Weltpolitik

Die neue Schamlosigkeit

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Deutschland und die Türkei unterzeichnen eine gemeinsame Erklärung zur Flüchtlingsabwehr und Terrorbekämpfung, während Ankara in den kurdischen Gebieten seinen Feldzug gegen die kurdische Bevölkerung intensiviert.  –

Von CAN DEVRIM, 25. Februar 2016 –  

Nahezu unbemerkt vom deutschen Medienmainstream trafen am Dienstag in Ankara Vertreter Deutschlands und der Türkei zusammen, um eine gemeinsame Erklärung zu verabschieden, die den Stand der seit Monaten andauernden Verhandlungen zwischen den Regierungen beider Länder zusammenfasst.

Thematisch deckt die von deutschen Botschafter Martin Erdmann und dem Unterstaatssekretär im türkischen Innenministerium, Mehmet Tekinarslan, unterzeichnete Erklärung die Bereiche Migration, Grenzschutz und Terrorbekämpfung ab. Der Inhalt des Dokuments ist noch nicht öffentlich, gleichwohl soll mit der Erklärung eine „neue Phase“ (M. Erdmann) eingeleitet werden, die offenbar in einer engeren Kooperation zwischen deutschen und türkischen Sicherheitskräften besteht. Das Bundesministerium des Inneren (BMI) bezeichnet sie als „Grundlage für eine intensivierte Zusammenarbeit und einen stärkeren Austausch zwischen den beteiligten Behörden“. (1) Innenminister Thomas de Maizière kündigte bereits erste Schritte zum Erfahrungsaustausch auf Polizeiebene an: „ Ich bin froh, dass wir in der kurzen Zeit von vier Wochen diese Erklärungen finalisieren und unterzeichnen konnten. Wir wollten eine Grundlage für eng abgestimmte Maßnahmen unserer jeweiligen Behörden schaffen. Mein türkischer Kollege und ich haben verabredet, dass ein Expertenteam der Bundespolizei kurzfristig für eine Reise nach Ankara bereit steht, um konkrete Maßnahmen vor Ort zu initiieren. Das Expertenteam ist auf dem Weg.”

Krieg gegen Kurden

Brisant ist angesichts des von Ankara geführten brutalen Feldzugs gegen die kurdische Befreiungsbewegung im Südosten der Türkei vor allem die Verstärkung der Kooperation auf dem Gebiet der Bekämpfung vermeintlicher „terroristischer“ Gruppen. War die deutsche Seite in den vergangenen Monaten darauf bedacht, in Sachen Terrorabwehr den Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) in den Vordergrund zu stellen, hatten der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und sein Premierminister Ahmet Davutoglu immer wieder die Gefahr betont, die angeblich von kurdischen Gruppierungen wie der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder ihrer syrischen Schwesterorganisation YPG ausgehe.

Nun scheint Berlin auch in dieser Frage auf die aus Ankara vorgegebene Linie einzuschwenken. „Sicherlich ist der Kampf gegen den Terrorismus eines der wichtigsten Elemente auf der Agenda. Sei es der gegen den IS, sei es der gegen die PKK, beides steht auf der Agenda ganz oben“, so Botschafter Martin Erdmann nach der Unterzeichnung.

Verwunderlich ist dieses Statement nicht nur, weil mit einigem Recht bestritten werden kann, dass es sich bei der PKK um eine „terroristische“ Gruppe handelt. Zum einen hatte die kurdische Arbeiterpartei – im Unterschied zu Ankara – über Jahre die Anforderung eines für sie nicht eben vorteilhaften Friedensprozesses erfüllt, zum anderen richten sich ihre Aktionen – ebenfalls anders als die der türkischen Sicherheitskräfte – nicht gegen zivile Ziele. Geradezu absurd wird es allerdings, wenn der IS und die PKK in einem Atemzug genannt werden. Es waren und sind Guerilla-Kräfte der PKK, die zu den entschiedensten Gegnern der Gotteskrieger des Islamischen Staates zählen. Sie waren es auch, die einen Korridor für die in Sengal eingeschlossenen Jesiden im Irak erkämpften und so einen drohenden Völkermord durch IS-Milizen verhinderten.

Noch offenkundiger wird die Niederträchtigkeit des nun unterzeichneten Abkommens aber, wenn man betrachtet, wie die derzeitige Praxis des Partners, dem die Bundesregierung hier eine engere Kooperation zusichert, aussieht.

Seit November 2015 belagern türkische Sicherheitskräfte kurdische Städte im Südosten der Türkei. Deren einziges Vergehen: Sie riefen eine „demokratische Autonomie“ als Form der Selbstregierung aus – mit Zustimmungswerten unter der lokalen Bevölkerung von etwa 80 Prozent. Die Antwort der Regierung in Ankara waren mittels Scharfschützen durchgesetzte Ausgangssperren, der Beschuss von Wohnvierteln mit Panzern und Artillerie, die Ermordung Hunderter Zivilisten sowie willkürliche Verhaftungen und Folter. Am selben Tag, an dem Martin Erdmann und Mehmet Tekinarslan ihre Unterschriften unter die Willensbekundung zur stärkeren Zusammenarbeit setzten, bombardierten die türkischen Streitkräfte zum ersten Mal in diesem Krieg eine Stadt auf ihrem eigenen Territorium aus der Luft: Mit Cobra-Helikoptern griffen sie die Kleinstadt Idil in der Provinz Sirnak an.

Menschenrechtsaktivisten bezeichnen das Vorgehen der türkischen Regierung als „kollektive Bestrafung“ der kurdischen Bevölkerung, Schätzungen des Hilfsvereins Rojava Dernek zufolge befinden sich bereits mehr als hunderttausend Menschen auf der Flucht.

Unterstützung von Dschihadisten, Folter, Mord

Selbst die äußerst freundliche Unterstellung, man erhoffte sich in Berlin durch die Kooperation eine Zurückdrängung islamistischer Milizen, kann man getrost als Chimäre abtun. Denn auch hier ist die Türkei nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Seit Beginn des Syrienkrieges finanziert und unterstützt sie eine Reihe dschihadistischer Milizen, darunter gelegentlich auch den IS.

Immer wieder drang an die Öffentlichkeit, dass Waffenlieferungen – orchestriert offenbar durch den türkischen Geheimdienst MIT – an dschihadistische Gruppen in Syrien erfolgten. Seit vergangener Woche beschießt die türkische Armee zudem kurdische Stellungen in Syrien mit Artillerie und Mittelstreckenraketen und leistet damit direkt jenen islamistischen Kräften Beistand, gegen die die Kurden kämpfen. Geleakte Mitschnitte von Telefongesprächen, die türkische Zeitungen diese Woche veröffentlichten, zeigen zudem direkte Absprachen zwischen Kommandanten des Islamischen Staates und Offizieren des türkischen Grenzschutzes. (2)

Wie man es dreht und wendet, keine der Behörden, mit denen Berlin nun engeren Austausch pflegen will, kann als nicht vorbelastet gelten. Mit dem MIT, einer berüchtigten Institution, deren Vorgehen gegen jede Opposition in der Türkei legendär ist, will man verstärkt „Geheimdienstinformationen teilen“, auch solche, „die Terrorzellen betreffen“. Auf der Ebene polizeilicher Zusammenarbeit kündigt Thomas de Maizière bereits die Entsendung eines Expertenteams der deutschen Bundespolizei an. Deutsche Beamte werden damit zu Kollaborateuren einer Polizei, die spätestens seit den Gezi-Protesten den Ruf einer Privatarmee der Regierungspartei AKP hat und der Menschenrechtsverletzungen in systematischem Ausmaß vorgeworfen werden.

Das Bedürfnis, um jeden Preis Flüchtlinge daran zu hindern, nach Europa zu kommen, hat die Bundesregierung zu einer neuen Schamlosigkeit getrieben. Nicht nur ignoriert man das Morden, die systematischen Vertreibungen und die Verfolgung kurdischer und linker Oppositioneller. Man ist dazu übergegangen, direkte Beihilfe zu leisten.

Anmerkungen

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(1) http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/02/gemeinsame-erklaerung-deutschland-und-tuerkei.html

(2) http://www.todayszaman.com/diplomacy_daily-turkish-border-officers-cooperate-with-isil_412973.html

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