Wird Jill für Hill zum Stolperstein?
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Die Studie „Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens“ (1) der US-Universität Princeton aus dem Jahr 2014 kam zu dem Ergebnis, dass die USA von der Wirtschaftslobby und einer kleinen Zahl einflussreicher Amerikaner regiert wird. Trotzdem steht im Zweiparteiensystem der USA – auch deutsche Konzerne spenden (2) regelmäßig an die beiden führenden US-Parteien – im November die 58. Wahl des Präsidenten an. Für die Demokraten wurde Multimillionärin Hillary Clinton nominiert. Ihr Wahlbüro teilte vor Kurzem mit, dass die Clintons in den Jahren 2007 bis 2014 knapp 141 Millionen Dollar eingenommen haben. Für die Republikaner tritt Donald Trump, nach eigenen Angaben mehrfacher Milliardär, an. Die restlichen Kandidaten sind bedeutungslos. Eigentlich. Wie Jill Stein, die Präsidentschaftskandidatin der Grünen Partei.
Zweiparteiensystem
Stein kandidiert nach der Wahl im Jahr 2012 zum zweiten Mal für das höchste US-Amt. Damals wurde die Menschenrechtsaktivistin, zusammen mit ihrer Vizepräsidentschaftskandidatin Cheri Honkala, bei dem Versuch verhaftet (3), bei der zweiten Fernsehdebatte zwischen Barack Obama und Mitt Romney an der Hofstra Universität in Hempstead teilzunehmen. Es wäre nicht fair gewesen, sie auszusperren. Die Wähler hätten verdient, mehr über die Kandidaten und ihre Themen zu hören und welche Wahl sie hätten. Es sei eine Verhöhnung der Demokratie, so Stein damals. Durch den Ausschluss aus Medienberichten und Debatten würden oppositionelle Parteien und Stimmen vorab eliminiert. Stein, sich selbst zu den „99 Prozent“ zählend und mit der Erfahrung als Mutter, Job und Haus gegen ein Leben im Auto tauschen zu müssen, forderte eine neue, nicht gekaufte Partei, die integre Leute ins Amt bringt. Sie kam auf 0,37 Prozent der Wählerstimmen.
Slavoj Žižek hält das Zweiparteiensystem (4) lediglich für die „Erscheinung einer Wahlmöglichkeit, die es im Grunde gar nicht gibt“. Beide Seiten gleichen sich in ihrer Wirtschaftspolitik so sehr, dass die Unterschiede letztlich nur noch auf gegensätzliche kulturelle Einstellungen, wie multikulturelle, sexuelle oder sonstige „Offenheit“ kontra traditionelle „Familienwerte“ beschränkt würden. Ähnlich einem Placebo, um das Gefühl zu vermitteln, durch die Wahl zwischen Demokraten und Republikanern mitbestimmen oder etwas verändern zu können.
„Jill not Hill“
Und Stein? Die 1950 in Chicago geborene Jill Stein will nicht nur das korrupte und von ihr als undemokratisch bezeichnete Zweiparteiensystem aufbrechen, sie könnte Clinton auch wichtige Stimmen kosten. So wie Ralph Nader, Kandidat der Grünen Partei, im Jahr 2000. Damals kam Nader auf rund 2,7 Prozent der Stimmen und kostete Al Gore womöglich wichtige Punkte gegen George W. Bush (5). Stein setzt auf wütende und treue Anhänger von Bernhard „Bernie“ Sanders, die aus Rebellion gegen das System zu ihr überlaufen könnten und sie als Fortsetzung von Sanders sehen. Die Parole: „Jill not Hill“.
Sanders sprach sich nach seinem Scheitern auf dem Parteitag der Demokraten zwar für Clinton aus, trotzdem fühlen sich einige seiner Anhänger betrogen, werfen Clinton wegen der DNC-Leaks vor, die Partei zu manipulieren, korrupt zu sein und wechselten die Farbe, um eine dritte Partei zu unterstützen. Manche waren beim Konvent der Demokraten grün gekleidet, andere beteiligten sich aus Protest gegen Hillary an einer Gegendemonstration (6). Laut einer CNN-Umfrage nach dem Konvent der Demokraten planten zwar 69 Prozent der Unterstützer von „Bernie“ für Hillary zu stimmen, 13 Prozent würden aber für Stein, 10 Prozent für Gary Johnson von der Libertären Partei und 3 Prozent für Trump votieren (7). Stimmen, auf die es für Clinton am Ende ankommen könnte.
Kinderärztin Stein ist der Meinung, dass die Menschen es leid sind, nur das kleinere Übel zu wählen. Immer mehr würden sich von den beiden dominierenden Parteien abwenden. Clinton wirft sie vor (8), Jahrzehnte die Interessen der „Wall Street, des Krieges und der Walmart-Ökonomie“ bedient zu haben. Eine Sabotage der Sanders-Kampagne wäre durch Superdelegierte und „Super Tuesdays“ nach den Erfahrungen mit George McGovern nahezu garantiert, sie würde jede Basisbewegung zerstören und sei ein Weckruf. Sanders wirft sie die Entscheidung, für die Demokraten zu kandidieren, als falschen Pragmatismus vor. Eine Partei der Milliardäre wäre der falsche Weg für einen revolutionären Wechsel. Der Kampf gegen progressive Kräfte innerhalb der immer weiter nach rechts rückenden Demokraten, ob gegen Jesse Jackson, Dennis Kucinich oder eben Sanders, zeige dies mit jedem Wahlzyklus.
„Power to the People“
Schon in der Einleitung ihres Plans „Power to the People“ (9) lässt sich erahnen, dass Stein für die sogenannten Eliten eine Gefahr darstellen würde. Darin kündigt sie einen tief greifenden „Systemwechsel“, weg von „Gier und Ausbeutung des Konzern-Kapitalismus“, hin zu einer humanen Ökonomie an. Die Menschen sollen befähigt werden das defekte System zu reparieren, um das Versprechen von Demokratie wahr werden zu lassen.
Das Programm von Stein richtet sich, so wie bei Sanders, gegen das Establishment. Das Militärbudget soll um mindestens die Hälfte reduziert, über 700 ausländische US-Basen geschlossen, der Drohnenkrieg und Waffenhandel mit „Menschenrechtsverletzern“ beendet, nukleare Abrüstung vorangetrieben und Außenpolitik auf Grundlage der Menschenrechte gemacht werden. Whistleblower sollen vor Verfolgung geschützt und nicht durch die Verfassung gedeckte Überwachung und Spionage verboten werden. Sie will Guantanamo schließen, die Polizei demilitarisieren und geheime Todeslisten abschaffen. Stein plant, die Energiegewinnung aus Fracking, Offshore-Bohrungen oder Ölsand stillzulegen und die erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2030 auf 100 Prozent auszubauen. Der Mittelstand, kleine Unternehmen, Arbeitnehmer und Minderheiten sollen gestärkt, das Recht auf medizinische Versorgung und Arbeit bei einem angehobenen Mindestlohn von 15 US-Dollar in der Stunde eingeführt, sowie die Federal Reserve demokratisiert und die „too-big-to-fail“ Banken aufgebrochen werden. Stein sieht, wie Sanders, die Bildung als Schlüssel zum Erfolg und möchte die, teilweise exorbitanten, Studiengebühren abschaffen. Zusammengefasst fordert Stein also nichts weiter als einen Albtraum für den militärisch-industriellen Komplex, die Energiekonzerne und Banken.
Zunehmender Widerstand
Die politische Zielsetzung von Stein bringt mediale Ignoranz oder Widerstand mit sich. So wurde im Onlinemagazin Tablet vor wenigen Tagen gefordert, dass man seine Freunde nicht für Jill Stein stimmen lassen dürfe (10) und kommt zu dem Schluss, dass Stein keine „authentisch progressive“ Alternative sei. Für die Befürworter des Status quo wäre es womöglich fahrlässig, nicht gegen Stein Stimmung zu machen, um Trump mit seinen außenpolitischen Vorstellungen zu verhindern. Die Unbeliebtheit von Clinton und Trump (11), die Verschwörung der Demokraten gegen Sanders sowie einige mysteriöse Todesfälle im politischen Umfeld Clintons (12), haben Stein und der Grünen Partei – aber auch den Libertären – zuletzt immer mehr Zulauf verschafft (13).
Besonders bei jüngeren Wählern kommt Stein gut an. Für die nötigen 15 Prozent, um an Debatten teilnehmen zu dürfen, reicht es aber noch nicht. Die dafür ausschlaggebenden Umfragen sehen Stein erst bei 5 Prozent, Johnson bei 10 Prozent, wobei Stein von zwei – CBS und Fox – der fünf entscheidenden Umfragen – ABC–Washington Post, CBS–New York Times, CNN–Opinion Research Corporation, Fox News, und NBC–Wall Street Journal – ausgeschlossen wird. Sollte das so bleiben, würden diese Umfragen für den Durchschnittswert nicht mehr herangezogen, so ein Funktionär (14), was Steins Werte verbessern würde. Die erste Debatte findet am 26. September statt.
Wikileaksgründer Julian Assange sagte (15) beim Parteitag der Grünen in Houston, Texas, via Videostream, dass die Attacken gegen die Grüne Partei und ihre Kandidatin Jill Stein bis zu den Wahlen im November noch zunehmen würden. Er habe selbst erlebt, wie korrupte Mainstreammedien Material von Wikileaks vertuschen oder die Aussagen verdrehen wollten. Assange rät der Grünen Partei skeptisch im Umgang mit traditionellen Medien zu sein, da diese im Besitz großer industrieller Konglomerate sind. Man solle sich jedenfalls nicht von Clinton mit Trump erpressen lassen.
Quellen:
(2) http://www.cbgnetwork.org/4580.html
(3) http://www.politico.com/story/2012/10/green-party-ticket-arrested-at-debate-082490
(4) http://www.eurozine.com/articles/2000-10-03-zizek-de.html
(6) https://www.theguardian.com/us-news/2016/aug/02/jill-stein-sanders-supporters-green-party
(7) http://edition.cnn.com/2016/08/01/politics/trump-vs-clinton-presidential-polls-election-2016/
(8) http://www.jill2016.com/sanders_endorsement_clinton
(9) http://www.jill2016.com/plan
(10) http://www.tabletmag.com/scroll/210549/friends-dont-let-friends-vote-for-jill-stein
(11| http://2016.presidential-candidates.org/JStein/
(12) https://deutsch.rt.com/nordamerika/40011-nach-dnc-leak-mysteriose-todesfalle/
(13) https://www.freitag.de/autoren/ernstchen/am-ende-des-zweiparteiensystems
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(15) http://www.democracynow.org/2016/8/8/wikileaks_julian_assange_attacks_against_jill