Ein Vollblutjournalist, der sich emporschleimt
Mal wieder ein Seitenwechsel: Der Sprecher des neuen Verteidigungsministers kommt direkt aus dem ARD-Hauptstadtbüro. Kurz vor seiner Berufung hat er noch eine Lobeshymne auf Boris Pistorius geschrieben. Ein Zufall? Die Hintergrund-Medienrundschau vom 27. Januar 2023.
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Es klingt wie ein Bewerbungsschreiben. Anders kann man diesen Text auf tagesschau.de mittlerweile kaum mehr charakterisieren. Eine liebedienerische Epistel für den Wechsel im Ministeramt zugunsten Pistorius’. Die Zeit für den ARD-Hauptstadtkorrespondenten Michael Stempfle war gekommen. Er hat sich zum Seitenwechsel emporgeschrieben: „Ein Vollblutpolitiker, der anpackt“, betitelte er sein Machwerk (tagesschau.de, 17.1.23).
Es soll eine Analyse sein. Das steht zumindest über dem Text. Der analytische Gehalt des Artikels indes ist überschaubar. Ein paar Beispiele aus der Vergangenheit, Einschätzungen von Weggefährten und politischen Begleitern. Dazwischen Sätze wie: „Ein Politiker-Typus also, der anpackt – mit einem sicheren Gespür für Themen und für pragmatische Lösungen.“ So schreibt ein Vollblutjournalist, der schleimt. Oder ein Vollblutschleimer, der sich Journalist nennt? „Angesichts solch schmachtender Zeilen hatte Pistorius keine andere Wahl, als Stempfle ins Kanonenboot zu holen“, ätzt die junge Welt im täglichen glossierenden Kurzporträt. Der Minister-Verehrer wird zum „Medienprofi des Tages“ (junge Welt, 25.1.23).
SWR-Hauptstadtkorrespondent Stempfle kennt den neuen Verteidigungsminister schon länger. Im Archiv von tagesschau.de finden sich einige Texte über die Innenministerkonferenz und Pistorius, die Stempfle geschrieben hatte. Vermutlich ist er Pistorius oder dessen Umfeld schon damals aufgefallen, beispielsweise als der ehemalige niedersächsische Innenminister auf bessere Ausstattung beim Zivilschutz drängte (tagesschau.de, 24.3.22).
Dass Stempfle, dessen Impfpropaganda (tagesschau.de, 21.12.21) im Sinne der Mehrheit gegen eine Minderheit gerade wieder im Netz geteilt wird (Nachdenkseiten, 24.1.23), kurz nach seinem Text über Pistorius erstmals Kontakt mit dessen Stab hatte, ist kaum anzunehmen. So hat die ganze Geschichte einen deutlichen Beigeschmack, auch wenn der Wechsel vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk in die Sprecherposition eines Ministeriums – auch Stempfles Vorgänger, Christian Thiels, kam von der ARD – keine Seltenheit ist. Schließlich war auch Steffen Seibert vor seiner Zeit als Regierungssprecher Frontmann bei ZDF-heute. Der Nachrichtenmoderator, dem die Zuschauer vertrau(t)en. Heute ist Seibert deutscher Botschafter in Israel. Keine schlechten Karriereaussichten für Journalisten.
Allerdings: Die Dreistigkeit, mit der Stempfle vom Laudator für Pistorius zu dessen Sprecher avancierte, hat selbst den Mainstream auf den Plan gerufen und die Tagesschau zu einer Notiz veranlasst. Unter dem Text steht nun, dass der Autor zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch ARD-Hauptstadtkorrespondent gewesen sei. Ein solcher Nachsatz ist auch nötig, denn sonst würde man den Unterschied schließlich nicht bemerken. Das Branchenmagazin DWDL.de schreibt entsprechend über Personalie und Artikel, dass das „mindestens unglücklich“ sei und „der ohnehin angekratzten Glaubwürdigkeit der ARD kaum zuträglich sein“ dürfte (DWDL.de, 23.1.23).
Dem gleichen Magazin versicherte Stempfle am Montag, die Entscheidung sei erst am Sonnabend gefallen, das Gespräch mit dem Minister habe am vergangenen Donnerstag stattgefunden. Vor der Veröffentlichung des „Kommentars“ (ach, also doch keine Analyse?) gab es keinen Kontakt (DWDL.de, 23.1.23). Damit bleibt die Koinzidenz zwischen Text und Seitenwechsel bestehen, zumal Stempfle darauf hinweist, dass mit einem Ministerwechsel meist auch ein Sprecherwechsel einhergeht. Das wusste er vor dem Verfassen seiner Pistorius-Eloge. Eine der wichtigsten Qualifikationen eines Sprechers hat er übrigens schon verinnerlicht: Schweigen, wenn‘s ungemütlich wird. Während er sich für die vielen Glückwünsche auf Twitter bedankt, hält er sich zu den kritischen Nachfragen zu seinem Artikel bedeckt. (Twitter, 23.1.23)
Lassen wir nun aber vom Sprecher des neuen Verteidigungsministers ab und schauen auf das wichtige Thema dahinter: Den Wechsel vom Journalismus in die Pressestellen, ein wichtiger Aspekt der engen Verbindungen von Journalismus und Politik. Der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen hat in seinem Buch „Breaking News“ (2018) viel über den Boom der PR-Branche geschrieben. Für ihn ist sie Teil der „Medialisierung“ der Gesellschaft. Das Kapitel zum Thema hat er passend überschrieben: „Gut aussehen und gut rüberkommen.“ Und sofort denken wir an den Fotografen von Robert Habeck (t-online.de, 20.11.22) und die Stylistin von Annalena Baerbock (Bild, 21.12.22).
Vor etwa dreißig Jahren habe es noch etwa 10.000 Öffentlichkeitsarbeiter gegeben, schreibt Meyen mit Verweis auf Experten, die das Berufsfeld erforscht haben. Heute könnten es fünfmal so viele sein. Und das war der Stand von 2016. Die Parteien, die Politiker, das Bundespresseamt (400 Mitarbeiter!) rüsten auf, um dieser Tage die Aufrüstung zu verkünden. Journalisten wechseln die Seiten, werden Stabsstelle, verdienen mehr, haben geregelte Arbeitszeiten. Sie wissen, wie sie mit den Kollegen umzugehen haben. Michael Meyen:
Journalisten werden abgelenkt, auf Nebenkriegsschauplätze geschickt oder umworben, mit dem Charme der Ex-Kollegin, mit kleinen Annehmlichkeiten, mit der Aussicht auf einen lukrativen Job. Und Journalisten werden ausgebootet, weil die neuen Öffentlichkeitsarbeiter direkt mit ihren Stakeholdern kommunizieren, über das Internet, über eigene Zeitschriften und manchmal sogar über eigene Fernsehprogramme (Red Bull: Servus TV). (Michael Meyen, Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren, S. 123f.)
Für Journalisten, die wie Stempfle schleimen, mag das kein Problem sein. Denn ob solche Lobeshymnen von einem direkt bezahlten Sprecher oder lediglich potentiellen Anwärter geschrieben werden, tut wenig zur Sache. In Bezug auf die Unabhängigkeit der Information, der Freiheit der Recherche, die Meinungsbildung der Bevölkerung ist diese Entwicklung allerdings höchst bedenklich. Eine Entwicklung, die, wie gesagt, seit Jahren anhält und für die es viele Beispiele gibt. Seibert und sein Nachfolger Steffen Hebestreit – vor seiner Tätigkeit für die SPD und jetzt für den Bundeskanzler war auch er Hauptstadtkorrespondent mehrerer Zeitungen – sind nur die Spitze des Eisbergs.
Viel Aufsehen erregte beispielsweise vor anderthalb Jahren der Seitenwechsel dreier von vier Landeskorrespondenten der Tageszeitungen in Rheinland-Pfalz. Sie wurden jeweils Sprecher in einem Ministerium. Das Online-Magazin Medieninsider sprach damals von einem „Exodus in der Landespressekonferenz“. Der Wechsel sorge im Regierungsviertel in Mainz für Aufruhr und sei ein Signal, das mehrfach gedeutet werden könne.
Die einen sagen: Wer sich gut mit der Landesregierung hält, werde mit einem Job belohnt. Andere meinen: Die Regierung greift die Journalisten ab, um kritische Stimmen ruhigzustellen. Auf beiden Seiten ist den Leuten klar: So viele Wechsel gleichzeitig sehen problematisch aus. „Das gibt ein komisches Bild ab“, sagt jemand aus der Landespressekonferenz. Jemand anderes sieht die Glaubwürdigkeit des Journalismus in Gefahr: „Es ist schwierig, wenn eine Quelle damit rechnen muss, den Journalisten morgen auf Seiten des politischen Gegners wiederzusehen.“ Wieder andere Beobachter merken an, solche Personalien seien auch ein schlechtes Beispiel für den Nachwuchs. Journalismus werde zur Zwischenstation. (Medieninsider, 4.8.21)
Der Artikel fasst sehr gut und anschaulich das zusammen, was zu den häufigen Seitenwechseln führt. In Stichworten: Bessere Bezahlung, weniger Stress, geringere Arbeitszeiten, gute Perspektiven. Die Süddeutsche Zeitung griff einen Monat nach dem Branchenmagazin die Geschichte auf und schrieb:
Fragt man Kollegen, die nun zu den Ministerien gehen, haben alle persönliche Gründe. Aber wenn man darüber hinaus mit Kolleginnen und Kollegen vor allem bei Regionszeitungen spricht, hört man Geschichten, die sich ähneln: von Konferenzen, in denen lange darüber gesprochen wird, welche Themen Digitalabos bringen könnten – und Ausschusssitzungen sind das eher nicht. Von Haupthäusern, in denen die Kolleginnen und Kollegen in Schichten arbeiten, während die Korrespondenten immer erreichbar sein sollten. Von schlechter Stimmung, Sparprogrammen, hohem Druck. (Süddeutsche Zeitung, 7.9.21)
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Dass die betroffenen Verlage vom „Kampf mit ungleichen Mitteln“ sprechen, ist völlig richtig (taz, 30.9.21). Dass sie selbst einen großen Teil dazu beitragen, wenn Journalisten nicht mehr Journalisten sein wollen, sollte auch deutlich geworden sein. Wer keine Zeit mehr für Analyse und Recherche hat, der schreibt ab, übernimmt die immer professionelleren Pressemitteilungen und trägt zum Einheitsbrei bei. Die dünne Personaldecke in den Redaktionen ist ein Grund der Gleichschaltung, die wir an dieser Stelle immer wieder monieren. Und natürlich: Wer mit einem Posten auf der anderen Seite der Pressekonferenz liebäugelt, der will es sich nicht mit dem künftigen Arbeitgeber verderben. Er schreibt dann vielleicht nicht gleich Elogen wie ein Michael Stempfle, aber er wägt ab, wen und wie er kritisiert. Und wie und wo er genauer hinschaut und recherchiert.
Der kritische und unabhängige Journalismus ist und bleibt wichtig. In Zeiten, in denen Panzer Leben retten (Bild, 26.1.23), Krieg also Frieden ist, umso mehr. Vielleicht ist er sogar überlebenswichtig. Und er findet im Mainstream kaum noch statt. Wer andere Meinungen offen vertritt wie die MDR-Kommentatorin Rommy Arndt (MDR, 19.1.23), wird niedergeschrieben (Nachdenkseiten, 24.1.23). Wir machen es trotzdem. Sowohl in der nächsten Medienrundschau als auch in unserer sonstigen Berichterstattung. Und natürlich auch mit unseren neuen Büchern. Zum Schluss bitten wir wieder mit einer Floskel, die wir aber ernst meinen: Bilden Sie sich Ihre eigene Meinung. Bleiben Sie uns gewogen und schreiben Sie uns gerne an redaktion@hintergrund.de