Zwei gegen den Mainstream
Richard David Precht und Harald Welzer haben eine Medienkritik geschrieben. Einen Essay, der es gleich an die Spitze der Bestsellerliste geschafft hat. Der Aufschrei ist groß, die Kritisierten wehren sich. Die Hintergrund-Medienrundschau vom 7. Oktober 2022.
(Redaktion/7.10.22) Eine Medienkritik auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste. Das hatten wir so auch noch nicht. Zumindest erinnern wir uns nicht daran, dass eine Kritik am Zustand unserer Medien gleich nach Veröffentlichung zum Bestseller wird. Und trotz fünfstelliger Auflage muss gleich nachgedruckt werden (Börsenblatt, 5.10.22), wobei es auch noch Lieferprobleme gibt (Buchreport, 7.10.22). Richard David Precht und Harald Welzer sind ja auch nicht irgendwer. Wenn die beiden etwas schreiben, dann wird das wahrgenommen. Und der Auftritt der beiden Autoren bei Marcus Lanz in der vergangenen Woche hat sicher auch nicht geschadet (ZDF, 29.9.22). Ein Auftritt übrigens, bei dem endlich einmal nicht nur ein einzelner Protagonist die eine Seite vertrat und der Rest der Gästeschar die andere (FR, 5.10.22).
In allen weiteren Kanälen, Zeitungen, Zeitschriften ist ebenfalls viel zu hören und zu lesen. Meist sind es Verrisse, Kritiken, Polemiken. Aber was soll‘s. Precht und Welzer sind im Gespräch und das Thema brennt unter den Nägeln – den Menschen, die das Buch kaufen und das Werk auf die Bestsellerliste bringen. Und den Journalisten im Mainstream auch. Denn natürlich wissen sie, dass sie von vielen Seiten kritisiert werden. Wissen darum, dass ihr Berufsethos des objektiven Beobachters nicht erst seit dem Februar dieses Jahres angezweifelt wird. Da kommen ihnen zwei Prominente gerade recht. An ihnen können sie sich abarbeiten und erklären, wie haltlos die Vorwürfe des gleichgeschalteten Mainstream sind. Und sie haben sich an die Arbeit gemacht.
Schauen wir uns das Spektakel einmal genauer an. Zunächst zu den beiden Kritisierten. Ihre Medienkritik ist, was Wunder, noch recht gemäßigt. Schließlich sind sie Teil des Geschäfts und gehören zur Elite im Land. Sie scheren aus, aber nicht zu sehr. Und sie haben viel Verständnis für die, die sie kritisieren. Sie schreiben:
Im Angesicht von Kriegen rücken die Medien sehr nahe an die Regierung heran. Nun ist Meinungsfreude nicht per se eine journalistische Untugend und starke Betroffenheit, wie heute im Angesicht der russischen Aggression, auch verständlich. Das Dilemma bei der konzertierten Übernahme des Regierungs-Narrativs durch sämtliche Leitmedien aber ist, dass sie nun nicht mehr in der Lage sind, die Position eines Dritten gegenüber den Angegriffenen und den Angreifern einzunehmen; jene politische Position, die auf bestmögliche Weise dazu geeignet ist, objektiv über das Geschehen und seine Deutungsmöglichkeiten zu berichten. Stattdessen hielten sie es beim Ukraine-Krieg gerade umgekehrt für eine moralische Pflicht, auf die Position des Dritten zu verzichten und sich vorbehaltlos mit der Position der Angegriffenen zu identifizieren. Doch was menschlich verständlich ist, wird systematisch zum Problem, weil es sowohl die Informationsfunktion wie die Integrationsfunktion der Leitmedien einschränkt. Wie will objektiver Mittler und Vermittler sein, wer mit Haut und Haaren die Position einer Seite adaptiert und stellvertretend einnimmt?
Precht und Welzer wollen sich gerade nicht auf eine Seite schlagen. Ihre Position ist nicht schwarz-weiß. Sie möchten Zwischentöne erklingen lassen. Als „Dritte“ sehen sie sich und die anderen Unterzeichner des Offenen Briefes von Alice Schwarzer und der Emma-Redaktion, über den im Frühjahr heiß diskutiert wurde (Emma, 29.4.22). Und als solche „Dritten“ haben sie viele Anfeindungen erlebt. Nicht nur wegen des Offenen Briefes und natürlich nicht nur sie. Die Position der lautesten Leitfiguren in Politik und Medien war (und ist) eben: Es geht gegen den Feind im Osten. Den Iwan. Da braucht es Waffen. Mehr Waffen. Immer mehr Waffen. Wer da ausschert, muss sich auf etwas gefasst machen. Mit den Worten unserer beiden Medienkritiker:
Entsprechend aggressiv – man ist geneigt zu sagen: historisch aggressiv – fiel die Antwort auf jede und jeden aus, die den Versuch machten, die Position des Dritten einzunehmen und einzufordern. Nach einer Kriegslogik gehörten sie, leitmedial gesehen, der „Gegenseite“ an. Die „Putinversteher“ warfen sich „vor dem Diktator auf die Knie“, waren die „Fernuni für Moskau“ …
und so weiter. Wir kennen die verschiedenen Vorwürfe zur Genüge. Aus den Medien, teilweise auch aus dem eigenen Umfeld. Hier zitieren Precht und Welzer Worte, die von den Kriegstreibern gegen die Unterzeichner des Offenen Briefes gerne im wahrsten Sinne des Wortes ins Feld geführt worden wären. Allerdings mussten sie sich mit dem Schlachtfeld der Meinungen begnügen, auf dem das eine Narrativ zu siegen habe. Das des Mainstream, das des guten Westens gegen den bösen Russen, der Demokratie gegen die Diktatur. Das bekommen wir jetzt wieder zu lesen. Wir können Ihnen einige Spitzen aus dieser Diskussion nicht ersparen, wollen es auch nicht, denn die Debatte um Precht und Welzer zeigt vor allem: Die beiden haben recht.
Sicher, sie haben auch Fehler gemacht. Das Werk ist in gerade einmal drei Monaten entstanden, also fast ein Schnellschuss, will man es negativ beschreiben. Positiv könnte man ausdrücken, dass sie die drückenden Verhältnisse nicht mehr ausgehalten haben und einfach schreiben mussten. Das können wir verstehen. Die Medienrundschau entsteht auch oft aus eben diesem Bedürfnis. Precht und Welzer haben einen längeren Essay geschrieben (Börsenblatt, 29.7.22). Und einige offene Flanken gelassen, die dann von den Vertretern des Mainstream – bei Lanz war das Robin Alexander von der Welt (Kritik an ihm und der Kollegin Amann: Neulandrebellen, 7.10.22) – genüsslich ausgeschlachtet wurden und weiter werden. Wer ist schon fehlerfrei?
Die andere Kritik ist – leider – persönlich. Was haben die beiden denn? Sie werden doch gehört? Können bei Lanz im ZDF reden. Sind in allen Zeitungen. Da kann die Kritik doch nicht stimmen. Schließlich seien sie Teil des Spektakels, über dessen Ausgang sie sich jetzt beklagen, schreibt Stephan-Götz Richter im Focus und fährt als Gewährsmann gleich das schärfste ukrainische Geschütz auf, das in den vergangenen Monaten auf deutschen Boden getwittert hat:
In der Gesamtsicht muss man, mit den Worten des ehemaligen ukrainischen Botschafters in Deutschland Andreij Melnyk, konstatieren, dass sich hier zwei Männer in ihrem gemeinsamen Bemühen, eine beleidigte Leberwurst zu markieren, gegenseitig hochpuschen. (Focus, 4.10.22)
Ob das nun wirklich die härteste Abrechnung mit Precht und Welzer ist, als die die Redaktion ihren Text verkaufen will, lassen wir einmal dahingestellt und schauen als nächstes in die Zeit, die beschreiben will, wie Precht zur Hassfigur wird. Der einstige Liebling der Medien wird zum „Lieblingsfeind“ (Zeit, 5.10.22), zum „Watschenmann im deutschen Medienzirkus“, wie es Claudia Wangerin bei Telepolis schreibt und dabei gleich noch auf eine der schärfsten Reaktionen hinweist, die Prechts jüngst verbreitete Position zum NATO-Beitritt der Ukraine nach sich gezogen hat (RND, 1.10.22). Es geht um die „Kriegserklärung“ auf Twitter von Karl Lauterbach:
Ausgerechnet Lauterbach, der in der Debatte um die Corona-Maßnahmen noch jedes einzelne Menschenleben optimal schützen und individuelle Freiheitsrechte weiter unten einsortieren wollte, erklärte in diesem Tweet: „Wir sind im Krieg mit Putin.“ Eine offizielle Kriegserklärung der Bundesregierung liegt allerdings bis heute nicht vor – Lauterbach will sich vielleicht auch nicht vorstellen, was los wäre, wenn sie tatsächlich erfolgen würde. (Telepolis, 4.10.22)
Etwas gediegener argumentiert die FAZ. Die Medien könnten in dieser Situation gar nicht gewinnen, schreibt Harald Staun mit Blick auf Precht und Welzer:
Im Zweifelsfall halten sie jeden Einwand gegen ihre Thesen für eine „Dekontextualisierung“ und jede Bestätigung nur für „vorgetäuschten Meinungspluralismus“. Der Auftritt von Precht und Welzer wirkt fast wie ein Hoax, ein Experiment, das testen soll, wie empfänglich die von ihnen so genannten Qualitätsmedien inzwischen für unterkomplexe Empörung sind, solange sie mit einer gewissen Prominenz daherkommt. Vermutlich sitzen sie gerade an irgendeinem Stammtisch und freuen sich, dass man ihnen all ihr Gepolter als ernsthaften Debattenbeitrag durchgehen ließ. (FAZ, 26.9.22)
Wenn die guten Argumente fehlen, dann wird die Diskussion selbst angegriffen. Für Staun scheint schon die Frage nach der Einseitigkeit von Medien eine Marketingstrategie. Sie erscheint dadurch inhaltlich irrelevant. Und die Frage, ob Journalisten Kriegstreiber sind? Staun hat sich davor auf eine Metaebene verdrückt, die vielleicht im FAZ-Feuilleton einen Platz hat. In der Realität geht es um Krieg und Frieden. Das scheint Staun egal zu sein und auch Sarah Bosetti kümmert sich um anderes. Sie darf auch nicht fehlen, wenn es um die Verteidigung des Mainstream-Narrativs geht. Bosetti versucht, sich in ihrem Video-Format im ZDF mal wieder lustig zu machen. Dass sie dabei auch von Verschwörungen bzw. angeblichen Verschwörungen spricht, ist klar. Ist ja Bosetti (ZDF, 5.10.22). Muss man nicht gucken.
Schließlich noch ein Blick zum Medienmagazin Uebermedien. Hier stellt Nils Minkmar ein weiteres Mal klar, warum so viele einer Meinung sind.
Das hat aber nichts mit Twitter oder einem Redaktionsklima zu tun; es ist die Verantwortung, die sich aus der deutschen Geschichte ergibt. Wäre es wünschenswert, dass sich mehr Kolleg:innen dazu entschließen, die Russen zu unterstützen und um des fragwürdigen Ideals einer Parität willen den Täter loben? Ich denke nicht. Es handelt sich bei dem Überfall auf die Ukraine wie bei der Fatwa auf Salman Rushdie um einen, wie Rushdie einmal schrieb, Moment im Licht gleißender moralischer Klarheit, und da soll man keinen Schatten suchen. (uebermedien, 28.9.22)
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Das musste also auch noch festgestellt werden in dieser Debatte. Der Mainstream wird von der moralischen Klarheit verblendet. Oder haben wir da etwas falsch verstanden? Der Begriff „Verantwortungsverschwörung“ des Medienwissenschaftlers Uwe Krüger kam uns an dieser Stelle gleich in den Sinn. Nehmen wir die zwei Teile des Dokumenten-Leaks zur „Narrativ-Gleichschaltung“ der Bundesregierung bei den Nachdenkseiten (Teil 1, Teil 2) dazu. Und dann fühlen wir uns in der Tat in der Kritik bestätigt. Das sehen auch andere ähnlich. Stefan Winterbauer vom Branchenmagazin Meedia beispielsweise sieht zwar im Buch wenig Neues, eher ein Kompendium der Medienkritik. Aber er schreibt auch, dass das alles nicht verkehrt sei (Meedia, 30.9.22). Eben. Nichts wirklich Innovatives, nichts grandios Neues. Aber wichtig in dieser Zeit. Weswegen wir das Buch auch in dieser Medienrundschau behandelt haben. Und wir hätten noch viele Zitate bringen können.
Wir werden die Debatte weiter beobachten, darum geht es schließlich an dieser Stelle. Für heute kommen wir ans Ende und können Ihnen nur raten: Bilden Sie sich Ihre eigene Meinung. Schauen Sie wieder rein und schreiben Sie uns, wenn Sie mögen, an redaktion@hintergrund.de.