Gibt es gute und böse Zensur?
„Es bedeutet rein gar nichts, für die freie Rede von Leuten einzutreten, mit denen Sie einverstanden sind. Die Verteidigung der Meinungsfreiheit beginnt dort, wo sie sich für Leute einsetzt, mit denen Sie nicht einer Meinung sind. Und das ist nur der Anfang. Der eigentliche Kampf wird dort geführt, wo Sie Leute verteidigen, deren Meinung Sie sogar verabscheuen.“ (Salman Rushdie) – Gedanken zum Besuch der Ausstellung „Verbotene Bücher“ im Literaturhaus München.
Kürzlich besuchte ich im Literaturhaus München die kleine Ausstellung „Verbotene Bücher“, die sich mit Zensur beschäftigt und vom 28. Oktober 2023 bis 4. Februar 2024 zu sehen ist. Die Ausstellung war interessant und trotz des beengten Raumes gut gemacht – sie unterschied zwischen moralischen, religiösen und politischen Gründen für Zensur. Sie beschrieb auch witzige Versuche, Zensur auszutricksen, zum Beispiel, indem man Listen mit angeblich gefährlichen, aber gar nicht existierenden Büchern in Umlauf brachte und so die Zensurbehörde mit falschen Fährten für eine Weile beschäftigte.
Irgendwann erwartete ich einen aktuellen Bezug. Der kam dann auch am Ende, allerdings in einer Weise, die mich in Staunen versetzte und den Wert des zuvor Gezeigten relativierte. Auf der letzten Infotafel unter der Überschrift „Ist das Zensur?“ heißt es:
„Die Entwicklung hin zu einer offenen, diversen, pluralistischen Gesellschaft ist holprig. Viele Menschen fühlen sich verunsichert: Wenn sie plötzlich bestimmte Dinge nicht mehr tun oder sagen sollen ‚wie früher‘. Wenn marginalisierte Gruppen ihre Stimme erheben, die davor unsichtbar waren. Umso wichtiger ist es, zu unterscheiden zwischen realer Zensur und einer gefühlten, sogenannten ‚Cancel Culture‘. Die Meinungsfreiheit in Deutschland ist ein geschütztes Grundrecht. Eine Sensibilisierung dafür, dass bestimmte Darstellungen unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr entsprechen, könnte ein Gewinn für alle sein.“
Nun, die Kuratoren besitzen offenbar ein gefestigtes Weltbild. Sie wissen, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt und entwickeln muss. Sie kennen auch die Schuldigen: „Bücherverbote bedeuten Macht und Kontrolle. Kontrolle über politisch Unliebsame, über Frauen, über sozial Benachteiligte, über Menschen, die als nicht dazugehörig angesehen werden.“[1] Und Menschen, die eigene Vorstellungen von der Zukunft haben, werden nur als lästige Stolpersteine und Schlaglöcher wahrgenommen, als Leute, die unreflektiert daran hängen, wie es früher war. Die Kuratoren bemerken nicht den Widerspruch, dass eine Gesellschaft, in der es keine Darstellungen mehr geben soll, die der heutigen Gesellschaft nicht entsprechen, genau nicht „offen, divers, pluralistisch“ ist. Bei den offenbar unvermeidlichen Sätzen aus der Phrasendreschmaschine spielt auch keine Rolle, dass die in der Ausstellung gezeigten „verbotenen Bücher“ fast ausschließlich von Männern und auch eher von Intellektuellen als von sozial Benachteiligten stammen.
Um all das zu bemerken, muss man gar nicht politisch werden: Nicht erst seit Galileo Galilei ist jede Innovation ein Verstoß gegen allgemein akzeptierte Regeln der Wissenschaft. Wie schon Karl Popper ausführte, kommt die Gefahr für die offene Gesellschaft nicht von den „Bösen“, sondern von den „Guten“. Wie weit ist diese Haltung entfernt von der Diskursfreiheit, die die Grundlage der europäischen Universität bildet! Peter Abaiard, einer der Väter der europäischen Universität, schrieb schon 1140: „Niemand kann nämlich widerlegt werden außer aufgrund des Zugestandenen, und er darf nur durch das überzeugt werden, was er annimmt.“[2]
Bei den Büchern, die nicht den heutigen Werten entsprechen, geht es übrigens nicht etwa um Hitlers „Mein Kampf“ oder eine Anleitung zum Bombenbauen, sondern im Schaukasten finden wir Struwwelpeter, Karl May, Michael Ende und Pippi Langstrumpf. In den dazugehörigen Audiodateien wird das Umschreiben von Büchern gefordert oder gerechtfertigt.
Was stört die Kuratoren an Karl May? Millionen Jungen haben sowohl durch seine Amerika- wie durch die Orientbände nicht nur Toleranz, sondern Offenheit gegenüber anderen Kulturen und „Rassen“ gelernt. Winnetou war für uns ein Heiliger! Ein Indianer und ein muslimischer Araber können nicht nur anständige Menschen, sondern beste Freunde sein. Und Blutsbruder – mehr Antirassismus geht wohl nicht! Was stört daran? Dass die Leute „Indianer“ heißen? Oder dass ein 130 Jahre altes Buch aus heutiger Sicht ethnologische Fehler enthält? Was stört an Struwwelpeter? Die Botschaft, dass Handeln Folgen hat? Oder die Geschichte vom Mohren und Sankt Niklas? Diese Geschichte ist nicht nur antirassistisch, sondern der Schluss überaus intelligent: Nachdem die drei Jungs vom heiligen Niklas ins Tintenfass getaucht wurden, sind sie schwarzer als der Mohr, aber sie hänseln ihn immer noch wegen seiner Hautfarbe. Was stört daran? Dass das Wort Mohr vorkommt? Oder Pippi Langstrumpf: Der Negerkönig ist eine absolut positive Figur. Niemand würde dafür das Wort „Neger“ verwenden, wenn es für ihn negativ belegt wäre. Der Begriff ist also genau nicht rassistisch. Ebenso wie die ebenfalls auf den Index gesetzten Werke Michael Endes sind diese Bücher voller Toleranz, Menschenliebe und Respekt vor anderen Kulturen. Was um Himmels willen gibt es daran auszusetzen?
Die Verantwortlichen der Ausstellung, zu denen auch Professoren in Kassel und Vancouver gehören, haben sich gewiss lange mit ihrem Thema beschäftigt. Umso erschreckender ist die Schlichtheit der Analyse: Die Herrschenden wollen Macht über Frauen, Andersdenkende und marginalisierte Gruppen ausüben und deshalb verbieten und zensieren sie Bücher. Ja, noch mehr: Diejenigen, die in Vergangenheit und Gegenwart (vermeintlich) so gedacht haben wie man selbst, waren die Guten und es war böse, sie zu zensieren. Wenn aber jemand früher nicht so dachte oder heute nicht so denkt wie man selbst, dann ist es richtig, ihn in irgendeiner Weise an der Meinungsäußerung zu hindern.
Es wird vielfach bestritten, dass es so etwas wie den Mainstream und die Cancel Culture überhaupt gebe. Auch in der Infotafel wird ja unterschieden zwischen realer Zensur und „gefühlter sogenannter Cancel Culture“. Die Informationstafel liefert jedoch die exakte Definition des bestrittenen Phänomens: Was ist denn mit „heutiger Gesellschaft“ anderes gemeint als ein Mainstream? Was ist das Umschreiben einzelner Stellen anderes als das Schwärzen von Absätzen in früheren Zeitungen oder das Entfernen einzelner Passagen aus Romanen oder Filmen? Was sind Warnhinweise anderes als der Versuch, bestimmte Inhalte als unangemessen oder verstörend oder einfach aus einer anderen Zeit stammend zu diskreditieren und fürsorglich zu verhindern, dass wir Dummerchen damit in Kontakt kommen? War es nicht auch eine Form von Zensur, wenn in DDR-Fachbüchern auf den ersten Seiten zunächst einmal formelhaft dem Marxismus-Leninismus gehuldigt werden musste, bevor man sich im Hauptteil zum jeweiligen wissenschaftlichen Thema äußern konnte? Und, so empfiehlt die Ausstellung, am besten wäre natürlich, wenn man gar nichts umändern, verbieten, canceln müsste – das sieht immer so unappetitlich nach Zensur aus –, sondern wenn die Betreffenden aus eigener Sensibilität die unerwünschten Gedanken gar nicht erst äußerten. Kennen die Kuratoren nicht Huxleys „Schöne neue Welt“ oder Skinners „Walden 2“, in denen das Monströse ja gerade darin besteht, dass alles gut ist, alle es immer gut meinen und keine Gedanken gedacht werden sollen, die außerhalb dieses Gutgemeinten stehen?
Es ist eine gefährlich naive Vorstellung, eine Diktatur würde verkünden, sie wolle jetzt ungestört etwas Böses machen (etwa „Macht über politisch Unliebsame“ ausüben) und wer sich dem in den Weg stelle, werde zensiert oder gleich erschossen. Nein, jede Diktatur tritt im Namen des Guten an – und ihre Akteure glauben selbst daran. Alle Zensur fand und findet statt, weil irgendetwas nicht den Werten der jeweiligen Gesellschaft entspricht – aus moralischen, religiösen oder politischen Gründen. Wenn in einer freien Gesellschaft ein Buch tatsächlich nicht einheitlichen gesellschaftlichen Werten entspräche, gäbe es ja gar kein Problem – niemand würde es kaufen und man bräuchte es gar nicht zu verbieten oder ändern. Wenn es aber Leute gibt, die ein Buch lesen wollen oder womöglich gut finden, dann gibt es diese Einheitlichkeit offenbar nicht. Und genau für diese Situation ist Meinungsfreiheit gemacht. In keiner Diktatur der Welt brauche ich eine Meinungsfreiheit für den Mainstream – wer so denkt wie das System, hat auch in der ärgsten Diktatur jede Freiheit. Meinungsfreiheit brauche ich per Definition nur für die, die anders denken.
Als eine Art geistiger Schirmherr der Ausstellung wird Salman Rushdie bemüht. Auch auf der Webseite wird er mit dem Satz zitiert: „Redefreiheit ist das Entscheidende, um sie dreht sich alles. Redefreiheit ist das Leben.“ Dumm nur, dass Salman Rushdie gerade in diesen Tagen den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt und sich bei dieser Gelegenheit in verschiedenen Interviews äußerte. So etwa über „Empörungskultur und Zensur“ in einem Spiegel-Interview mit Arno Frank.[3] Gleich in der ersten Frage zum Thema Meinungsfreiheit macht sich der Spiegel-Redakteur die Haltung zu eigen, die auch in der Ausstellung zum Ausdruck kommt: „Es ist aber doch ein wesentlicher Unterschied zwischen einer rigiden Zensur durch die Herrschenden und zivilgesellschaftlichem Engagement dafür, einen literarischen Kanon an neue gesellschaftliche Gegebenheiten und Sensibilitäten anzupassen. Warum setzen Sie das gleich?“ Rushdie antwortet:
„Weil die Welt ein rauer Ort ist. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Sie können die Menschen nicht vor Verletzungen schützen. Sie mögen ein Buch nicht? Lesen Sie es nicht! Sie mögen ein Buch nicht? Schreiben Sie ein Buch! […] Ich sage ihnen: Es bedeutet rein gar nichts, für die freie Rede von Leuten einzutreten, mit denen Sie einverstanden sind. Die Verteidigung der Meinungsfreiheit beginnt dort, wo sie sich für Leute einsetzt, mit denen Sie nicht einer Meinung sind. Und das ist nur der Anfang. Der eigentliche Kampf wird dort geführt, wo Sie Leute verteidigen, deren Meinung Sie sogar verabscheuen.“
In demselben Satz der Informationstafel, in dem Sensibilität eingefordert wird, wird „Cancel Culture“ als „gefühlt“ abgetan. In Wirklichkeit könne es Zensur nicht geben, weil ja im Grundgesetz steht, dass sie nicht stattfindet. Auch der Müncher Merkur lobt, das Duo der Kuratorinnen arbeite sehr geschickt den Unterschied zwischen Zensur und „Cancel Culture“ heraus – nicht zuletzt, „um gegen das rechte Narrativ anzugehen, dass es bei uns Zensur gebe“.[4] Im Spiegel-Interview wird unterschieden zwischen „rigider Zensur der Herrschenden“ und „zivilgesellschaftlichem Engagement dafür, einen literarischen Kanon an neue gesellschaftliche Gegebenheiten und Sensibilitäten anzupassen“. Diese Haltung macht sprachlos in ihrer Kombination von Ignoranz und Anmaßung. War Zensur nicht auch in der Verfassung der DDR verboten? [5] Tatsächlich gibt es in Deutschland keine „Bundeszensurbehörde“. Umso mehr hätte man fragen können, warum in einer freien Gesellschaft ohne Not literarische Kanons aufgestellt, Textstellen geändert oder Warnhinweise ausgesprochen werden. Oder gilt vielleicht wieder die Charakterisierung von Ernest Wichner und Herbert Wiesner, „Das Wort Zensur gehörte selber zu den Tabus, die von der Zensur in der DDR bewacht wurden“?[6]
Die ganze Argumentation ist auch in sich widersprüchlich: Wenn es einen gesellschaftlichen Konsens zugunsten der zuvor Marginalisierten gibt, dann sind diese ja nicht mehr marginalisiert. Was unterscheidet einen neuen literarischen Kanon (griechisch/lateinisch für Stab, Stange, Messstab, Richtschnur, festgesetzte Ordnung) von einem „Index librorum prohibitorum“ (Verzeichnis der verbotenen Bücher), außer dass er neu ist und sich jetzt in einer Positivliste manifestiert. Wer hat nach einer solchen „Richtschnur“ verlangt? Wer setzt sie fest? Wenn etwas der heutigen Gesellschaft entspricht, dann ist es ja herrschend und marginalisiert wären gerade die, die immer noch „am Früheren hängen“. Wenn Werte aber gesellschaftlich schon etabliert sind, wofür braucht es dann noch „zivilgesellschaftliches Engagement“? Wenn sie aber noch nicht gesellschaftlich etabliert sind, wer ist dann die „Zivilgesellschaft“, die sich einen Umerziehungsauftrag anmaßt? Wie selbstverständlich gehen all diese Äußerungen davon aus, dass man selbst auf der richtigen Seite steht und zu denen gehört, die literarische Kanons aufstellen und durchsetzen – also zu den Herrschenden, um die Sprache der Ausstellung zu bemühen. Die Frage nach der Meinungsfreiheit muss jedoch andersherum gestellt werden: Wäre man auch Befürworter literarischer Kanons, wenn diese von Menschen festgelegt werden, die anders denken als man selbst?
Unfreiwillig enthüllen die Ausführungen nicht nur ein Soziogramm, sondern auch ein politisches Programm: Eine Gruppe oder Szene, die nicht die Mehrheit der Gesellschaft vertritt, sich aber anmaßt, in ihrem Namen zu sprechen, beansprucht die Macht, literarische Kanons festzulegen und davon abweichende Bücher zu eliminieren. Da jedoch Zensur verboten ist, darf der Vorgang nicht so heißen. Am besten wäre es, die Träger abweichender Weltsichten würden Sensibilität zeigen und freiwillig und vorauseilend auf ihre Meinungsäußerungen verzichten.
Der Autor
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Er ist Mitbegründer des renommierten Goinger Kreises und führt eine Vistage-Regionalgruppe von Unternehmern. 2023 erschien sein Buch „Methode Mensch oder die Rückkehr des Handelns“.
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Quellen
[1] https://www.literaturhaus-muenchen.de/ausstellung/vorschau-verbotene-buecher/
[2] Peter Abailard, Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen, Frankfurt am Main und Leipzig 1995 S.125
[3] Salman Rushdie über Empörungskultur und Zensur: „Es wächst eine Generation heran, die es sich unendlich leicht macht“ Ein Spiegel-Gespräch von Arno Frank, DER SPIEGEL 44/2023
[4] Michael Schleicher, Freiheit unter Druck: Das Literaturhaus München zeigt „Verbotene Bücher“ Münchner Merkur 30.10.2023
[5] Auch in den Verfassungen der DDR war Meinungsfreiheit garantiert (§9 und §28) einschließlich des Satzes „Eine Pressezensur findet nicht statt“. In §18 und weiteren Ausführungsgesetzen wurde aber auch die Übereinstimmung der Kulturschaffenden mit den Werten der Gesellschaft gefordert. Und interessant ist auch, dass das Wort „Zensur“ in der Novellierung von 1968 ganz aus der Verfassung verschwand.
[6] Ernest Wichner / Herbert Wiesner: Literaturentwicklungsprozesse – die Zensur der Literatur in der DDR, Frankfurt 1993