Das Recht der (vermeintlichen) Sieger
Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Russlands Präsidenten führt wieder einmal die Doppelstandards vor Augen. Die Verantwortlichen für den Irakkrieg vor zwanzig Jahren werden nicht verfolgt, Putin aber wollen die Mainstream-Medien vor Gericht sehen. Vor allem behindert der Haftbefehl jedoch Friedensbemühungen und soll das vermutlich auch. Die Hintergrund-Medienrundschau vom 24. März 2023.
Es ist wieder einmal Zeit für eine unserer Medienrundschauen zum Thema Doppelstandards und Doppelmoral. Das ist in dieser Woche kein Wunder, immerhin jähren sich drei völkerrechtswidrige Kriege, bei denen die Verantwortlichen nicht strafrechtlich verfolgt werden. So wurden in Jugoslawien viele Menschen getötet und die Infrastruktur zerstört, im Irak ein ganzes Land regelrecht in die Steinzeit zurück gebombt und auch Libyen derart angegriffen, dass bis heute dort Bürgerkrieg herrscht. Clinton, Bush und Obama, um nur einmal die US-Präsidenten zu nennen, die diese Kriege geführt haben, sind nicht in Den Haag angeklagt worden. Gründe hätte es genug gegeben.
Aber US-Präsidenten bekommen eher Friedensnobelpreise, als dass sie für die Verbrechen verfolgt werden, die sie im Amt begehen. Wobei man sich grundsätzlich die Frage stellen kann, ob das Strafrecht der richtige Weg ist, Konflikte aufzuarbeiten. Denn bei den vergangenen Verfahren, sowohl vor dem Internationalen Strafgerichtshof als auch vor den Sondertribunalen, wurden stets die „Verlierer“ eines Krieges verfolgt. Die Sieger – und dazu gehören dann quasi per definitionem die US-Präsidenten – bleiben unbehelligt.
Wie es für Wladimir Putin – ihm wird die Verschleppung von Kindern vorgeworfen – ausgeht, wissen wir nicht. Aber während seine US-Kollegen keine Anklage zu fürchten haben, hat der Strafgerichtshof gegen Putin einen Haftbefehl erlassen. Das beweist wieder einmal, wie der Westen seine Doppelstandards munter weiter verfolgt. Es ist ein „Tribunal der Heuchler“, wie der Artikel von Tobias Riegel auf den Nachdenkseiten mit klarer Stoßrichtung überschrieben ist (Nachdenkseiten, 20.3.23).
Wir wollen heute auf die mediale Wahrnehmung des Haftbefehls für Russlands Präsident schauen und auf einige der aktuellen Artikel verweisen, die zu den Kriegen der USA erschienen sind, vor allem natürlich zum Irakkrieg, der vor zwanzig Jahren begann. Beide Themen zeigen die Doppelmoral des Westens auf: wir gut, Russland böse. Immer. Am Ende dieses Textes finden Sie eine Auswahl von Archivbeiträgen von Hintergrund zum Irakkrieg (u. a.). Denn unsere Redaktion hat die Verbrechen damals begleitet, wir empfehlen eine erneute Lektüre.
Und bei der Gelegenheit wollen wir erneut auf einen weiteren Skandal hinweisen, der zumindest ein wenig im Mainstream der Medien angekommen ist. Denn mit den Verbrechen der USA und ihrer Aufdeckung ist ein Name ganz besonders verbunden: Julian Assange. Er sitzt noch immer in London im Gefängnis und wartet auf seine Auslieferung in die USA. Die Doppelstandards werden an seiner Person ganz besonders deutlich.
Beginnen wir mit dem Irakkrieg, den die Kollegen von German-Foreign-Policy noch einmal knapp zusammengefasst haben:
Der US-geführte Überfall auf den Irak begann vor genau 20 Jahren mit ersten Luftangriffen in der Nacht vom 19. auf den 20. März 2003 und mit der unmittelbar folgenden Invasion von Bodentruppen. Beteiligt waren neben den US-Streitkräften Einheiten aus Großbritannien, Australien und Polen. Der Überfall erfolgte ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates und damit unter Bruch des Völkerrechts. Die offiziell vorgebrachte Begründung, Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, war frei erfunden. In Wirklichkeit ging es darum, eine dem Westen missliebige Regierung durch eine prowestliche zu ersetzen. (German-Foreign-Policy, 20.3.23)
Das hat, wie wir heute wissen, nur halb geklappt. Aber wir sind nicht diejenigen, die darüber klagen, wenn die USA und ihre Verbündeten im Irak (mal wieder) die eigenen Ziele nicht vollständig erreicht haben. Der Skandal ist schließlich, dass sie ein weiteres Land in Schutt und Asche gelegt haben, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Wobei die Brutalität, die Verbrechen und die Lügen durchaus auch in den USA selbst für Missstimmung gesorgt haben und bis heute sorgen. Die ARD-Redakteurin Julia Kastein schreibt in ihrer Rückschau zwar zunächst von „Einmarsch“, das Wort „Krieg“ fällt dann immerhin im Laufe des Textes. Sie hat mit Soldaten gesprochen, die im Irak gekämpft haben. Man könnte auch sagen, die die Verbrechen vor Ort mit ausgeführt haben. Sie berichtet von Zweifeln und dass nur noch eine Minderheit der Amerikaner den Krieg für richtig hält. Aber es gebe genügend Veteranen, die den Zweifel nicht zulassen wollen oder können.
Fast eine Million US-Soldaten insgesamt dienten in den acht Jahren Krieg. Viele sind traumatisiert. Tausende haben sich das Leben genommen. Aber ein Fehler, gar eine Schande? Craig Auriemma aus Hoboken in New Jersey will davon nichts hören. Zweimal war der Hauptfeldwebel im Irak im Einsatz: „Ich bin stolz auf meinen Part in diesem Krieg.“ (Tagesschau, 20.3.23)
Die Rheinische Post ist der Meinung, dass mit dem Irakkrieg die USA ihr moralisches Fundament verloren haben. Moral? Wie war das noch mit Vietnamkrieg, mit der Brutkastenlüge und den diversen Umstürzen demokratischer Regierungen in Iran, in Südamerika und anderswo? Nun denn, lesen wir dennoch kurz rein:
Der Angriffskrieg der Amerikaner hat nicht nur unendliches Leid über die Region gebracht. Er hat auch die Reputation der amerikanischen Demokratie und ihre weltgeschichtliche Mission erschüttert. Die Entfremdung zwischen den USA und ihren Verbündeten auf dem europäischen Festland macht sich ebenfalls an diesem unnötigen und unmoralischen Krieg fest. (rp-online.de, 13.3.23)
Es gibt also nötige und moralische Kriege? Die „Mission“ der USA und ihre „Demokratie“ werden als gegeben vorausgesetzt. Im Irak wurden sie halt mal erschüttert. Aber grundsätzlich sind sie die Guten und wir an ihrer Seite. Schaut man sich allein diesen Artikel an, ist er pseudokritisch. Denn natürlich findet der Autor mahnende Worte für den Irakkrieg. Es ist heutzutage herrschende Meinung, dass die Lüge über Massenvernichtungswaffen, die vielen toten Iraker und die Zerstörung eines ganzen Landes keine gute Idee war. Aber wer auf der einen Seite den Haftbefehl gegen Putin begrüßt (dazu gleich mehr) und auf der anderen Seite keinen gegen Bush fordert, der handelt aus jener Doppelmoral, von der schon in vielen Ausgaben der Medienrundschau die Rede war.
Von Doppelmoral schreibt auch der Autor des Spiegels, der vor zwanzig Jahren für den Stern vor Ort war und die Politik der USA kritisiert. Er sieht die Doppelmoral, wegen derer viele Staaten des Südens heute eben nicht Russland verurteilen. Und dann fällt er am Ende doch auf die Propaganda rein, wenn er sich Gedanken über die Folgen eines Kriegseinsatzes macht:
Weniger Ignoranz, ein tieferes Verständnis der Folgen wären essenziell. Mehr Respekt für die fundamentalen Unterschiede zwischen Gesellschaften und Staaten. Einer angegriffenen, zuvor friedlichen Demokratie wie der Ukraine beizustehen sollte nicht kompromittiert werden von den Lügen und der Arroganz der Vergangenheit. (Spiegel, 20.3.23, Bezahlschranke)
Die Begriffe „friedlich“ und „Demokratie“ absolut unkritisch für die Ukraine zu verwenden beweist, dass Spiegel-Autor Christoph Reuter vollkommen vom herrschenden Narrativ eingenommen ist. Was ist mit der Bombardierung des Donbass? Und mit dem Putsch auf dem Maidan? Die ohrenbetäubende Ignoranz gegenüber solchen Aspekten muss wohl jemand haben, der zuletzt eine Reportage vom Schlachtfeld geliefert hat. Reuter berichtete aus Bachmut über die ukrainischen „Helden“ im Kampf gegen den dämonischen Iwan und hat den Geschosslärm wohl noch nicht überwunden. Wir empfehlen die Lektüre des Buches von Georg Auernheimer in unserer Reihe „Wissen Kompakt“.
Die wenigen genannten Beispiele zeigen, wie tief die Doppelmoral bei den deutschen Journalisten verankert ist. Wirklich fundierte Analysen der US-Verbrechen lesen Sie anderswo. Von Joachim Guillard bei Telepolis, von Norman Peach auf den Nachdenkseiten oder von Juan Cole beim Overton-Magazin. Wobei auch Cole meint, dass die USA erst im Irak ihren moralischen Kompass verloren haben. Noch mal: Hatten sie denn vorher einen?
Nun aber zum aktuellen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten. Der Völkerrechtler und ehemalige Bundestagsabgeordnete Norman Peach (s. o.) hat im Interview mit dem Overton-Magazin benannt, was ein Grund dafür sein dürfte:
Natürlich erschwert dieser Haftbefehl mögliche Friedensverhandlungen mit dem Kreml, die Reaktionen zeigen das schon deutlich. Man muss auch nicht lange danach suchen, wer dahinter steht und die Entscheidung jetzt lobt in der Sicherheit, nie selbst in diese Situation zu geraten. Putin wird aber bestimmt genügend Staaten finden, in die er reisen kann, die ihm zusichern, ihn nicht auszuliefern. Und echte Friedensverhandlungen kann man auch in Moskau führen. (Overton-Magazin, 18.3.23)
Selbstverständlich ist der Haftbefehl eine politische Entscheidung. Unabhängigkeit der Justiz? Nicht beim Internationalen Strafgerichtshof. Die Bild frohlockt, dass niemand über dem Gesetz stehen dürfe. Der „Massenmörder“ und „Despot“ werde nun in seiner Bewegung eingeschränkt und „wir“ müssen der Ukraine weiter Waffen liefern (Bild, 18.3.23). Darum geht es also in dem Haftbefehl, Peach hatte darauf hingewiesen. Der Kölner Express sieht durch den Haftbefehl den Anfang vom Ende von Putin gekommen (Express, 19.3.23). Die vermeintlich seriöseren Kollegen von der FAZ sehen ein „starkes Signal“ in dem Haftbefehl und weisen etwas verschämt darauf hin, dass es eben nicht der allseits beschworene Angriffskrieg ist, weswegen Putin nun verfolgt wird. Sie nehmen dabei Bezug auf die vertragliche Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofes:
Das Römische Statut ist so formuliert, dass für eine solche Anklage letztlich ein Einverständnis Russlands erforderlich wäre. Dafür, dass die Hürden für eine effektive Ahndung des Aggressionstatbestands so hoch sind, tragen auch westliche Staaten eine Mitverantwortung. (FAZ, 17.3.23)
Mitverantwortung. Nun ja. Die USA haben den Niederlanden mit einer militärischen Invasion gedroht, wenn ein US-Amerikaner in Den Haag angeklagt wird (Spiegel, 12.6.02). Müssen wir mehr wissen? Wir sprachen bereits von den Doppelstandards. Wir wollen uns nun die Gründe für den Haftbefehl gegen Präsident Putin genauer anschauen. Im Overton-Magazin lesen wir eine Zusammenfassung der verschiedenen Kriegsverbrechen, die Russland vorgeworfen werden:
Interessant ist, dass der ICC die Verschleppung von Kindern aus den vielen anderen Vorwürfen von Kriegsverbrechen herausnimmt. Das könnte womöglich damit zu tun haben, dass Angriffe mit Explosivwaffen auf bevölkerte Gebiete, Tötung von Zivilisten, illegale Inhaftierungen, Folter, sexuelle Gewalt und illegale Verschleppungen von Erwachsenen auch den USA und der Koalition der Willigen vor allem in Afghanistan und im Irak gut begründet vorgeworfen werden kann [sic]. Ermittlungen gegen Bush, Cheney und Rumsfeld wurden nie eingeleitet. (Overton-Magazin, 20.3.23)
Und was hat es nun mit der Verschleppung der Kinder auf sich? Ulrich Heyden hat dazu Ende Februar bereits für die junge Welt einen ausführlichen Text geschrieben, nach dessen Lektüre man zumindest zweifelt, ob das alles richtig ist, was da behauptet wird. Er zeigt die Fragwürdigkeit der angeblichen Beweise auf und gibt Beispiele dafür, dass die Kinder zum Teil aus den russischen Gebieten zurück in die Ukraine gelangt sind.
Beweise dafür, dass russische Soldaten und Behörden gezielt »ukrainische Kinder« von ihren Eltern trennten, gibt es nicht. Im Gegenteil: Die Menschenrechtsbeauftragte der Volksrepublik Donezk, Darja Morosowa, sorgte zum Beispiel im April 2022 dafür, dass zwei Vollwaisen, die zwölfjährige Kira Obedinskaja und der neunjährige Ilja Matwijenko, die sich in einem Krankenhaus in der Stadt Donezk aufhielten, Kontakt mit Großeltern in der Ukraine aufnehmen konnten. Die Großeltern waren bereit, die Vormundschaft für die beiden Kinder zu übernehmen. Sie holten ihre Enkel am 23. April 2022 in Donezk ab. Da der direkte Weg in die Ukraine durch die Front zu gefährlich war, fuhren die Großeltern mit ihren Enkeln via Russland zurück in die Ukraine. (junge Welt, 21.2.23)
Heyden gibt mehrere Beispiele und verweist auf die vielen Menschen, die vor den Kriegshandlungen aus der Ukraine nach Russland evakuiert wurden. Denn wir wissen schließlich: Eine große Zahl der Ukrainer fühlt sich Russland näher als dem Regime in Kiew. Und deshalb fliehen sie in diese Richtung. Das aber wollen die Kollegen der Leitmedien nicht sehen, für sie gibt es nur die guten Ukrainer und die bösen Russen. Die Homogenisierung des Landes, die der ukrainische Präsident vorantreibt, hat der deutsche Medien-Mainstream längst vollzogen.
Damit beenden wir diese Medienrundschau, die eine verlängerte Osterpause macht. Eine kleine Medienpause tut gut. Ende April werden wir an dieser Stelle wieder auf die Medien schauen. Bleiben Sie uns bis dahin gewogen, bilden Sie sich Ihre eigene Meinung und schreiben Sie uns gern an redaktion@hintergrund.de. Und abonnieren Sie unseren Newsletter!
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