Die hohlen Lehren der Erinnerung
Hintergrund-Medienrundschau vom 12. Mai 2022
(Redaktion/12.5.22) Nie wieder. Wir haben gelernt. Dies ist in den vergangenen Jahrzehnten mantrahaft wiederholt worden. Deutschland habe die Lektion aus dem Zweiten Weltkrieg begriffen. Und werde alles dafür tun, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen wird. Schon 1999 bekam dieses Selbstbild Risse. Jetzt wird es noch schlimmer. Denn vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges wird unverhohlen die Geschichte revidiert. „Das Tätervolk Nummer Eins hat nichts Besseres im Sinn, als seine Geschichte umzuschreiben, um Russland zu dämonisieren“, schreibt Jens Berger (Nachdenkseiten, 12.5.22). Bergers Ausgangspunkt ist der unrühmliche Höhepunkt der Revisionismus-Bewegung der vergangenen Tage.
Es geht um einen Text aus der taz, übersetzt aus dem Russischen. Ursprünglich erschienen ist er in der Novaya Gazeta, die in Russland derzeit nicht erscheinen kann. Er behandelt den „Kult“ um den Tag des Sieges, also den 9. Mai, der in Russland auch dieses Mal wieder mit viel Prunk begangen wurde (RT DE, 9.5.22, Putins Rede u.a. bei Telepolis, 8.5.22). Der Text, den die taz druckte, hat eine ganz klare Position zur Kriegsschuldfrage. Nein, nicht Hitler und der NS-Faschismus waren es. Stalin ist Schuld: „Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht kam.“ (taz, 9.5.22) Hitler tat nichts. Er wollte nur spielen. Aber Stalin spielte nicht mit. Oder so ähnlich. Brauner wird‘s nicht.
Die Fassungslosigkeit über dieses in rechtsextremen Kreisen verbreitete Narrativ ist nicht nur bei Jens Berger groß. Die junge Welt schreibt treffend von der „Faschoplattform des Tages“ (junge Welt, 10.5.22) und auch in der taz selbst regte sich Widerstand – wobei Stefan Reinicke es nicht auf den Begriff bringen will und lieber von „originellen Thesen“, „trübem Fahrwasser“ oder „schrillen Meinungen“ schreibt, zu denen die Autorin tendiert, wo von astreinem Faschismus die Rede sein müsste (taz, 10.5.22). Dabei spricht Reinicke an, dass die deutsche Erinnerungskultur auf manchmal selbstbezügliche Art auf den Holocaust zentriert sei, was sicher nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Allerdings bedeutet diese Zentrierung eben auch, dass die Millionen Opfer der Sowjetunion oft ausgeblendet werden.
Jedes zweite Opfer des Zweiten Weltkriegs, 27 Millionen Menschen, kam aus der Sowjetunion. Fast jede Familie – Wladimir Putins eingeschlossen – hatte Opfer zu beklagen. Und dass der Fokus auf dem Krieg und dessen Leid liegt, weniger auf den weiteren Verbrechen der Nazis, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Thomas Röper zieht den Vergleich mit der deutschen Erinnerungskultur wie folgt: „In Russland zum Beispiel sind die Menschen immer sehr überrascht, wenn ich davon erzähle, denn die Russen trennen zwischen den wirklichen Tätern, also aktiven Nazis, und den einfachen Deutschen, die auch unter dem Krieg gelitten haben. Und die Russen verstehen nicht, wie man sich für etwas eine „eigene Schuld“ zurechnen kann, das Jahrzehnte vor der eigenen Geburt geschehen ist.“ (Anti-Spiegel, 9.5.22)
Wir können nach den vergangenen Tagen also in jedem Fall davon sprechen, dass der Kampf um die Geschichte (junge Welt, 10.5.22) im vollen Gange ist. Das zeigt sich unter anderem darin, dass die Fahne der Befreier von Auschwitz, also der Sowjetunion, beim Gedenken an das Kriegsende am 8. Mai in Berlin nicht gezeigt werden durfte (junge Welt, 7.5.22), was am Tag selbst auch durchgesetzt wurde, wobei es nach einem Bericht der Berliner Zeitung (hinter Bezahlschranke) Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen gab (auch: Zeitung der Arbeit, 9.5.22).
Übrigens: Dass auch andere Länder als Deutschland und Russland auf den Zweiten Weltkrieg fixiert sind, ist aufgrund der Dimension des Geschehens nachvollziehbar. „Großbritannien hat einen Premierminister, der sich derzeit – weitgehend erfolglos – darum bemüht, den Geist Winston Churchills wirken zu lassen; Polens Regierung arbeitet fieberhaft daran, jeden Hinweis auf polnische Komplizenschaften beim Holocaust herunterzuspielen“, schreibt Shaun Walker im Guardian (Übersetzung: Der Freitag, 8.5.22).
„Nie wieder Krieg. Nie wieder Völkermord. Nie wieder Gewaltherrschaft“, das hat auch Bundeskanzler Scholz bei seiner Ansprache zum 8. Mai gesagt. Und damit die Unterstützung der Ukraine begründet, wobei er tief in die Propagandakiste greift und die Geschichte verfälscht (Nachdenkseiten, 9.5.22). Das erinnert fatal an die Auschwitz-Fabuliererei Joschka Fischers im Vorfeld des Jugoslawien-Krieges (Spiegel, 13.5.99). Eines zieht in Deutschland immer: Die Verhinderung eines neuen Hitlers, eines neuen Stalins, oder eben eines heutigen Putins, der für Revisionisten wie die eingangs zitierte russische Autorin beide in einer Person vereint. Die Verhinderung eines neuen Auschwitz natürlich ebenso. Und so wird immer mal wieder gegen die eigene Geschichte gekämpft, die eigene Schuld abgetragen, indem man Kriege führt oder wie jetzt Waffen liefert. Die hohle Lehre der Erinnerung. Schön ist das alles nicht. Schön ist auch nicht der Rest der zitierten Rede, Markus Klöckner hat sie sich vorgenommen und seziert. Die Lektüre lohnt sich, auch wenn es keinen Spaß macht (Multipolar, 11.5.22).
Und zum Abschluss dieser Revisionismus-Rundschau noch ein Zitat aus dem zusammenfassenden Kommentar von Telepolis-Chefredakteur Harald Neuber: „Niemand scheint da mehr auf den Gedanken zu kommen, dass ein ‚ehrliches und reines Gedenken‘ auch darin münden könnte, dass Deutschland seine Autobahnen nicht für Waffenlieferungen und sein Territorium nicht für militärische Ausbildung zur Verfügung stellt, sondern die Kriegsparteien, allen voran die russischen Angreifer, zu Verhandlungen drängt und so seine Brückenfunktion zwischen West und Ost konstruktiv wahrnimmt.“ (Telepolis, 10.5.22) Wir kommen mit Neuber zusammen auf diesen Gedanken, sind aber leider zu wenige.
Abo oder Einzelheft hier bestellen
Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.
Angesichts des verbreiteten Revisionismus, von dem wir hier aus Platz- und Zeitgründen nur einen kleinen Ausschnitt bringen konnten, ist es schon wohltuend, wenn im Mainstream einmal von der Allianz von Kapital und NSDAP die Rede ist. Die thematisiert gehört. Dass die Reichen unter Hitler reicher wurden, wussten wir bereits. Dass es jetzt auch die Leser von T-Online wissen (können), schadet sicher nicht (t-online, 10.5.22).
Was fehlt? Vieles. Natürlich. Unter anderem eine vernünftige Aufarbeiterung der Corona-Maßnahmen. Es brauche eine vorbehaltlose Evaluierung der Maßnahmen, so der Historiker René Schlott im Deutschlandfunk Kultur (als alte Marxisten hätten wir vielleicht schonungslose Selbstkritik gesagt) (Deutschlandfunk Kultur, 9.5.22). Das Thema wird uns weiter begleiten, auch weil offenbar der Gesundheitsklabaut…, Entschuldigung, das richtige Wort fehlte gerade, also, Neuanlauf, der Gesundheitsminister (wirklich er soll das sein, man glaubt es immer noch nicht, er handelt ja auch nicht demgemäß), also der Karl Lauterbach eine solche Evaluierung zu hintertreiben scheint (Berliner Zeitung, 2.5.22). Für heute ist diese Medienrundschau an ihr Ende gekommen. Bleiben Sie uns gewogen und schauen sie wieder rein. Bilden Sie sich ihre eigene Meinung und schicken uns gerne Anregungen an: redaktion@hintergrund.de.