Völlige Entdemokratisierung
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Wie Freihandelsabkommen den Weg in die marktkonforme Diktatur ebnen –
Von MATTHIAS RUDE, 09. September 2015 –
„Wir stehen heute an einer entscheidenden Schwelle: Ist unsere Demokratie noch in der Lage, die Macht des globalen Kapitalismus zu bändigen?“ Und: „Wer hat die tatsächliche Macht im Staat? Die Banken und die internationalen Konzerne oder das Volk?“ Diese Fragen wurden in Capriccio, einer Sendung des Bayerischen Fernsehens, im März gestellt.(1) Thema des Beitrags: die geplante Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen Europa und den USA. Durch sie soll die größte Freihandelszone der Welt geschaffen werden. Für viele steht das Akronym inzwischen aber vor allem für eins: für Entdemokratisierung. Und das schon im Vorfeld. Nachdem sich mehr als 300 Organisationen aus ganz Europa zum Bündnis „Stop TTIP“ zusammengeschlossen hatten, verweigerte ihm die EU-Kommission, die auf europäischer Seite die Verhandlungen zu TTIP alleine führt, im Herbst 2014 die Zulassung als Europäische Bürgerinitiative. Dagegen wird vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt, die Bürgerinitiative trotzdem fortgeführt – selbstorganisiert.(2) Mit Erfolg: Am globalen Aktionstag gegen TTIP, der am 18. April stattfand, gingen allein in Deutschland Zehntausende Menschen auf die Straße; insgesamt gab es rund 750 Aktionen in etwa 45 Ländern.(3)
Weltwirtschaftskrieg
Der Neoliberalismus verändert die westlichen Gesellschaften strukturell. Mitunter werden sie schon jetzt als „postdemokratisch“ beschrieben: Während Demokratien pro forma weiterbestehen, gelangen Politik und Regierungen zunehmend zurück in die Kontrolle von Eliten, analysiert etwa der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch.(4) In zum „Spektakel“ verkommenen Wahlen lenkten die Bürger die Geschicke des Gemeinwesens nur noch scheinbar, die wirkliche Politik dagegen werde im Schatten dieser politischen Inszenierung hinter verschlossenen Türen gemacht – von Vertretern der Konzerne und deren willigen Helfern an den Schaltstellen der Macht.(5)
Zu letzteren gehört die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im Dezember 2014 gelobte, TTIP „gegen alle Widerstände durchzukämpfen“. Den „Kampf“ für das Abkommen verglich sie gar mit politischen Großdebatten wie dem NATO-Doppelbeschluss in den 1980er Jahren. Glaubt man Merkel, so droht im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen geradezu der Untergang: Deutschland werde sich dann in der globalisierten Welt gegen aufstrebende Mächte wie China nicht mehr behaupten können.(6)
Die Rhetorik Merkels hat ihren Ursprung in jenen Think Tanks und Elite-Netzwerken, für die Freihandelsabkommen die Fortsetzung von Geopolitik mit anderen Mitteln sind: Um das internationale System in ihrem Interesse zu ordnen, solle die schlingernde Weltmacht USA zunehmend auf Handelsabkommen setzen, empfehlen sie.(7)„Niemand Geringeres als Henry Kissinger, der Altmeister der amerikanischen Außenpolitik, ermuntert die westlichen Regierungschefs, konkrete Schritte in Richtung einer solchen Freihandelszone zu wagen“, plädierte der Journalist und Autor Gabor Steingart 2006 im Spiegel für entsprechende Abkommen zwischen USA, EU und Kanada – in einem Artikel mit dem Titel „Weltkrieg um Wohlstand“, der sein gleichnamiges Buch bewarb. Die bewährte westliche „Waffenbrüderschaft“ solle im „Weltwirtschaftskrieg“ fortgesetzt werden: „Was die Nato im Zeitalter militärischer Bedrohung für den Westen bedeutete, könnte im Angesicht der ökonomischen Herausforderung eine transatlantische Freihandelszone leisten.“(8) Im Jahr 2013 träumte der inzwischen zum Handelsblatt gewechselte Journalist, der selbst bestens in transatlantische Netzwerk-Organisationen wie die Atlantik-Brücke eingebunden ist,(9) bereits von der Gründung der „Vereinigten Staaten des Westens“, eines Staatenbundes, dessen gemeinsames Fundament ein „demokratischer Kapitalismus“ sein solle. Ein transatlantisches Freihandelsabkommen sei der erste Schritt in diese Richtung.(10) Unweigerlich, prophezeite Steingart vor neun Jahren, würde es daraufhin zu einer Konvergenz der Wirtschaftssysteme kommen, sprich: „Europa würde amerikanischer, die USA müssten sich europäisieren.“(11)
Preisgabe politischer Souveränität
Ist also, zumindest teilweise, der Einzug US-amerikanischer Verhältnisse in Europa zu befürchten? Es sei zutreffend, „dass der Regelungsspielraum der EU und der EU-Mitgliedsstaaten durch konkrete Vereinbarungen über eine engere transatlantische Regulierungszusammenarbeit, etwa im Rahmen einer gegenseitigen Anerkennung von Standards, in Teilen eingeschränkt werden kann“, heißt es in einem Brief an Foodwatch aus dem Bundeskanzleramt. Thilo Bode kommentiert: „Das ist ein offenes Eingeständnis der Preisgabe politischer Souveränität.“(12) Der Gründer und Geschäftsführer der Verbraucherorganisation hat intensiv zu TTIP recherchiert und seine Ergebnisse in Buchform veröffentlicht. Die Freihandelslüge ist Anfang März erschienen. Der Untertitel des Buches ist gleichsam eine Kurzzusammenfassung seines Inhalts. Er lautet: Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet. „Je mehr über TTIP an die Öffentlichkeit dringt, umso weniger glauben die Bürger der Bundesregierung die Märchen über Wachstum, Wohlstand und den Schutz ihrer Rechte. Und umso mehr begreifen sie, dass es bei TTIP nur ganz am Rande um normierte Kabelbäume geht“, so Bode. Tatsächlich gehe es „um die Verrechtlichung von Konzerninteressen, um die reale Gefahr, dass gesellschaftspolitische Errungenschaften Stück für Stück ausgehöhlt, Umwelt-, Verbraucherschutz- und Arbeitnehmerstandards eingefroren werden. TTIP würde das Recht der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten einschränken, weiterhin autonom Gesetze zu beschließen, die mehr am Gemeinwohl orientiert sind als an Konzerninteressen.“(13)
Daran, dass Standards sich nach oben angleichen könnten, glaubt auch Christoph Scherrer nicht: „Abkommen zielen immer darauf ab, dass man Standards eher senkt, damit die internationale Konkurrenz Zugang zu Märkten erhält“, so der Leiter des Fachgebiets Globalisierung und Politik an der Universität Kassel. Auf die Frage, wem TTIP wohl wirklich nütze, sagt der Volkswirt: „Mir scheint, dass es vor allem Konzerninteressen bedient. Weder Verbraucher- noch Arbeitnehmerverbände wurden vorher gefragt. Der Forderungskatalog ist im Wesentlichen ein Abbild der Forderungen der großen Wirtschaftsverbände.“(14)
Es klingt daher fast schon wie Zynismus, wenn die CDU in ihrer Pro-TTIP-Broschüre schreibt, nur ein solches Abkommen könne es ermöglichen, „dass europäische Standards nicht ausgehöhlt werden“.(15) In den USA sind beispielsweise Gewerkschafts- und andere Arbeitnehmerrechte äußerst beschränkt.(16) Trotzdem hat die EU in ihrem Verhandlungsmandat keine fortschrittlichen Ansprüche formuliert.(17) Es ist nicht einmal auszuschließen, dass die USA im Streikrecht, wie es in europäischen Ländern ausgeübt wird, oder im Recht, Betriebsräte zu wählen, einen Verstoß gegen TTIP sehen könnten.(18)
Nicht nur Arbeitnehmerrechte würden, so die Gegner des Freihandelsabkommens, mit TTIP unter Druck geraten. Gewarnt wird auch vor der weitreichenden Privatisierung kommunaler Dienstleistungen sowie vor der drohenden Zulassung von Risikotechnologien wie Fracking und Gentechnik. Lebensmittelstandards und Verbraucherschutz bei Kosmetika und Arzneimitteln könnten an US-amerikanische Standards angeglichen werden – von Chlorhühnchen, Hormonfleisch und bislang in der EU verbotenen Pestiziden ist die Rede.(19) TTIP bringe den Ausbau der Macht der multinationalen Konzerne mit sich, und damit beispielsweise die Stärkung der Agrarindustrie; das Abkommen werde die Möglichkeit eröffnen, die bäuerlichen und handwerklichen vergleichsweise hochwertigen Standards in Europa anzugreifen und sie gegen industrielle Verfahrensweisen auszutauschen.(20)
Dafür spricht, dass die meisten Wirtschaftsvertreter, die während der Vorbereitungsphase zu TTIP von 2012 bis Anfang 2013 in Kontakt mit der Generaldirektion Handel der EU-Kommission standen, aus Lebensmittel- und agrarwirtschaftlichen Konzernen stammten. Die lobbykritische Organisation Corporate Europe Observatory (CEO) hat im letzten Jahr eine unvollständige Liste für diesen Zeitraum veröffentlicht. CEO zählte 560 Treffen, davon fanden 92 Prozent unter Beteiligung von Wirtschaftsvertretern statt, lediglich vier Prozent mit Gewerkschaftern und Verbraucherverbänden.(21)
Weniger Demokratie wagen
Schon lange lässt sich der Trend einer Auslagerung politischer Entscheidungsprozesse in sogenannte Expertengremien beobachten: Repräsentanten des Staates setzen sich bereits im Prozess der Gesetzesbildung mit Vertretern gesellschaftlich einflussreicher Gruppen zusammen, Entscheidungen werden zunehmend unter Einfluss von Lobbyisten in so großem Umfang vorformuliert, dass den Parlamenten lediglich die nachträgliche Bestätigung der Verhandlungsergebnisse bleibt. Beispiele hierfür sind in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik die Rürup- oder die Hartz-Kommission. Von „Postparlamentarismus“ ist die Rede.(22)
Weder das Europaparlament noch die nationalen Parlamente der EU-Länder waren durch förmliche
Trojanisches Pferd: Betont werden vermeintliche Wachstumseffekte und Prosperitätszugewinne, in Wahrheit bringt TTIP aber die Aushöhlung demokratischer und arbeitsrechtlicher Errungenschaften |
Beschlüsse beteiligt, als Europas Regierungen der EU-Kommission das zunächst geheim gehaltene Mandat erteilten, mit den USA über TTIP zu verhandeln. Im Oktober 2014 – sieben TTIP-Verhandlungen waren bereits geführt worden – schätzte der Europaabgeordnete Bernd Lange (SPD), dass nur etwa 100 der 751 Abgeordneten des Europaparlaments die Genehmigung hätten, in den drei TTIP-Leseräumen in Brüssel die lückenhaften, oft nicht aktuellen und teilweise geschwärzten Dokumente einzusehen. Öffentlich darüber reden sollen sie nicht. „Jedenfalls darf ich die Informationen nicht eins zu eins weitergeben“, so Lange, der immerhin TTIP-Berichterstatter und Vorsitzender des EU-Parlamentsausschusses für Internationalen Handel ist – und eigentlich nicht weniger leisten soll als „die Festlegung, Durchführung und Überwachung der gemeinsamen Handelspolitik der Union“.(23)
In den Vereinigten Staaten verhält es sich ähnlich. Ende 2013 haben mehr als ein Drittel der 435 Abgeordneten des US-Kongresses einen Brief an ihren Präsidenten Barack Obama unterzeichnet, der sich gegen das geplante „Fast Track“-Gesetz richtet, eine Art Schnellverfahren, das die Befugnisse der US-Regierung beim Aushandeln von Freihandelsverträgen massiv ausdehnt und die des US-Kongresses entsprechend einschränkt. Die Abgeordneten können demnach bei der Abstimmung über TTIP nicht mehr einzelne Inhalte des Vertragsentwurfs verändern, sondern nur noch mit „Ja“ oder „Nein“ über den Vertrag als Ganzes abstimmen, und sind in der Entstehungsphase von Handelsabkommen von den Verhandlungen und Genehmigungsverfahren komplett ausgeschlossen.(24)
Thilo Bode fasst zusammen: „Die Leseräume in Brüssel und die ähnlich undemokratische Behandlung von US-Parlamentariern zeigen unmissverständlich: Der eigentliche Deal soll nicht bekannt werden, es soll verborgen bleiben, dass es um eine weitreichende Neuordnung der Machtverhältnisse geht, darum, dass Wirtschaftsinteressen in einem völkerrechtlich bindenden Vertrag Vorrang bekommen vor dem Gemeinwohl.“ Das Motto laute ganz offensichtlich: „Weniger Demokratie wagen.“(25)
Mit dem geplanten „Supergremium“ Regulatory Cooperation Council (Rat zur regulatorischen Kooperation), das die US-Regierung und die EU-Kommission gemeinsam im Zuge der Umsetzung von TTIP einrichten wollen, würde diese Art von „Demokratie-Outsourcing“(26) institutionalisiert werden: Gesetzesvorhaben sollen im Regulierungsrat eng mit Lobbygruppen abgestimmt werden, ohne dass die Parlamente überhaupt mit einbezogen werden. Bevor ein Abgeordneter einen Gesetzesentwurf überhaupt nur zu Gesicht bekäme, wäre dieser bereits mit Konzernlobbyisten abgestimmt. Als diese Pläne bekannt wurden, verliehen mehr als 170 internationale Organisationen in einem gemeinsamen Brief an die Brüsseler EU-Kommission und die US-Regierung ihrer Sorge darüber Ausdruck, dass Lobbyisten ein exklusives Einflussrecht in Gesetzgebungsverfahren erhalten sollen.(27)
Sollte dennoch einmal ein Gesetz verabschiedet werden, das einem Konzern ein Dorn im Auge ist, hätte der die Möglichkeit, die Regierung vor einem Schiedsgericht auf Schadenersatz zu verklagen. Die Schiedsgerichte in Investor-Staat-Schiedsverfahren sind nicht mit ordentlichen Gerichten zu verwechseln: Sie bestehen in der Regel aus drei von den Streitpersonen benannten Privatpersonen – konzernnahen Anwälten aus internationalen Kanzleien – und finden hinter verschlossenen Türen statt. Die Schiedssprüche sind bindend, obwohl man berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der Schiedsrichter haben darf.(28)
Weltstaatsstreich
Es droht also nicht weniger als die Unterminierung des staatlichen Gewaltmonopols durch multinationale Konzerne, der weitere Ausbau einer Paralleljustiz, wie sie bereits aufgrund anderer internationaler Investitionsabkommen besteht. Vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) in Washington etwa können Unternehmen gegen ausländische Staaten klagen, wenn sie der Meinung sind, diese hätten auf unfaire Weise den Wert ihrer Investitionen geschmälert, ohne sie dafür zu entschädigen. „Unbemerkt von der Öffentlichkeit, ist rund um das Gericht eine ebenso kraftvolle wie profitable Justizmaschinerie entstanden, bedient von Wirtschaftsanwälten international operierender Großkanzleien. Wer sich anschaut, wie diese Maschinerie funktioniert, findet neue Antworten auf die alte Frage, wie viel Macht auf dieser Welt die Staaten haben und wie viel die Konzerne“, schreibt die Wochenzeitung Die Zeit und spricht von „Schattenjustiz“.(29) Tatsächlich spielt sich diese Paralleljustiz zu einem großen Teil im Verborgenen ab: Laut einer Studie von Friends of the Earth Europe wurden seit 1994 zwar mindestens 127 Klagen gegen europäische Länder vorgebracht, doch sei nur bei 14 Fällen öffentlich geworden, zu welchen Zahlungsverpflichtungen sie geführt hätten; die Umweltorganisation kommt allein für diese 14 Schiedssprüche auf 3,5 Milliarden Euro Schadenersatz, die EU-Staaten an Investoren und Konzerne hätten zahlen müssen.(30)
Die Zahl der Investor-Staat-Klagen steigt rasant und hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren verzehnfacht; weltweit sind 568 Fälle bekannt. Konzerne klagen zum Beispiel gegen eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, gegen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz, gegen das Verbot einer Giftmülldeponie in einem Trinkwassergebiet, gegen Entschädigungen von Opfern der Apartheid oder gegen die Rücknahme von Wasserprivatisierung.(31) Ein Beispiel aus Deutschland: Der schwedische Energiekonzern Vattenfall verklagt die Bundesrepublik wegen der Stilllegung der schleswig-holsteinischen Atomkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel auf 4,7 Milliarden Euro Schadenersatz. Schon jetzt hat das Verfahren Millionen gekostet. „Schiedsrichter von Schiedsgerichten fahren paradiesische Gehälter ein – auf Kosten der Steuerzahler“, äußerte der linke Bundestagsabgeordnete Klaus Ernst gegenüber dem Handelsblatt im März, und warnte: „Es ist ein Unding, dass die Bundesregierung trotz der Erfahrung mit Vattenfall weitere Investorenklagen riskiert, indem sie immer neue Investitionsschutzverträge zulässt.“(32)
Die Gefahr von Schadenersatzzahlungen in Milliardenhöhe ist allerdings noch die geringste: Diejenigen, die
Wachsende Proteste: Immer mehr Bürgerinnen und Bürger erkennen die Gefahren, die das Freihandelsabkommen birgt |
Investitionsabkommen unterstützen, seien weniger besorgt wegen der Eigentumsrechte – ihr wahres Ziel sei es, Regierungen einzuschränken, so der US-Ökonom Joseph Stieglitz.(33) Franz Kotteder, Autor des Buches Der große Ausverkauf. Wie die Ideologie des freien Handels unsere Demokratie gefährdet, sieht Abkommen wie TTIP am Anfang einer gewaltigen Umwälzung stehen, an deren Ende der zügellose Markt stehen könnte. Das transatlantische Freihandelsabkommen sieht er als Teil eines Geflechts von Verträgen (CETA, TiSA, TTP), die allesamt dasselbe Ziel verfolgen: die Umsetzung einer neoliberalen Agenda, die multinationale Konzerne von allen Beschränkungen, die ihnen durch Regierungen auferlegt wurden, befreien soll. TTIP sei damit „Teil eines Weltstaatsstreichs der internationalen Wirtschaftsverbände und der großen Konzerne“.(34) Sollte dieser Putsch gelingen, prophezeit Kotteder der Bevölkerung Europas eine düstere Zukunft: „Möglicherweise können unsere Demokratien schon in wenigen Jahren keine Gesetze mehr verabschieden, die Umweltverschmutzung verhindern oder soziale Mindeststandards festschreiben. Es könnte dann nämlich sein, dass große Unternehmen sich dadurch eingeschränkt fühlen in ihren Möglichkeiten. Sie könnten dann mit privaten Anwälten besetzte, geheime Schiedsgerichte anrufen und Schadensersatz in Milliardenhöhe erwirken. Das klingt ziemlich undemokratisch und gar nicht nach unabhängiger Justiz. Aber genau das droht Wirklichkeit zu werden.“(35) Von einem heimlichen Staatsstreich spricht auch Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. Er meint: „Hinter dem Chlorhühnchen versteckt sich einer der gefährlichsten Angriffe auf die demokratischen Rechts- und Sozialstaaten, die es je gegeben hat.“(36)
Eine Paralleljustiz für den Schutz privater Investoren also, ein Regulierungsrat als institutionalisiertes Einfallstor für Konzernlobbyisten und die Unterwerfung der EU- und nationalstaatlichen Rechtssetzung unter den völkerrechtlichen TTIP-Vertrag: „Das ist ein geballter, ein dreifacher Angriff auf die Regulierungsautonomie der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Mit TTIP gibt Europa seine Steuerungshoheit über wichtige politische Prozesse und Entscheidungen an private Konzerne ab, die nur ein Bestreben haben: Staatliche Regulierung zum Zwecke des Allgemeinwohls unter allen Umständen zu verhindern. Dies ist wohl die wichtigste und gefährlichste Konsequenz von TTIP“, fasst Thilo Bode zusammen.(37)
Nebelkerzen
Nach massivem öffentlichem Druck scheint die Politik derzeit zurückrudern zu wollen: Die zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström unterbreitete Reformvorschläge, nach denen die Schiedsstellen mehr wie traditionelle Gerichte arbeiten und Einspruch gegen Urteile möglich sein sollen. Schon zuvor hatte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) vorgeschlagen, anstelle von privaten Schiedsstellen einen US-europäischen Handels- und Investitionsgerichtshof ins Leben zu rufen.(38) TTIP-Kritiker reagieren darauf jedoch skeptisch: „Ich denke, das ist eine Nebelkerze“, meint etwa Pia Eberhardt von CEO in Brüssel; zudem würde die Realisierung solcher Vorschläge Zeit benötigen und dürfe daher weder mit dem geplanten TTIP-Abkommen noch mit dem noch weiter gediehenen CETA-Vertrag der EU mit Kanada verbunden werden.(39)
Dass der Bundesregierung eher daran gelegen sein dürfte, „Nebelkerzen“ zu werfen als Absprachen transparent zu machen und die Sorgen des Volkes ernst zu nehmen, wird auch bei den Verhandlungen um das Trade in Services Agreement (TiSA) deutlich. Dabei handelt es sich um ein multilaterales Abkommen zur Liberalisierung aller Dienstleistungen. Die Regierung täuscht den Bundestag mit falschen, irreführenden und widersprüchlichen Angaben zu Inhalten, Zielsetzung und Geheimhaltungsgrad der seit März 2013 in Genf geführten Verhandlungen. Die USA haben gar zur Bedingung gemacht, dass ihre bei den Verhandlungen eingebrachten Dokumente „für fünf Jahre nach Inkrafttreten eines TiSA-Abkommens oder nach ergebnislosem Ende der Verhandlungen geheim gehalten halten werden müssen“.(40) Für Jürgen Buxbaum von der Internationalen Gewerkschaftsorganisation PSI hat das einen handfesten Grund: „Mit TiSA entscheiden nicht mehr die Bürger und gewählte Politiker, sondern Kommissionen, in denen Konzerne sitzen. So etwas lässt sich nur in Geheimverhandlungen ausmachen.“ Die Verhandlungsführer wüssten genau, dass es einen Aufschrei gäbe, würden sie ihre Pläne offen auf den Tisch legen. Was bisher an die Öffentlichkeit gedrungen ist, ist mehr als skandalös. Eine sogenannte „Stillstandsklausel“ etwa, an die auch zukünftige, demokratisch gewählte Regierungen gebunden wären, soll die Rekommunalisierung privatisierter öffentlicher Dienstleistungen verhindern.(41) Auf diese Weise wäre die Neoliberalisierung unseren Gesellschaften unumkehrbar eingeschrieben.
Dieser Text erschien zuerst in Hintergrund 3/2015. Das Magazin können Sie hier bestellen.
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Anmerkungen
(1) Joachim Gaertner: Abkommen TTIP: Das Ende der Demokratie?, 24.3.2015, Bayerisches Fernsehen, Capriccio (http://www.br.de/fernsehen/bayerisches-fernsehen/sendungen/capriccio/gesellschaft/ttip-freihandelsabkommen-110.html).
(2) Stop TTIP: Klage vor dem EUGH (https://stop-ttip.org/de/klage-vor-dem-eugh/).
(3)Global Trade Day: Weltweit 750 Aktionen in 45 Ländern gegen Freihandelsabkommen, Attac, 18.4.2015 (http://www.attac.de/startseite/detailansicht/news/global-trade-day-weltweit-750-aktionen-in-45-laendern-gegen-freihandelsabkommen/).
(4)“My central contentions are that, while the forms of democracy remain fully in place – and today in some respects are actually strengthened – politics and government are increasingly slipping back into the control of privileged elites in the manner characteristic of predemocratic times” (Colin Crouch: Post-Democracy, Cambridge 2004, p. 6).
(5) Claudia Ritzi: Die Postdemokratisierung politischer Öffentlichkeit. Kritik zeitgenössischer Demokratie – theoretische Grundlagen und analytische Perspektiven (Kritische Studien zur Demokratie), Wiesbaden 2014, S. 20.
(6)Merkel mahnt bei TTIP zur Eile, Handelsblatt, 12.12.2014 (http://www.handelsblatt.com/politik/international/freihandelsabkommen-merkel-mahnt-bei-ttip-zur-eile/11115698.html).
(7)Marcel Humuza: TTIP: Fortsetzung der Geopolitik mit anderen Mitteln, Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), 3.3.2015 (http://www.ipg-journal.de/rubriken/europaeische-integration/artikel/ttip-fortsetzung-der-geopolitik-mit-anderen-mitteln-815/).
(8) Gabor Steingart: Weltkrieg um Wohlstand, Der Spiegel 37/2006, S. 44-75 (online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-48826315.html).Für diese Titelstory erhielt Steingart im Jahr darauf den Helmut-Schmidt-Journalistenpreis der Direktbank ING-DiBa, der für „besondere Leistungen auf dem Gebiet der verbraucherfreundlichen Berichterstattung über Wirtschafts- und Finanzthemen“ verliehen wird.
(9)http://homment.com/atlantikbruecke (vgl. https://www.atlantik-bruecke.org/programme/vortrags-und-diskussionsveranstaltungen/archiv/starbucks/ und https://www.atlantik-bruecke.org/programme/konferenzen/deutsch-amerikanische-konferenzen/konferenz-ab-acg/?pic=15&gal=gal_0).
(10) Gabor Steingart: Transatlantische Freihandelszone: Die Vereinigten Staaten des Westens, Handelsblatt, 1.2.2013 (http://www.handelsblatt.com/politik/international/transatlantische-freihandelszone-die-vereinigten-staaten-des-westens/7719596.html).
(11) Gabor Steingart: Westbündnis gegen Asien: Drei Gründe für eine Nato der Wirtschaft, Spiegel Online, 22.9.2006 (http://www.spiegel.de/wirtschaft/westbuendnis-gegen-asien-drei-gruende-fuer-eine-nato-der-wirtschaft-a-438372.html).
(12) Thilo Bode unter Mitarbeit von Stefan Scheytt: Die Freihandelslüge. Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet, München 2015, S. 78.
(13) Ebd., S. 25.
(14)Scherrer: „TTIP bedient vor allem Großkonzerne“, Deutsche Welle, 22.5.2014 (http://www.dw.de/scherrer-ttip-bedient-vor-allem-gro%C3%9Fkonzerne/a-17654424).
(15) CDU: TTIP: Brücke in die Zukunft. Bedeutung und Inhalte, 21.7.2014 (http://www.cdu.de/ttip/sites/default/files/media/docs/140722-argupapier-bedeutung-inhalte-ttip.pdf), S. 1.
(16) Vgl. z.B.: Internationaler Gewerkschaftsbund: Gefährdete Länder. Verletzungen von Gewerkschaftsrechten,2013 (http://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/survey_ra_2013_all_final.pdf), S. 57f.
(17) Sven Hilbig: Schutz von Aneignungsrechten, in: Harald Klimenta, Andreas Fisahn u.a.: Die Freihandelsfalle. Transatlantische Industriepolitik ohne Bürgerbeteiligung – das TTIP (AttacBasisTexte 45), Hamburg 2014, S. 64-97, S. 86.
(18) Vgl. Thilo Bode (Anm. 12), S. 215.
(19)Vgl. z.B.: Stopp TTIP: Wo liegt das Problem?(https://stop-ttip.org/de/wo-liegt-das-problem/).
(20) Rena Tangens, Hartmut Goebel: Umwelt- und Verbraucherschutz durch TTIP bedroht, in: Harald Klimenta, Andreas Fisahn u.a. (Anm. 17), S. 43-63, S. 52.
(21) Corporate Europe Observatory: Who lobbies most on TTIP?, 8.7.2014(http://corporateeurope.org/international-trade/2014/07/who-lobbies-most-ttip).
(22) Dirk Jörke: Warum „Postdemokratie“?, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 19, 4/2006, S. 38-46, S. 40f.
(23) Thilo Bode (Anm. 12), S. 30.
(24)“Given our concerns, we will oppose ‘Fast Track` Trade Promotion Authority or any other mechanism delegating Congress’ constitutional authority over trade policy that continues to exclude us from having a meaningful role in the formative stages of trade agreements and throughout negotiating and approval processes” (http://delauro.house.gov/index.php?option=com_content&view=article&id=1455:delauro-miller-lead-151-house-dems-telling-president-they-will-not-support-outdated-fast-track-for-trans-pacific-partnership&catid=2:2012-press-releases&Itemid=21).
(25) Thilo Bode (Anm. 12) S. 34, S. 37.
(26) Zacharias Zacharakis: Ein Freifahrtschein für Lobbyisten, Zeit Online, 5.6.2014 (http://www.zeit.de/wirtschaft/2014-06/ttip-freihandelsabkommen-regulatorische-kooperation-rcc-eu-usa).
(27) Brief vom 12.5.2014 (online einsehbar unter: http://sensiblesafeguards.org/assets/documents/regco-sign-on-letter_questions_final.pdf).
(28) Sven Hilbig (Anm. 17), S. 66f.
(29) Petra Pinzler, Wolfgang Uchatius, Kerstin Kohlenberg: Schattenjustiz: Im Namen des Geldes, Die Zeit 10/2014, 10.3.2014 (http://www.zeit.de/2014/10/investitionsschutz-schiedsgericht-icsid-schattenjustiz).
(30) Friends of the Earth Europe: The hidden cost of EU trade deals: Investor-state dispute settlement cases taken against the EU member states, 4.12.2014 (http://www.foeeurope.org/sites/default/files/publications/hidden_cost_of_eu_trade_deals.pdf), S. 7.
(31) Anette Sawatzki: Die Schattenjustiz der Konzerne – in 180 Sekunden erklärt, Campact, 30.10.2014 (http://blog.campact.de/2014/10/die-schattenjustiz-der-konzerne-in-180-sekunden-erklaert/).
(32) Dietmar Neuerer: Vattenfall-Klage kostet Deutschland schon jetzt Millionen, Handelsblatt, 12.3.2015 (http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/atomausstieg-vattenfall-klage-kostet-deutschland-schon-jetzt-millionen/11494704.html).
(33) Caspar Dohmen: Mehr als der Abbau traditioneller Handelshürden, Deutschlandfunk, 27.4.2015 (http://www.deutschlandfunk.de/ttip-mehr-als-der-abbau-traditioneller-handelshuerden.1310.de.html?dram:article_id=318311).
(34) Franz Kotteder: Der große Ausverkauf. Wie die Ideologie des freien Handels unsere Demokratie gefährdet, München 2015, S. 13.
(35) Ebd., S. 14.
(36) Heribert Prantl: Ein heimlicher Staatsstreich, Süddeutsche Zeitung, 10.5.2014 (http://ttip.attac-bremen.eu/uploads/ttipmaterial/Heimlicher%20Staatstreich%20Heribert%20Prant,%20SZ%20v.10.5.14l.pdf).
(37) Thilo Bode (Anm. 12), S. 129.
(38) Freihandelsabkommen TTIP: EU-Kommissarin schlägt Reform der Schiedsgerichte vor, Spiegel Online, 5.5.2015 (http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/ttip-eu-kommissarin-schlaegt-schiedsgerichtsreform-vor-a-1032268.html).
(39) Eric Bonse: Deutsche Charme-Offensive für TTIP: „Nebelkerzen“ aus Berlin, taz, 4.3.2015 (http://www.taz.de/!155732/).
(40) Andreas Zumache: Freihandel im Hinterzimmer: Bundesregierung täuscht bei Tisa, taz, 3.7.2014 (http://www.taz.de/!141713/).
(41) Klaus Wolschner: TTIP, CETA, TiSA: „Rekommunalisierung ist ausgeschlossen“, taz, 10.5.2015 (http://www.taz.de/!159691/).