Hoffnung statt Journalismus
Ein Putsch? Eine Inszenierung? Ein Machtkampf innerhalb des Militärs? Die Interpretationen der Ereignisse am Wochenende in Russland sind vielfältig. Der mediale Mainstream hat sich rasch sein Wunschbild gemalt: Die mögliche Schwächung von Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Die Hintergrund-Medienrundschau vom 30. Juni 2023 mit einem Blick auf eine neue Runde Kreml-Astrologie.
Erst genau hinschauen und recherchieren, dann reden oder schreiben. Das ist eine simple Grundregel für Journalisten. In Zeiten des Internets, eines stetig zunehmenden Nachrichtenstroms und eines immer engeren Diskursraumes wird diese Prämisse schon lange nicht mehr eingehalten. Sämtliche Medien, zumindest im Mainstream, sind auf Sensationen und dadurch erzeugte Klicks angewiesen. Nachrichten sind schnell verbreitet, die Einordnung wird mitgeliefert. Wenn in Russland etwas passiert, das die herrschenden Machtverhältnisse ins Wanken bringen könnte, muss das sofort ins richtige Fahrwasser gelenkt werden – im Sinne des jeweils eigenen Narrativs. So geschehen am Wochenende im Falle der Ereignisse rund um die Privatarmee Wagner und deren Marsch in Richtung Moskau. Viele Medien schrieben eiligst das nahende Ende Wladimir Putins und seines „Regimes“ herbei. Auch Anne Will reagierte und lud eine entsprechende Runde Diskutanten ein.
Wir betrachten heute noch einmal die Reaktion der Medien auf dieses aktuelle Ereignis. Warum noch einmal? Das lesen Sie am Ende dieser Medienrundschau. Dabei haben wir uns angesichts der Masse des Materials nicht durch die einzelnen Medien gearbeitet, sondern mit alternativer Sichtweise quasi durch deren Brille auf den Konflikt geschaut.
In den vergangenen Tagen erlebte eine Disziplin medialer Schwurbelei eine Renaissance, die gerne bemüht wird, wenn man bezüglich Russland und seiner Politik nicht mehr weiter weiß: die Kreml-Astrologie. Telepolis-Chefredakteur Harald Neuber machte Experten ohne wirkliches Wissen auf allen Seiten aus, denn „im Grunde wissen die genauso wenig wie wir“. Das macht aber laut Neuber nichts, denn es „findet sich für jede Meinung eines Mediennutzers die entsprechende Experteneinschätzung“. (Telepolis, 27.6.23)
Während der Mainstream in Abgesängen über Putins baldiges Ende frohlockte, forschten alternative Medien längst einem gewaltigen Coup nach: Die CIA oder zumindest irgendwelche westlichen Geheimdienste müssten hinter der Aktion stecken. Für beides gibt es momentan keine Faktenbasis, dennoch wird an der jeweils eigenen Erzählung festgehalten. Wobei man sagen muss, dass jenseits des Mainstreams weitaus relativierende Texte erschienen sind. Deshalb unterziehen wir den Mainstream und seine Deutungen unserer heutigen Kritik. An den einmal getroffenen Erklärungsmodellen hielten Tagesschau und Co. auch noch fest, als sich die Lage bereits am Samstagabend grundlegend geändert hatte. Albrecht Müller skizziert das am Beispiel eines Beitrags auf tagesschau.de (Nachdenkseiten, 27.6.23). Zusammenfassen kann man die Reaktionen vielleicht wie folgt:
Die deutschen Medienanstalten waren sich nach dem Putsch – war es letztlich einer? – in Russland recht schnell einig: Die Angelegenheit zeige, dass Putin die Macht, wenigstens aber sein Gesicht verliere. Die FAZ thematisierte prompt „das Versagen tragender Säulen der Herrschaft Putins“ – und erklärt, worauf sich „Putin jetzt nicht stützen“ könne. Spiegel Online ließ einen Politologen einschätzen: „Wir sehen den Anfang vom Ende des Systems Putin“. (Overton-Magazin, 27.6.23)
Die Leitmedien sehen, was sie sehen wollen. Andere Perspektiven werden gar nicht erst in Erwägung gezogen. Nachdenkseiten-Chefredakteur Jens Berger wird angst und bange beim Blick auf den geistigen Zustand der (medialen) Elite in Deutschland:
Wer am Wochenende die deutschen Medien verfolgte, stieß dort auf eine Mischung von klammheimlicher bis offener Freude – offenbar hat die naive Hoffnung auf einen „Regime Change“ in Moskau unsere Meinungsmacher so fest im Griff, dass man sich dafür sogar Chaos und Bürgerkrieg in einem Land herbeiwünscht, das die größte Atommacht der Welt ist. (Nachdenkseiten, 26.6.23)
Berger betrachtet in seinem Text insbesondere die Sendung von Anne Will in der ARD vom Sonntag. Diesmal war kein Gast mit konträren Ansichten geladen, an dem sich die Mitdiskutanten abarbeiten konnten.
Dass der Chor der transatlantischen Falken dann sein transatlantisches Gekrähe zum Besten gab, konnte daher auch nicht wirklich überraschen. Schockierend war jedoch die Gleichförmigkeit, mit der man sich mal mehr, mal weniger direkt das Chaos in Russland herbeisehnte. Das war – so schlimm es ist – repräsentativ für die gesamte mediale Berichterstattung des Wochenendes.
Die Sendung mit einer Reichweite von 3,5 Millionen Zuschauern am Sonntagabend (Quelle) stieß nicht nur bei den Nachdenkseiten auf Kritik. Auch die Kommentatorin bei Stern online monierte die vielfältigen Spekulationen der Teilnehmer, die zwar Expertenwissen hätten (worüber man, nebenbei gesagt, unterschiedliche Ansichten haben kann), die aber in diesem Fall nicht viele Fakten kannten.
„Wir stochern im Nebel“ fasste die Moskau-Korrespondentin Ina Ruck die begrenzten Möglichkeiten, verlässliche Aussagen zu treffen, folgerichtig zusammen. Natürlich müssen Sendeminuten gefüllt werden, wollen wir alle uns informiert fühlen. Aber einer der wichtigsten Grundsätze, zumindest für Journalist*innen, ist noch immer das Augstein-Zitat „Sagen, was ist“. Und eben nicht zu raten oder zu hoffen. (Stern, 26.6.23)
Informiert mögen sich Zuschauer, Leser und Hörer dieser Art Berichterstattung vielleicht „fühlen“. Sie sind es aber nicht. Mit keiner Silbe. Denn allerorts wird wie bei Anne Will oder auch in einem Deutschlandfunk-Podcast vor allem eines geliefert: wilde Spekulationen. Die sind offenbar erlaubt, wenn es um Putin und seine Zukunft geht. Beim Thema Pipeline-Sprengung galten Hypothesen hingegen als Verschwörungsmythen, wie die junge Welt konstatiert. Es kommt aufs Thema, aufs Narrativ an. So führt das Blatt den DLF-Podcast-Moderator Philipp May als Beispiel an. Der bekannte,
er verstehe zwar Warnungen vor einem „Failed state mit Atomwaffen in der Hand von Irren“, aber er sei schon „leicht enttäuscht“ gewesen, als es hieß, Prigoschin ziehe zurück: „Worauf soll man da eigentlich hoffen?“ Nicht auf den Qualitätsjournalismus. (junge Welt, 28.6.23)
Am offenen transatlantischen Wunschliedersingen hat sich auch die „Denkfabrik“ LibMod beteiligt. Für das Zentrum, bei dem die liberale Moderne ihre wahre Fratze zeigt, nutzte dessen Chef den gesinnungstreuen Spiegel als Kampf- und Propagandaarena. Ralf Fücks will den Regime Change in Moskau. Das ist nichts Neues, aber jetzt sieht er die Chance zum Greifen nah. Roberto De Lapuente schreibt im Overton-Magazin:
Grundlage für Fücks publizistische Eskalationshingabe ist natürlich der vermeintliche Putsch des Wochenendes: „Dass eine solche Meuterei überhaupt stattfinden konnte und auf keinen nennenswerten Widerstand traf“, so erklärt er, habe „Putins Image als starken Mann“ angekratzt. Fücks sieht das Regime am Ende – und er spricht auch nur vom „Regime“: Von einer russischen Regierung spricht er per se nicht. Nachtigall, ick hör dir framen!
Fücks gründet seine Eroberungspläne für den Osten auf Prämissen, die kaum haltbar sind. Dass der Putsch gar keiner war, dessen sind sich viele Beobachter – zumal auch in den Vereinigten Staaten – recht sicher. Die Erzählung vom fehlenden „nennenswerten Widerstand“ ist demnach das Hirngespinst eines Geschäftsführers mit geopolitischen Großmannsphantasien. Denn wo hätte es Widerstand geben sollen? Es bestand doch gar keine Notwendigkeit dazu. (Overton Magazin, 28.6.23)
De Lapuente verweist jedoch auch auf ein Interview mit dem Schweizer Ex-Militär Jacques Baud, der nicht zuletzt wegen seiner beruflichen Erfahrungen – auch in der Ukraine und in Russland – derzeit ein viel gefragter Gespächspartner und Autor ist. Allerdings nicht von Fücks und Co., die vom Putsch reden. Der ehemalige Oberst der Schweizer Armee widerspricht dieser These, verweist insbesondere auf Konflikte zwischen Prigoschin, dem Chef der Wagner-Gruppe, und den regulären Militärs. Baud interpretiert die Ereignisse wie folgt:
Der Vorfall hat im Westen und in der Ukraine ein falsches Signal gesendet. Man nahm an, dass wegen der Gegenoffensive Unruhen in Russland entstehen können. Das ist meines Erachtens eine völlig falsche Annahme, die aber im Westen vertreten wird. Das sieht man auch in den Medien, die den Vorfall als Schwäche von Russland oder Putin interpretieren. Wenn man die Sache sauber analysiert, würde ich sagen, ist es fast das Gegenteil, weil diese Krise innerhalb von 24 Stunden ohne Blutbad, ohne große politische Auseinandersetzung in Russland gelöst wurde. Sehr viele Russen haben die Geschehnisse in den Medien verfolgt, wo das sehr breit gezeigt wurde. Als zum Beispiel die Wagner-Truppen in Rostow angekommen sind, hat Putin den russischen Streitkräften befohlen, nicht zu schießen. Das heißt, die russische Regierung hat eine Strategie der gewaltlosen Lösung gewählt, wie sie auch geschah. (Overton Magazin, 27.6.23)
Auch Christian Müller kritisiert in seinem Magazin Globalbridge die Reaktion der Medien, die, statt genau zu analysieren, sich vor allem darüber ausgelassen haben, wie geschwächt Putin sein könnte. Er verweist auf die US-amerikanische Autorin Katrina vanden Heuvel und zitiert:
„Vorsicht sollte das Gebot der Stunde und das Leitprinzip der Politik sein.“ Das ist eine äußerst kluge und sinnvolle Empfehlung an die US-Politik – und auch die Europäer sollten diese Empfehlung beherzigen. Freude über eine mögliche Schwächung Putins kann nur auf Unkenntnis der russischen Gesellschaft basieren, auf totaler Missachtung der Gefahr, dass so Nuklearwaffen in verantwortungslose Hände geraten können, auf bewusster Unterstützung des US-Anspruchs auf die militärische Beherrschung unseres ganzen Planeten und auf – bewusster oder unbewusster – Unterstützung des neoliberalen Wirtschaftssystems, das die Reichen reicher und die Armen ärmer werden lässt – siehe die Wirtschaftszahlen der letzten Jahre. (Globalbridge, 27.6.23)
Faktenbasiertes Analysieren oder grundsätzliches Abwarten gibt es in diesen Zeiten nicht. Und wenn, dann wird auch das bemängelt. Zumindest von den Berufskritikern innerhalb des Mainstreams. So tadeln die Fachjournalisten von Übermedien die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und hier insbesondere tagesschau24, dass sie nicht schnell genug auf die Ereignisse reagiert hätten (uebermedien.de, 26.6.23). Braucht es tatsächlich noch mehr Spekulationen und Wunschdenken in Echtzeit?
Uns dienten am Sonnabend insbesondere mehrere Telegram-Kanäle als Nachrichtenquelle. Dort waren alternative Medienmacher aktiv und zum Teil sogar vor Ort. Das haben ARD und ZDF nicht geschafft. Ihre Korrespondenten standen in Moskau und sendeten Einspieler aus Rostow am Don. Dass Telegram besser ist als sein Ruf und sich dort sogar Journalisten großer deutscher Tageszeitungsverlage informieren, hat letztens Burkhard Ewert, Politikchef der Neuen Osnabrücker Zeitung, beschrieben (im Newsletter Rest der Republik von vergangener Woche). Ewert ist uns schon Anfang des Jahres als Journalist der alten Schule aufgefallen, seitdem lesen wir seinen Newsletter regelmäßig (Medienrundschau vom 20.1.2023).
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Mit diesem weiteren Hinweis auf Brüche im Mainstream sind wir am Schluss dieser Zusammenfassung angelangt. Vorher weisen wir noch auf ein Interview hin. Es wurde (wieder einmal) mit dem ehemaligen Generalinspekteur Harald Kujat geführt (n-tv auf Youtube, 27.6.23). Kujat ist ein nüchterner Beobachter des Geschehens und neigt nicht zu Übertreibungen. Man muss nicht alles teilen, was er sagt, um diesem Interview Erkenntnisse abzugewinnen. Kujat spekuliert nicht, betreibt keine Kreml-Astrologie, sondern beschreibt, was er aus seiner Erfahrung als NATO-General beobachtet. Das ist interessant.
Wir wollen uns aber nicht verabschieden, ohne das „heute noch einmal“ vom Anfang dieses Textes aufzulösen: Mit dieser Ausgabe beenden wir die mehr oder weniger regelmäßigen Medienrundschauen. Wir haben das Gefühl, an dieser Stelle bereits sehr vieles gesagt bzw. geschrieben zu haben. Das heißt nicht, dass wir bei Hintergrund künftig keine Medienkritik mehr üben werden. Das Thema bleibt uns und Ihnen erhalten. Nur nicht mehr regelmäßig als Kolumne an dieser Stelle. Der heutige Termin passt auch deshalb ganz gut, weil wir uns damit zwar von der Medienrundschau verabschieden, uns über etwas anderes aber sehr freuen: Seit heute ist unser erstes Heft nach über drei Jahren Pause erhältlich. Hintergrund gibt es also wieder gedruckt! Freuen Sie sich mit uns, schreiben Sie uns gerne, wie Sie das Heft finden. Schreiben Sie uns gerne auch Kommentare zu unserem Online-Angebot, beides an redaktion@hintergrund.de. Und abonnieren Sie unseren Newsletter!