre neue Heimat, ist allerdings eine, die es gar nicht gibt, die nur Rechtsradikale für sich reklamieren. In Wahrheit ist es eine multikulturelle Heimat, eine Heimat der Heimatlosen. Heimat „ist die Sprache, in der ich mich ausdrücken kann“, ist das Vertraute, das mir erlaubt, Unvertrautem zu begegnen und mich ihm zu öffnen. Heimat ist das, worin das für mich Selbstverständliche wohnt, das ich gerade in der Begegnung mit anderen Kulturen als das erkenne, was mich im Innersten ausmacht und mich von ihnen unterscheidet. Man will bunte Vielfalt ohne Farbunterschiede. Aber Unterschiede sind verdächtig. Gleichberechtigung wird zur Gleichheit.

Genau

Wer nach etwas gefragt wird, lässt seine Antwort mit einem „genau“ beginnen und zeigt damit, dass Fragen inzwischen nichts Fragliches mehr haben, sondern Aufforderungen sind, sich zu dem zu bekennen, was in der Frage behauptet wurde und für alle Gutmeinenden „alternativlos“ ist. Ist es dann noch verwunderlich, dass man sich gern in immer größeren Autos fortbewegt, deren Scheiben immer kleiner werden: Verspiegelte Sehschlitze in zivilen Panzern, die nicht erlauben, sich nach rechts und links umzusehen, sondern aufs Vorankommen fokussieren und ihre Tauglichkeit darin zeigen, störende Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Nichts zu verbergen

Manchmal ist das, was Erik Werchow wahr-nimmt, an der Grenze zum Paranoiden. Er erinnert sich in der Zelle daran, dass er und seine Frau einmal erschraken, als im Wohnzimmer plötzlich etwas zu surren begann. Aber es war „nur“ die Funkuhr, die begann, sich neu zu justieren. Ihnen kam der „irritierende Gedanke“, „eine unsichtbare fremde Hand schalte und walte, wie sie wolle“. Das ist ein nur eine Metapher auf ein verunsichertes Dasein.

Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.

Ich erinnere mich dabei an einen Kollegen, der sich einmal über seine Mutter lustig gemacht hatte, die Amazons Alexa misstrauisch beäugte, deren Leistungen ihr der Sohn stolz präsentierte. „Sie glaubt“, so der Kollege damals, „wohl wie manche Spinner, dass sie von Alexa belauscht werde.“ Aber, so der aufgeklärte Kollege, Alexa reagiert ja erst, wenn sie ihren Namen hört. Wie sie ihren Namen hören kann, ohne dauerhaft zu horchen, schien ihm kein Problem. Und dass die NSA und das britische GCHQ breitflächig unsere Mobilfunkkommunikation abgehört haben und es vermutlich noch tun, ließ ihn völlig unbeeindruckt, er habe ja nichts zu verbergen.

Alles eine Ermessensfrage

Niemand kommt ins Gefängnis, nur weil er seine Meinung geäußert hat? Das mag vor ein paar Jahren noch gegolten haben, aber heute? Ich sitze doch. Und ich hab noch nichtmal meine Meinung geäußert. Hab ich nicht, aber man hat es schon als Meinungsäußerung genommen, was ich mit meinem Gesicht gemacht hab, und hat mich deswegen und aus keinem Grund sonst in die hiesige Anstalt verbracht, so war es doch, oder!

Birk Meinhardt Hafttagebuch spielt in einer nicht fernen Zukunft. Er berichtet von Dingen, die gerade passieren oder passiert sind. Einiges wird zugespitzt, aber alles ist so, dass es auch heute geschehen könnte. Neun Monate saß der Querdenken Initiator Michael Ballweg mit fadenscheinigen Anschuldigungen in Untersuchungshaft: betrügerische Veruntreuung von Spenden und Geldwäsche wurden im vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft konnte nichts liefern, korrigierte schließlich die Anschuldigung und nach neun Monaten wurde er aus der U-Haft entlassen. Noch immer hat er bei gesperrten Konten keinen Zugriff auf sein Vermögen. Frei gelassen muss er von fremden Zuwendungen leben. Niemanden interessiert das. Selber schuld.

Alte Muster in neuer Gestalt

Auch Birk Meinhardts Erik Werchow ist dem Ermessen des „neuen Staats“ hilflos ausgeliefert. Aber er schreibt in seinem Hafttagebuch dagegen an. Seine Geschichte hatte ihn darauf vorbereitet. „Als die Pandemie begann, war ich längst immunisiert.“ Ja, die Pandemie spielt eine gewisse Rolle („Rechne mit allem, wenn Millionen Bürger ihre Maske allzeit bereit am Ellbogen tragen.“), aber die Abkehr ist grundlegender, geht tiefer. Er erlebt alte Muster in neuer Gestalt und zitiert einen italienischen Sozialisten, der „prophezeite, wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen, ich bin der Faschismus. Er wird sagen, ich bin der Antifaschismus.“ Das will kaum jemand hören, von Erik Werchow nicht und auch nicht von Birk Meinhardt.

Der frühere, preisgekrönte Star der schreibenden Zunft, findet für seine „Trauerrede“ keinen Verlag mehr, der das veröffentlichen will. Also gründet er kurzerhand einen eigenen, um seine Abkehr den Leuten nahezubringen. Ein trauriger, erschreckender Vorgang: niemand wird in Abrede stellen können, dass hier jemand schreiben kann. Aber worüber er schreibt, das will niemand zugänglich machen. Und natürlich will nun auch niemand über die Abkehr reden, die sich einfach verbietet.

Ein anderer Star der Zunft, Harald Martenstein, der sich ebenfalls kritisch über die Verengung des Sagbaren geäußert hat, ist eine Ausnahme, eine, die ungewollt die Regel bestätigt.

Vor ein paar Wochen schrieb ich über kluge Autoren, die in Deutschland nur in kleinen Nischenverlagen erscheinen können. Und zwar deshalb, weil sie von irgendwem als »rechts« gebrandmarkt wurden. Damit, dass es nur eine einzige gesellschaftlich akzeptierte Denkweise gibt, ob nun die linke oder welche andere auch immer, darf man sich in einer Demokratie nicht abfinden. Auch als Linker nicht, übrigens. Daraufhin bekam ich Post von einem Kollegen. Es gebe Bücher, die in Deutschland überhaupt niemand mehr zu verlegen wage. Er habe so eins geschrieben. Um es herauszubringen, habe er eigens einen Verlag gründen müssen. Sein Buch Abkehr, Untertitel Ein Hafttagebuch, lag bei. Der Absender war kein Niemand, sondern ein mehrfach preisgekrönter Reporter, zeitweise ein Star unserer Branche, Birk Meinhardt, geboren in Berlin-Pankow, in der DDR junger Sportreporter.

Natürlich verweist Martenstein auf Meinhardts Medienkritik-Bestseller über seine verlorene Zeitung, den er gut fand. Aber „Abkehr ist ein radikalerer Text als der über die Süddeutsche. […] Ich war voreingenommen, ich wollte Abkehr gut finden, unter anderem wegen des Autors.“ Aber richtig gut, kann Martenstein die Abkehr nicht finden. Seine Abkehr ist weniger „radikal“. Beim Tagesspiegel ausgestiegen, schreibt er weiter für Die Zeit und Die Welt – es muss ja weitergehen und es droht publish or perish, finanziell und symbolisch.

Wo sind die interessanten Schurken?

Martenstein stört „die Verbitterung, die aus fast jeder Zeile sprach, die Wut auf den Westen, der hier nur noch für Lüge, Niedergang und Denunziation steht. In einem guten Roman sollte es auch interessante Schurken geben. Das fehlt. […] Es ist eines dieser Bücher, in denen von vornherein klar ist, wer die Guten sind und wer die Bösen. War es denn nicht genau das, was Birk Meinhardt an der Süddeutschen gestört hat?“ Nun also doch Kritik handwerklicher Mängel? Ein zu simpel gestricktes Buch, das keine Grautöne kennt, sondern dem SchwarzWeiß-Populismus frönt? Würde man das auch Solschenizyns Archipel Gulag oder Orwells 1984 vorwerfen? Möchte man auch da von „interessanten Schurken“ lesen, die ob ihrer Vielschichtigkeit unsere Sympathie gewinnen? Im Übrigen gibt es diese Charaktere in der Abkehr. Erik Werchow ist selbst so einer, aber auch sein Anwalt Dreisinger, seine Frau Carla und der Mitinhaftierte Genja. Selbst der brachiale deutsche Gefängnis-Pate Ed oder seine früheren Kollegen Gudemark und Grapp umweht ein nebulöses Grau.

Martenheim wirft Meinhardt Inkonsistenz vor und führt sie selbst vor: nicht über die Person, die etwas sagt, sollte geurteilt werden – und schon gar nicht über ihre Kontaktschuld – , sondern über das, was sie sagt. Martenstein äußert sich nun freilich nicht über die Sache, „Lüge, Niedergang und Denunziation“, Zensur, Willkür und antifaschistischen Faschismus. Er möchte lieber von „interessanten Schurken“ lesen und findet die „Verbitterung“ verstörend, da sie ihm nun doch die Laune verdirbt.

Der abdriftende Osten

Aber Martenstein bekommt schließlich doch die Kurve: „wichtig“, meint er, sei die „Abkehr schon. All das an Zorn, was demnächst bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland wahrscheinlich seinen Ausdruck findet, steht ungefiltert und wuchtig drin. Wobei Birk Meinhardt eher aus der Wagenknecht-Ecke kommt als aus der AfD-Ecke. Man müsste ihn in die Talkshows einladen, dachte ich, man müsste sich mit ihm auseinandersetzen, weil er für viele im Osten steht und weil er klug ist. Aber das wird nicht passieren, fürchte ich, man wird Abkehr wohl entweder totschweigen oder Meinhardt mit Dreck bewerfen. So läuft es meistens.“ Es wäre politisch hilfreich, sich auch mit Meinhardt zu beschäftigen, damit der Osten nicht endgültig abdriftet. Ja, ja, der abdriftende Osten. Wir müssen der Desinformation Einhalt gebieten, nicht die Dinge ändern.

Ich empfehle die Abkehr, nicht weil sie die merkwürdige Vorstellungswelt des Ostens begreifbar macht. Sie versucht zu sagen, was ist. Das mag einem gefallen oder nicht. Ein wichtiges Buch, für das ich dem Autor dankbar bin. Also bitte: Lesen!

Birk Meinhardt, “Abkehr. Ein Hafttagebuch”, Vabanque Verlag, 284 Seiten, 22 Euro

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Fußnoten

(1) Birk Meinhardt, Brüder und Schwestern, Die Jahre 1979-1989, 2013 und Brüder und Schwestern, Die Jahre 1989-2001, 2017.
(2) „Aufschluss heißt es, wenn die Häftlinge raus dürfen, also nicht auf den Hof“ oder gar in die Freiheit, „sondern innerhalb ihrer Station…“

 

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