Ukraine-Krieg

Eine Rakete, zwei Tote und drei Orden

Die Bild-Zeitung hat den Bogen überspannt. Am Mittwoch lag bundesweit den ganzen Tag lang eine Ausgabe in Kiosken und auf Verkaufstresen, deren Titel behauptete, Russland habe Polen beschossen. Das war selbst dem Mainstream zu viel, Kritik kam von vielen Seiten. Meist nicht ohne den Zusatz, dass ohne „Putins Krieg“ kein Pole gestorben wäre. Interessant wäre indes gewesen, bei dieser Gelegenheit eine Ordensverleihung an Bild-Redakteure näher zu betrachten. Das (und mehr) machen wir in der Hintergrund-Medienrundschau vom 18. November 2022.

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Bild-Zeitung vom Mittwoch (16.11.)
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Bei der Bild-Zeitung gibt es keinen Zweifel. Und wenn, dann nur mit kleinen Buchstaben. Groß hingegen werden vorgebliche Fakten, Sensationen, Weltkriegsdrohungen in die Republik geschrien. Am Mittwoch war es wieder einmal so weit. Die Bild verkündet Tatsachen, die keine sind. Maximal Vermutungen: „2 Tote. PUTIN feuert Raketen nach Polen“ prangte auf der halben Titelseite der Bild. Klein dazu die Quelle, dass die Meldung auf amerikanischen Angaben beruhe und ein nationaler Sicherheitsrat einberufen worden sei. Es wird nicht einmal klar, welcher. Unter der Schlagzeile, ohne Bezug dazu, das Foto eines US-Flugzeugträgers. Eine Kriegsausgabe.

Hinter der großen Schlagzeile steht eine dürftige Meldung auf Seite zwei, in der die Redaktion klar machen will, um was es geht: „Putin-Raketen auf Nato-Gebiet“. Die Quelle für die Behauptung: amerikanische Geheimdienste. Politiker seien alarmiert oder „extrem besorgt“. Das war es auch schon. Ein paar Zeilen, mehr nicht. Darunter eine Einordnung: Bild-Chefredakteur Johannes Boie kommentiert, dass es sich um ein Versehen von angeblich oft betrunkenen russischen Soldaten gehandelt haben könnte. Oder aber um Absicht:

Dann muss das Militärbündnis hart zurückschlagen. Denn die Nato kann ihr Territorium nicht einfach bombardieren lassen, ihre Bürger nicht im russischen Bombenhagel sterben lassen. Putin reagiert nur auf Gewalt. Der irre Tyrann bringt uns immer näher an einen dritten Weltkrieg.

Und wenn Putin das nicht gelingt, dann kümmert sich Bild darum, ergänzen wir vermutlich im Sinne der Kriegstreiber aus dem Hause Axel Springer. Denn, wie wir mittlerweile wissen, ist an der Sache nicht viel dran. Nach der ersten AP-Meldung am Dienstagabend, dass russische Raketen in Polen eingeschlagen seien und amerikanische Geheimdienstquellen Russland die Schuld gaben, wurde vielerorts beruhigt. Die oberste Autorität, US-Präsident Biden, sprach rasch davon, dass es sich wohl nicht um russische Raketen gehandelt habe. Es war offenbar eine ukrainische. (Petra Erler auf Substack, 16.11.22)

Auch auf Twitter schlugen die Wellen hoch, die Meinungsführer aus der vordersten Front der Anti-Putin-Kämpfer ereiferten sich mit ihren Tweets. Zum Beispiel die beiden FDP-Bundestagsabgeordneten Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Alexander Graf Lambsdorff. Strack-Zimmermann schrieb von russischen Raketen, die „offenbar“ Polen getroffen hätten und stellte fest: „Das ist das Russland, mit dem hier einige offenkundig und absurderweise immer noch ,verhandeln‘ wollen.“ Verhandeln auch noch in Anführungszeichen.

Nein, gegen den Russen hilft nur der Krieg. Waffen, Waffen, Waffen, für die die FDP-Abgeordnete und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses nicht müde wird zu trommeln. Graf Lambsdorff wiederum schrieb von „Klarheit“, dass es russische Raketen gewesen seien. Beide Aussagen finden sich archiviert auf den Nachdenkseiten, denn die Autoren haben sie – klugerweise – gelöscht (Nachdenkseiten, 16.11.22). Noch klüger wäre es indes gewesen, sie hätten sie erst gar nicht abgesetzt. Nachdenken hilft, vor allem in brenzligen Situationen. Nun relativieren sie und bleiben im Narrativ: Schuld sei Putin, ohne den russischen Angriff keine Raketen und auch keine Abwehrraketen, die in Polen einschlagen. Was NATO-Generalsekretär Stoltenberg in der Sache zum Besten gab, wurde schnell überall wiederholt.

Ausgangspunkt für die anfänglichen Behauptungen von russischen Raketen waren jene Journalisten, die sich gar nichts anderes vorstellen konnten, als dass der böse Ivan geschossen hat. Über der ZDF-Meldung aus der Nacht zum Mittwoch, auf die Graf Lambsdorff verwies, prangt weiterhin die Schlagzeile: „Polen bestätigt Einschlag russischer Rakete“ (ZDF, 16.11.22). Dabei steht im Text, dass die Rakete wohl aus russischer Produktion stamme, ob sie von Russland abgefeuert wurde, wisse man nicht. Dass die Journalisten beim Verfassen solcher Überschriften von ihrer eigenen Haltung geleitet werden, ist keine Frage. Wir kennen das und haben das am Beispiel einer anderen Rakete, die angeblich von russischer Seite kam, bereits einmal besprochen (Medienrundschau vom 17. Juni). Die Mehrheit der deutschen Journalisten brennt für die Sache der Ukraine, wir haben das an dieser Stelle oft genug nachgewiesen.

Der Berliner Journalismus-Professor Sebastian Köhler schaut auf den Dienstagabend mit noch etwas anderem Blick:

Immer wieder wurde der Nato-Bündnisfall angesprochen und damit die Anspannung auf- und ausgebaut, inwiefern ein 3. Weltkrieg kurz bevorstehe. Im Sinne der den Medien als Waren innewohnenden Aufmerksamkeitsökonomie nicht überraschend, dass hier auf Angebots-Seite ziemlich handfeste wirtschaftliche Interessen an Eskalation in vieler Hinsicht wirken – die aktuelle Unsicherheit und das akute Orientierungsbedürfnis der Publika können, so betrachtet, gar nicht groß genug sein: ‚Only very bad news are good news.‘ (‚Nur sehr schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten.‘) (Telepolis, 17.11.22)

Zwar sind schlechte Nachrichten gute Nachrichten, aber es kommt auch dabei auf die Haltung an. Denn die für viele Seiten schlechte Nachricht einer ukrainischen Rakete wird nach Bekanntwerden des Faktums schnell relativiert.

Und deshalb zunächst zurück zur Bild-Zeitung, zum Springer-Konzern an der Seite der Ukraine. Drei Journalisten aus dem Hause Springer, das seit 2020 mehrheitlich der US-Beteiligungsgesellschaft KKR gehört, sind kürzlich ausgezeichnet worden. Mit einem Orden der Ukraine. Und sie sind stolz darauf. Es handelt sich um Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt und die Bild-Reporter, Julian Röpcke und Paul Ronzheimer (Welt, 15.11.22).

Mindestens für die beiden letztgenannten wäre statt „Kriegsreporter“ das Wort „Kriegstreiber“ wohl angemessener. Ronzheimer hatte es bereits vor einigen Monaten in unsere Liste der zehn schlimmsten Kriegstreiber Deutschlands geschafft (Medienrundschau vom 28. April) und Röpcke tat sich vor knapp zwei Wochen mit einem (kurz danach gelöschten) Tweet hervor, dass die Ukrainer Hunderte weitere Russen zu Dünger gemacht hätten (RT, 7.11.22). Wer so schreibt und so sehr vom ukrainischen Narrativ eingenommen ist, der trägt den Orden zu Recht. Auch die Welt handelt letztlich nach ihren auf den Gründer Axel Springer zurückgehenden Grundsätzen, unter denen die „Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika“ ein wichtiger Punkt ist. Und an der Seite der USA, die den Stellvertreterkrieg in der Ukraine führt, stehen die Welt-Journalisten in diesem Krieg. So ist Chefredakteur Poschardt ein würdiger Ordensträger. Er selbst empfinde die Auszeichnung als große Ehre, klopft er sich bei Twitter selbst auf die Schulter.

Das alles hat mit unabhängigem Journalismus nichts mehr zu tun, schreibt Tobias Riegel:

Irritierend ist die dreiste Offenheit von beiden Seiten, die sich bei der aktuellen Episode mit den Verdienstorden und den Reaktionen darauf erneut offenbart: Es wird gar nicht mehr der Versuch unternommen, den Eindruck von Unabhängigkeit zu erzeugen – es geht offenbar nur noch um Stärkung der eigenen Front im als solchen akzeptierten Propagandakrieg. Dennoch fragt man sich, warum nicht mal mehr aus taktischen Gründen wenigstens so getan wird, als gebe es einen Hauch von journalistischer Unabhängigkeit gegenüber der ukrainischen Regierung und den sie dominierenden ‚Partnern‘ aus den USA. (Nachdenkseiten, 16.11.22)

Auch der Cicero ist irritiert, schreibt über das, was Journalismus eigentlich ausmachen sollte und den Widerspruch, den die Ordensverleihung an die Springer-Leute darstellt. Selbstverständlich dürfe ein Medienhaus eine Haltung haben, selbst wenn dieses der (linken) Gegenseite immer wieder vorwirft, überhaupt eine Haltung zu haben. Aber es gebe Grenzen. Insbesondere verweist der Autor auf den Tweet von Ex-Botschafter Melnyk, der dem „lieben Ulf“ gratuliert und schreibt, dass die drei Ausgezeichneten einen Beitrag dazu geleistet hätten, dass die Ampel-Koalition mittlerweile Waffen liefert.

Ein aparter Vorgang. Ein fremdes Land zeichnet Journalisten dafür aus, dass sie dazu beigetragen haben, die Regierung ihres eigenen Landes zu bedrängen und Stimmung für die eigene Sache gemacht zu haben. Peinlicher geht es kaum. Abgesehen davon, dass Ordensverleihungen an praktizierende Journalisten durch ein fremdes Land an sich problematisch sind. (Cicero, 16.11.22, Bezahlschranke)

Aber hat die Springer-Presse der Sache der Ukraine nun einen Bärendienst erwiesen? Spielt sie den Russen und insbesondere dem Erzfeind im Kreml in die Hände? Das zumindest legen die Volksverpetzer nahe. Nie um eine eindeutige Meinung und die richtige Haltung im Sinne der Herrschenden verlegen, kritisieren die vorgeblichen Faktenchecker die Bild-Zeitung für die Fehlberichterstattung. Zunächst. Am Ende aber schlagen sie einen Haken und kritisieren die, die sie immer kritisieren. RT DE und die „russische Propaganda“.

Aber dadurch, dass man so unseriös und faktenfern und wirklich einseitig berichtet, liefert man die besten Vorwände für Putins Propaganda, die Misstrauen gegen deutsche Medien säen will. Was letztlich in dem zunehmenden Misstrauen gegenüber Medien, in Gewalt und Demokratiefeindlichkeit rechtsextremer Kreise mündet. Besonders bitter ist, dass genau diese Tendenzen BILD dann wiederum ausschlachtet. Obwohl sie oft wie hier buchstäblich fast das einzige Beispiel für das ist, was gerade ihre Leserschaft unter ‚Lügenpresse‘verstehen will. (…) Aber nicht umsonst ist das Titelbild der russischen Propaganda-Seite ein Bild der BILD. Denn es ist das Bild der deutschen Medien im Ausland. Und das ist eine Schande. (Volksverpetzer, 16.11.22)

Nein, die Bild macht nur konsequent, was die anderen Medien auch tun. Manchmal verschämt, manchmal offen. Jetzt haben einige kalte Füße bekommen und kritisieren die Kollegen vom Boulevard. Aber die Bild ist nun einmal auch ein idealer Gegner, die bürgerliche Leserschaft der meisten Leitmedien sieht sie ohnehin kritisch. Auf Spiegel Online schreibt Markus Feldenkirchen:

Für mich wirkt der Umgang mit den Raketen auf polnischem Boden wie der Plot aus einem schlechten Film. Titel: ‚Wie die Welt aus Versehen in die Katastrophe schlitterte.‘ Wobei es sich in Wahrheit ja nicht um ein Versehen handelte, sondern um mangelnde Sorgsamkeit, fehlende Vorsicht, oder schlicht um Wunschdenken oder Propaganda. (spiegel.de, 17.11.22)

Und im Deutschlandfunk lässt Nachrichtenchef Marco Bertolaso die Hörer wissen: „Im Laufe der Geschichte sind so oder so ähnlich Kriege begonnen worden, ohne dass sie vielleicht hätten beginnen müssen.“ (Deutschlandfunk, 16.11.22) Kriege müssen nie beginnen, aber gut, die Kritik ist ansonsten richtig. Was aber in den Leitmedien fehlt oder dort nur von Interviewpartnern zwischen den Zeilen gesagt wird, ist, ob die ukrainische Rakete – die es ja nun war – nicht vielleicht doch ihr Ziel erreicht hat? Das Reden über mehr Krieg, mehr Unterstützung. Wir wissen es nicht und möchten nur mit Reinhard Lauterbach diese Frage in den Raum stellen. Getroffen wurde ein völlig unbedeutendes Ziel, vielleicht aber ging es um etwas anderes.

Um eine Debatte loszutreten, die die Ukraine sich wünscht, aber die NATO zu vermeiden sucht: über eine direkte Kriegsbeteiligung der westlichen Allianz. Mit Provokationen hat Kiew Erfahrung. Schließlich hat es die erste Sanktionswelle gegen Russland im Sommer 2014 damit losgetreten, dass es entgegen aller Risiken unterlassen hat, den Luftraum über dem Donbass für den zivilen Flugverkehr zu sperren, und 298 Menschen an Bord der Maschine mit der Flugnummer ‚MH17‘ für den politischen Zweck starben. Jetzt immerhin ‚nur‘ zwei. (junge Welt, 17.11.22)

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Auch der bereits zitierte Graf Lambsdorff formulierte gegenüber n-tv, dass den Ukrainern der Rakentreffer zupass kommen könnte. „Das ist ein Vorfall, bei dem sie vielleicht die Chance sehen, in militärischer Hinsicht nicht mehr so alleine dazustehen“, wird er zitiert. Für die Ukraine wäre es natürlich von Vorteil, wenn sie auch auf dem Schlachtfeld Verbündete hätte (n-tv, 16.11.22). Und Präsident Selenskij arbeitete auch dann noch genau daran, als eigentlich klar war: Diesmal hat es nicht geklappt (Overton-Magazin, 17.11.22).

Die Rakete auf polnischem Gebiet hat also zumindest vorerst keine neue Situation auf dem Schlachtfeld geschaffen. Klar aber ist: Die Lage bleibt ernst, ein großer Krieg scheint nicht viele Raketen – und Schlagzeilen – entfernt. Wir werden das weiter beobachten, auch wenn es keine Freude macht. Die heutige Medienrundschau ist damit aber an ihr Ende gekommen. Uns bleibt nur der übliche Rat: Bilden Sie sich Ihre eigene Meinung, bleiben Sie uns gewogen und schauen Sie wieder rein. Und: Schreiben Sie uns gerne an redaktion@hintergrund.de

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