Weltpolitik

Druck auf Brasiliens Regierung wächst

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Von SEBASTIAN RANGE, 19. August 2015 –

Am vergangenen Sonntag gingen Hunderttausende Brasilianer auf die Straße und forderten die linksgerichtete Präsidentin Dilma Rousseff zum Rücktritt auf. Nach unterschiedlichen Angaben machten am Wochenende zwischen sechshundert- und achthunderttausend Menschen ihrem Unmut in mehr als 150 Städten Luft. Zentrum der Proteste war São Paulo. Laut jüngsten Umfragen wird die von den Demonstranten erhobene Forderung nach einer Amtsenthebung der im vergangenen Oktober wiedergewählten Präsidentin von 66 Prozent der Brasilianer unterstützt.

Es war der dritte große Protesttag in diesem Jahr, die Rekordzahl von eineinhalb Millionen Demonstranten Mitte März wurde aber deutlich untertroffen.

Die Wirtschaft im größten lateinamerikanischen Land mit 200 Millionen Einwohnern befindet sich weiter auf Talfahrt. Jüngst veröffentlichte Prognosen der Zentralbank gehen für dieses Jahr von einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 2,1 Prozent aus. Für nächstes Jahr wird mit einem Nullwachstum gerechnet. Zwischen 2004 und 2011 wuchs das BIP im Schnitt noch um knapp fünf Prozent. In den letzten drei Jahren hat sich das Wirtschaftswachstum jedoch deutlich abgeschwächt. Die Industrieproduktion sank bereits im letzten Jahr. Der Autoabsatz ist dieses Jahr um 20 Prozent eingebrochen, weshalb auch die im Land aktiven deutschen Autobauer ihre Produktion deutlich drosselten.

Die schwache Binnennachfrage paart sich mit einer hohen Inflation – sie kletterte im Juli auf fast zehn Prozent binnen eines Jahres – und einem Absturz der heimischen Währung Real gegenüber dem US-Dollar. Hinzu kommt der niedrige Ölpreis, der zum Sinken der öffentlichen Einnahmen führt.

Brasilien ist auf dem Erdölsektor praktisch autark. Allein die halbstaatliche Ölgesellschaft Petrobras fördert pro Tag mehr als 2 Millionen Barrel Rohöl. Rund ein Viertel davon geht in den Export.

Sind es auch in erster Linie die ärmeren Bevölkerungsteile und die Arbeiterschaft, die besonders unter dem mit der Inflation verbundenen Kaufkraftverlust zu leiden haben, so gehen gegenwärtig vor allem die besser situierten Brasilianer der Mittel- und Oberschicht auf die Straße.

Die Gewerkschaftsverbände sprechen sich gegen die Proteste aus und organisieren Demonstrationen zur Unterstützung der Regierung. Vor einer Woche zeigten sich Zehntausende Landarbeiterinnen beim jährlichen „Marsch der Margeriten“ mit der Präsidentin solidarisch. „Bleib, Dilma! Wir verteidigen die Demokratie“, war auf Transparenten zu lesen. (1)

Ausgelöst wurde die Protestwelle von einem massiven Korruptionsskandal um den Energieriesen Petrobras. Bei der Vergabe von Aufträgen sollen zwischen 2003 und 2013 Schmiergelder in Milliardenhöhe geflossen sein. Laut Presseberichten soll es sich bei den Beschuldigten mehrheitlich um Abgeordnete und Senatoren der regierenden Arbeiterpartei (PT) und ihrer Koalitionspartner handeln.

Dilma Rousseff bestreitet eine Verwicklung in den Korruptionsskandal, Beweise für eine solche wurden bislang auch nicht bekannt. Dennoch fällt der Skandal auf sie zurück. Vor einem halben Jahr musste die Direktorin des Ölkonzerns, Maria das Graças Foster, nach öffentlichem Druck zurücktreten. Sie galt als Vertraute der 67-jährigen Präsidentin, die selbst zwischen 2003 und 2010 den Vorsitz des Petrobas- Aufsichtsrates innehatte.

Die Zustimmungswerte für Rousseff sanken im August dieses Jahres laut dem Meinungsforschungsinstitut Datafolha auf ein Rekordtief von acht Prozent. Im Dezember 2014 bewerteten noch 42 Prozent der Befragten ihre Amtsführung als „sehr gut oder gut“, im Februar waren es schon nur noch 23 Prozent.

Neoliberale Protestbewegung

„Dilma raus!“, „Amtsenthebung für Rousseff!“, „Weg mit der Arbeiterpartei!“ sind die zentralen Parolen, die neben Slogans gegen Korruption auf den Transparenten der Demonstranten stehen. Vereinzelt – vor allem von Vertretern rechtsextremer Organisationen – wurden Rufe nach einem Eingreifen des Militärs zum Sturz der Präsidentin laut. Rousseff saß während der Militärdiktatur als Mitglied einer marxistischen Guerilla-Organisation drei Jahre lang im Gefängnis, wo sie auch gefoltert wurde.

Neben der sozialdemokratischen PSDB und rechten Oppositionsparteien werden die Proteste vor allem von dem neoliberalen Bündnis „Movimento Brasil Livre“ (MBL) getragen.

Sie unterscheiden sich in ihrer Ausrichtung deutlich von den teils gewaltsamen Massenprotesten, die vor zwei Jahren das Land erschütterten. Es waren die größten Unruhen in Brasilien seit dem Ende der Militärdiktatur in den 1980er Jahren. Sie entzündeten sich an steigenden Preisen für den öffentlichen Nahverkehr und richteten sich auch gegen die Verschwendung von Staatsgeldern für die ein Jahr später ausgerichtete Fußballweltmeisterschaft. An Präsidentin Rousseff gerichtete Rücktrittsforderungen standen dabei nicht im Mittelpunkt.

Deutlich wird der Unterschied in der Position des MBL, die als Reaktion auf die 2013-Protestbewegung gegründete wurde. Mit den von den Demonstranten seinerzeit erhobenen Forderungen nach kostenloser Beförderung macht sich das Protestbündnis nicht gemein. Im Gegenteil setzt es sich – ganz im Sinne des von ihm propagierten „freien Marktes“ als Allheilmittel für sämtliche wirtschaftliche und soziale Probleme – für eine Privatisierung der Verkehrsunternehmen ein, was erfahrungsgemäß zu höheren Beförderungsentgelten führt. (2)

Anders als die Demonstranten vor zwei Jahren kann die gegenwärtige Protestbewegung nicht nur auf die Unterstützung der Wirtschaftselite zählen – die MLB wird unter anderem von dem Milliardär Jorge Paulo Lemann gefördert –, sondern sich auch auf den Großteil der sich im Privatbesitz befindlichen Massenmedien verlassen, die die Proteste mit einer aggressiven Kampagne gegen die Regierung befeuern.

Allen voran der Medienkonzern Globo, dem mehrere Fernsehsender und eine der größten Tageszeitungen angehören, und der während der Militärdiktatur zum mächtigsten Medienunternehmen des Landes aufgestiegen war. Mit der Unterstützung der Protestaufrufe hat der Konzern erheblich zum Mobilisierungserfolg der Opposition beigetragen.

Angesichts einer rechten Mehrheit im Parlament sieht diese nun einen günstigen Zeitpunkt, sich unter dem Vorwand des Korruptionsskandals – von dem nicht nur PT-Mitglieder betroffen sind, sie stehen jedoch im Medienfokus – die Präsidentin aus dem Amt zu fegen und die Arbeiterpartei aus der Regierung zu drängen.

Die Präsidentin zeigt sich trotz allen Gegenwinds weiterhin kämpferisch. „Niemand wird mir die Legitimität nehmen, die ich durch die Wahlen erhalten habe“, erklärte Rousseff vergangene Woche. „Wir wollen daran erinnern, dass wir die Partei sind, die die meisten Kochtöpfe der Arbeiter gefüllt hat“, heißt es in einem aktuellen Video-Clip, in dem die Arbeiterpartei an die Geduld der Bevölkerung appelliert. (3) Es ist eine Anspielung auf eine häufig genutzte Protestform, bei der lärmend auf Kochtöpfe geschlagen wird.

Die seit 2003 an der Macht befindliche PT hat es in ihrer Regierungszeit geschafft, Millionen Brasilianer aus der Armut zu holen. Entsprechend genießt sie– ähnlich wie die Regierungen in Bolivien, Venezuela und Ecuador – die Unterstützung der ärmeren Bevölkerungsteile.

Die sich als Kampf gegen Korruption kleidenden Proteste sind somit auch Ausdruck eines sich verschärfenden Klassenkonflikts. Gelingt es der Opposition, die Präsidentin zu stürzen, wird das Land wieder einen strikt neoliberalen Kurs einschlagen.

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Darüber würde sich nicht nur die reiche Oberschicht freuen, auch die US-Regierung würde eine solche Entwicklung begrüßen. Nicht nur, weil Washington grundsätzlich all jene als Gegner betrachtet, die der totalen Durchdringung der Gesellschaft durch die Kräfte des „freien Marktes“ im Wege stehen. Ein Sturz Rousseffs würde auch die außenpolitische Orientierung des Landes zugunsten Washingtons neu ausrichten. Schließlich arbeitet Brasilien als Teil der BRICS-Staatenkoalition am Aufbau eines alternativen globalen Finanzsystems, um die bestehende Hegemonie der USA auf den Finanzmärkten zu unterlaufen.

Anmerkungen
(1) Siehe: https://amerika21.de/2015/08/126327/marsch-der-margerite
(2) Siehe: http://www.economist.com/news/americas/21645211-thatcherism-winning-adherents-niche-no-longer
(3) Siehe: https://amerika21.de/2015/08/125897/verhaftung-pt-politiker

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