Kiew setzt Streubomben gegen Wohngebiete ein
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Laut einer Recherche von Human Rights Watch (HRW) in Kooperation mit der New York Times hat die ukrainische Armee Streubomben gegen Wohngebiete in Donezk eingesetzt –
Von SEBASTIAN RANGE, 21. Oktober 2014 –
In ihrem Bericht „Ukraine: Umfassender Einsatz von Streu-Munition – Regierung verantwortlich für Streubomben-Angriffe auf Donezk“ spricht die US-Menschenrechtsorganisation von mindestens zwölf dokumentierten Einsätzen von Streubomben, die sich gegen Wohngebiete richteten. Dabei handele es sich möglicherweise um ein „Kriegsverbrechen“. (1)
Streubomben zerteilen sich vor dem Aufprall in eine Vielzahl kleinerer Sprengsätze, wovon viele jedoch oftmals nicht explodieren. Dadurch werden praktisch ganze Landstriche vermint. Wie die Erfahrung zeigt, werden insbesondere Kinder später Opfer dieser „Minen“, die sie mit Spielzeug verwechseln können.
Streumunition gilt als international geächtet. Insgesamt 114 Staaten haben sie aus ihrem Waffenarsenal verbannt – nicht jedoch die USA, Russland und die Ukraine.
Laut ihrem Bericht sei es Human Rights Watch zwar nicht in allen Fällen möglich gewesen, zu bestimmen, wer für den Beschuss mit dieser Munition die Verantwortung trage, es gebe jedoch „besonders starke Beweise“ dafür, dass die ukrainischen Regierungstruppen für mehrere Streubomben-Angriffe auf die Stadt Donezk Anfang Oktober verantwortlich sind. Bei einem der Angriffe war ein Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes getötet worden. Die Hilfsorganisation stellte daraufhin ihre Arbeit in dem Gebiet ein.
In den HRW-Bericht heißt es, die Untersuchung von Einschlagstellen, Munitionsüberresten sowie nicht-explodierten Raketen habe neben der Befragung von Augenzeugen zu dem Ergebnis geführt, dass die Angriffe von Gebieten ausgingen, die von der ukrainischen Armee kontrolliert wurden.
„Es ist ziemlich offensichtlich, dass Streumunition wahllos in Wohngebieten eingesetzt wurde, besonders bei den Angriffen Anfang Oktober in Donezk“, erklärte HRW-Waffenexperte Mark Hiznay. In diesen Fällen gebe es „besonders deutliche Hinweise“ für die Verantwortung der Regierungstruppen.
Der Einsatz von Streumunition in Wohngebieten sei „absolut verantwortungslos“, die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. (2) Die „militärische Logik hinter diesen Angriffen“ sei „nicht offensichtlich“, und diese Angriffe sollten aufhören, „weil sie zu viele Zivilisten gefährden“, so Hiznay.
Der willkürliche Beschuss der Wohngebiete der Großstadt grenzt nicht nur an ein Kriegsverbrechen – er erfolgte zudem während des Waffenstillstandes, der Anfang September in Minsk vereinbart worden war.
Die Angriffe mit Streubomben würden „die Bemühungen verkomplizieren”, das Land wieder zu vereinigen, da unter den Einwohnern der Ostukraine „die Verbitterung“ angesichts der Art und Weise der Kriegsführung seitens der ukrainischen Armee wachse, berichtete die New York Times am gestrigen Montag. (3)
Der HRW-Bericht dokumentiert weitere Einsätze von Streumunition in umkämpften Städten der „Volksrepublik Donezk“, die sich bereits im August ereigneten. So sei die östlich an Donezk angrenzende Stadt Makijiwka am 19. und 20. August mit Streumunition beschossen worden. Da die Stadt zu diesem Zeitpunkt von den Aufständischen gehalten wurde und Streubomben ganz in der Nähe eines von ihnen errichteten Checkpoints einschlugen, geht HRW von einem Angriff durch Regierungstruppen aus.
Auch auf dem Territorium der „Volksrepublik Lugansk“ wurde die international geächtete Munition eingesetzt. So geriet die Ortschaft Nowoswitliwka Anfang August unter Beschuss, einige Tage bevor sie von ukrainischen Truppen erobert worden war.
Bereits im Juli war der Einsatz von Streumunition von anderer Stelle dokumentiert worden. So berichteten die Waffenexperten des Armament Research Services (ARES) über Streubombenangriffe auf die Stadt Kramatorsk, die „aller Wahrscheinlichkeit nach von der ukrainischen Armee“ ausgingen. (4) Auch bei der Eroberung von Slawjansk sollen die Regierungstruppen Streumunition verwendet haben.
Nicht nur das russische Außenministerium warf Kiew anschließend vor, diese Waffen gegen Zivilisten einzusetzen. (5) Auch die für die Verbannung von Streumunition eintretende Initiative Cluster Munitions Coalition forderte die ukrainische Regierung in einem Brief dazu auf, auf die Verwendung der Munition zu verzichten und gegenüber den Anschuldigungen Stellung zu beziehen – eine Antwort erhielt die Organisation jedoch nicht. (6)
Doch der HRW-Bericht erhebt auch Vorwürfe gegenüber den Kämpfern der „Volksrepublik Donezk“. So fasst die Tageszeitung Die Welt zusammen: „HRW beschuldigte zudem die Separatisten, ebenfalls Streubomben eingesetzt zu haben. Beide Seiten des Konflikts seien schuldig, Angriffe durchgeführt zu haben, die ‚sich als Kriegsverbrechen herausstellen‘ könnten.“ (7) Die Darstellung des Springerblattes ist jedoch stark verzerrt, die in dem Artikel erfolgte Gleichsetzung der Anschuldigungen gegenüber Kiew und seinen Gegnern lässt sich dem HRW-Report nicht entnehmen.
Dort heißt es in der Einleitung, entsprechende Vorwürfe gegenüber den Rebellen seien zwar „nicht beweiskräftig“, „Umstände“ würden jedoch „andeuten“, dass „auch die Anti-Regierungstruppen für den Einsatz von Streumunition verantwortlich sein könnten“.
Wie später erläutert, geht es dabei konkret um einen Angriff mit Streumunition auf die Ortschaft Starobeschewe, der am Morgen des 24. August erfolgte. Eine mögliche Täterschaft der Rebellen ergebe sich laut HRW aus der Tatsache, dass der Ort von der ukrainischen Armee kontrolliert wurde. Wie dem Bericht jedoch zu entnehmen ist, war die Ortschaft zu diesem Zeitpunkt bereits umkämpft und Aufständische hielten Teile der Kleinstadt, die sie dann im Laufe der nächsten zwei Tage vollständig eroberten.
Während die ukrainische Führung anschließend Moskau die Schuld für den Angriff zuwies (8), heißt es in den HRW-Bericht, die Menschenrechtsorganisation sei außerstande, in diesem Fall „schlüssige“ Aussagen über die Verantwortlichkeit treffen zu können.
Während sich die Vorwürfe gegenüber den Separatisten nicht belegen lassen – die New York Times weist in ihrem Artikel darauf hin, entsprechende Schuldzuweisungen des HRW-Berichts nicht bestätigen zu können –, kann es keinen begründeten Zweifel daran geben, dass die ukrainische Armee Wohngebiete der Großstadt Donezk Anfang Oktober mit Streumunition unter Beschuss genommen hat.
Dennoch leugnet Kiew weiterhin, diese Kampfmittel verwendet zu haben, und hält an der Linie fest, Russland beziehungsweise die Rebellen für das Kriegsverbrechen verantwortlich zu machen.
Da die Streubomben-Angriffe scheinbar willkürlich gegen Wohngebiete gerichtet waren, kann HRW dahinter keine „militärische Logik“ erkennen. Das lässt den Schluss zu, dass es Ziel dieser Militäroperation war, die Zivilbevölkerung in den aufständischen Gebieten zu terrorisieren und zur Flucht zu bewegen, denn durch die Zerstörung und Verminung von Häusern, Fabriken, öffentlichen Einrichtungen sowie der Infrastruktur wurden diese Gebiete quasi unbewohnbar. Unabhängig von dem nun bestätigten Einsatz von Streumunition trägt die Art der Kriegsführung seitens der Regierungstruppen bereits seit Beginn der „Anti-Terror-Operation“ die Handschrift einer ethnischen Säuberung. (9)
Der Einsatz von Streumunition durch die ukrainische Armee trage dazu bei, der „Ansicht Moskaus Glaubwürdigkeit zu verleihen, wonach die ukrainische Regierung einen Bestrafungskrieg gegen die eigene Bevölkerung betriebt“, kommentiert die New York Times.
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Anmerkungen
(1) http://www.hrw.org/news/2014/10/20/ukraine-widespread-use-cluster-munitions
(2) http://www.nytimes.com/2014/10/21/world/ukraine-used-cluster-bombs-report-charges.html?_r=0
(3) ebd.
(4) http://www.armamentresearch.com/9m55k-cargo-rockets-and-9n235-submunitions-in-ukraine/
(5) http://www.bostonglobe.com/news/world/2014/07/04/ukraine-claims-win-ground-rebellious-east/RujaPNVxQoU28xA4OlZcsL/story.html
(6) http://www.nytimes.com/2014/10/21/world/ukraine-used-cluster-bombs-report-charges.html?_r=0
http://www.stopclustermunitions.org/en-gb/cluster-bombs/use-of-cluster-bombs/cluster-munition-use-in-ukraine.aspx
(7) http://www.welt.de/politik/ausland/article133494674/Ukraine-soll-Streubomben-eingesetzt-haben.html
(8) https://www.facebook.com/ato.news/photos/a.820671234610351.1073741828.820651001279041/851586684852139/
(9) Siehe: http://www.hintergrund.de/201408193201/politik/welt/unsere-aufgabe-ist-es-die-staedte-zu-saeubern.html
http://www.hintergrund.de/201406193124/globales/kriege/aufforderung-zur-kapitulation.html