Emmanuel Todd: „Russlands Rolle im Weltgeschehen hat mich immer erstaunt“
Der französische Autor, Historiker und Sozialanthropologe Emmanuel Todd ist für seine unkonventionellen Ansichten bekannt. Sein neuestes Buch „Der Westen im Niedergang“ ist vor kurzem auf Deutsch erschienen. Natalia Rutkewich hat den Autor interviewt.
Natalia Rutkewich: Der Begriff der „Werte“ ist in der öffentlichen politischen Diskussion häufig zu hören. Die liberale Welt behauptet deren Universalität, während die illiberale Welt von traditionellen und familiären Werten spricht und auf deren Originalität beharrt. Beides ist politische Rhetorik, eine Hülse, die aber angesichts des Informationscharakters der modernen Gesellschaft eine große Rolle spielt. Kann man sagen, dass das oben beschriebene Zerwürfnis die Art der weltweiten Konfrontation bestimmt?
Emmanuel Todd: Die Frage der Werte ist wirklich wichtig, aber sie ist nur ein Teil der Auseinandersetzungen und Streitigkeiten in der Welt. Wenn ich über die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen oder andere zwischenstaatliche Konflikte spreche, würde ich nicht mit den Werten beginnen, sondern mit der Analyse des Kräfteverhältnisses.
Ich vertrete die Auffassung der Realisten im Sinne von John Mearsheimer, die der Meinung sind, dass die Schlüsselrolle in den Weltkonflikten von den Rivalitätsbeziehungen der Großmächte gespielt wird. In diesem Zusammenhang ist der Ausgangspunkt der Konfrontation zwischen Russland und den Vereinigten Staaten und ihren Vasallen (ich sehe die Japaner und die Europäer eher als Vasallen der Vereinigten Staaten denn als echte Verbündete) der Zusammenbruch der Sowjetmacht.
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Das Verschwinden der Sowjetunion erweckte die Illusion eines Triumphs des Westens, obwohl sich der Westen zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der UdSSR bereits in einem Zustand des wirtschaftlichen und kulturellen Niedergangs befand, der Mitte der 1960er-Jahre begann. Die Globalisierung, die durch das Verschwinden des sowjetischen Rivalen beschleunigt wurde, führte zu einer erheblichen Schwächung der US-amerikanischen Industrie sowie der Volkswirtschaften Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands und in gewissem Maße auch Japans.
Emmanuel Todd: „Russlands Rolle im Weltgeschehen hat mich immer erstaunt“