Sozialabbau

Langzeitarbeitslose: Abgehängt in einer „Parallelwelt“

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Von REDAKTION, 26. Juni 2013

Ausgerechnet die Bundesagentur für Arbeit räumt mit dem neoliberalen Märchen auf, dank der Einführung der Agenda 2010-Reformen („Hartz IV“) sei es gelungen, Millionen Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.  

Regierungspolitiker fabulieren gerne von dem „Jobwunder“, und davon, dass es noch nie so viele Arbeitsplätze in der Bundesrepublik gegeben hätte.

Der „harte Kern“ der Bezieher von Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) konnte davon jedoch nicht profitieren. Als solchen bezeichnet die Bundesagentur für Arbeit Langzeitbezieher, also Menschen, die in einem Zeitraum von 24 Monaten mindestens 21 Monate auf Hartz IV angewiesen waren. Sie stellen unter den erwerbsfähigen Beziehern der Grundsicherung zu rund drei Vierteln die große Mehrheit. Von den Hartz IV-Beziehern insgesamt gilt rund die Hälfte als langzeitarbeitslos.

„Das deutsche Jobwunder hat ohne sie stattgefunden“, bilanzierte Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit (BA), in einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit vergangene Woche.  

Weder Ein-Euro-Jobs noch die sogenannte Bürgerarbeit haben sich nach Einschätzung der Agentur als erfolgreiche Strategien zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit erwiesen. Auch andere Formen der öffentlich geförderten Beschäftigung hätten „keinen durchschlagenden Erfolg gebracht“, räumte Alt ein.

Statt Langzeitarbeitslose „in einer Parallelwelt besonderer Betreuungsräume abzuschirmen“, sollten sie künftig verstärkt in ausgewählten Betrieben „marktnah“ beschäftigt werden, schlägt Alt vor. Unternehmen, die dazu bereit seien, sollten eine entsprechende staatliche Förderung erhalten.

Ohne eine solche Förderung, also eine faktische Lohnsubventionierung mittels Steuergeldern, wird aus den Plänen einer „marktnahen“ Beschäftigung wohl auch nichts werden. Denn wie die hauseigene Denkfabrik der Bundesagentur, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), vor Wochen in einer Untersuchung feststellten musste, ist nur jeder dritte Betrieb in Deutschland bereit, Menschen einzustellen, die länger als ein paar Monate arbeitslos waren.  

Hinzu kommt, dass Langzeitarbeitslose auch in den Jobcentern keine bevorzugte Behandlung erfahren, wenn es darum geht, vermittelt zu werden. Um eine möglichst hohe Vermittlungsquote zu erzielen, die gegebenenfalls auch prämiert wird, kümmern sich die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen in erster Linie um die einfachen Fälle.

Das geht laut Spiegel aus einem Prüfbericht des Bundesrechnungshofs vor. Darin wird der Bundesagentur für Arbeit „Fehlsteuerung“ und „Manipulation“ bei der Vermittlung von Arbeitslosen vorgeworfen. Die Agenturen würden sich auf die Fälle konzentrieren, die am ehesten auch ohne Hilfe auf dem Arbeitsmarkt unterkämen. Weil jede Vermittlung im internen Zählsystem gleich viel wert sei, versuchten die Agenturen so, hohe Vorgaben aus der Zentrale zu erfüllen. Dagegen würden Arbeitslose mit Vermittlungshemmnissen schlechter betreut, da es schwerer sei, mit ihnen die Ziele zu erreichen.

So hätten die Prüfer festgestellt, dass die Arbeitsvermittler in den drei Monaten für mehr als 50 Prozent der Langzeitarbeitslosen keinen Stellensuchlauf gemacht und zu 45 Prozent keinen ernstzunehmenden Kontakt aufgenommen hätten. Es gebe eine interne Weisung, wonach nur aussichtsreiche Bewerber sofort einen Termin beim Vermittler bekommen sollten. Um die Ziele zu erfüllen, sei an der Statistik geschraubt worden. Lehrlinge, die ohnehin von ihrer Firma übernommen werden sollten, seien als erfolgreich vermittelt gezählt worden. „Die bloße Erfassung von sicheren Übertritten mit dem Ziel einer Zählung stellt aus unserer Sicht eine Manipulation dar“, heißt es in dem Rechnungshofbericht.

Müssen Langzeitarbeitslose bei der Jobsuche auch ganz hinten anstehen, sind sie jedoch Spitzenreiter bei den repressiven Maßnahmen, die die Bundesagentur gegen ihre „Kunden“ – so werden offiziös die Menschen bezeichnet, die in den Ämtern Schlange stehen müssen – einleitet.  

Im vergangenen Jahr verhängten die Arbeitsagenturen so viele Sanktionen gegen Langzeitarbeitslose wie nie zuvor. Über eine Million Strafen wurden ausgesprochen, was einem Anstieg von elf Prozent entspricht. Dies kann bedeuten, dass der Hartz-IV-Bezug  gekürzt oder völlig gestrichen wird. Im Durchschnitt wurden die Leistungen um 110 Euro gesenkt, also um rund ein Drittel.

Siebzig Prozent der Strafen wurden verhängt, weil die betroffenen „Kunden“ nicht zu einem Termin im Jobcenter erschienen waren.

Trotz der desaströsen Bilanz nach acht Jahren Agenda 2010 zeichnet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) weiterhin insgesamt ein positives Bild der vom neoliberalen Zeitgeist durchdrungenen Arbeitsmarktreform. In einer vor einer Woche veröffentlichten Studie wird immerhin auf die „Schattenseiten“ der Reform eingegangen.

„Trotz des makroökonomischen Erfolges der Hartz-Reformen ist mit ihrer Wirkung auch ein soziales Auseinanderdriften verbunden gewesen“, heißt es in der Studie. Die Lasten der Reformen hätten im Wesentlichen die Arbeitnehmer getragen.

So habe seit den Hartz-Reformen die „atypische Erwerbstätigkeit, wie Leiharbeit, befristete Beschäftigung oder Minijobs“ deutlich zugenommen. Betroffene würden zudem oft nur für kurze Zeit beschäftigt und schlechter bezahlt, stellen die Arbeitsmarktforscher fest. „Drehtüreffekte sind die Folge – oft direkt in die Grundsicherung nach Sozialgesetzbuch II.“ Darüber hinaus habe die bereits seit Jahrzehnten zunehmende Einkommensungleichheit zugenommen – und zwar dadurch, dass gerade die Löhne in den unteren Lohngruppen gesunken seien.

Allerdings sei es mit den Hartz-Reformen auch gelungen, den verfestigten Kern der Arbeitslosigkeit zum Teil aufzubrechen. Mit rund 2,9 Millionen sei die Arbeitslosigkeit im Jahr 2012 auf den niedrigsten Stand seit 1991 gesunken. Insgesamt funktioniere der Arbeitsmarkt besser – und das auf Dauer, meinen die Forscher. Inzwischen seien diese Reform-Effekte aber aufgebraucht.

Dem ließe sich auch hinzufügen: Die Effekte der statistischen Trickserei, die dem „Jobwunder“ und der niedrigen Arbeitslosenquote zu Grunde liegen, verfangen nicht auf ewig.

Die Erfolgsstory von der auf unter 3 Millionen gesenkten Zahl der Arbeitslosen wird relativiert durch die Zahl der knapp vier Millionen Unterbeschäftigten, die hinzu addiert werden müssten, um ein realistisches Bild der Arbeitsmarktlage zeichnen zu können. Wer sich beispielsweise als Hartz-IV-Bezieher im Monat hundert Euro durch einen Ein-Euro-Job dazu verdient, der gilt offiziell nicht mehr als arbeitslos.

Dennoch lassen sich die Hartz IV-Reformen nicht als Misserfolg bezeichnen – zumindest nicht im Sinne ihrer Erfinder. Die vom ehemaligen SPD-Bundeskanzler Gerhard „Genosse der Bosse“ Schröder umgesetzte Agenda 2010 hatte schließlich auch das Ziel, die vom IAB beklagte Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse massiv voran zu treiben. Das Kapital träumt von Zuständen, in denen ein Beschäftigter nicht mehr dazu „gezwungen“ ist, vom Lohn seiner Arbeit leben können zu müssen, da die Arbeitsagenturen den gezahlten Niedriglohn „aufstocken“. Diese Auswirkungen der Deregulierung des Arbeitsmarktes sind eben kein negativer Nebeneffekt, sondern waren von Anbeginn Sinn und Zweck der Reform.

Beim Thema Hartz IV dürfe nie vergessen werden, so Heinrich Alt, dass die Grundsicherung von Steuerzahlern finanziert werde, „also auch von der Kassiererin, dem Dachdecker oder der Altenpflegerin“. (1) Oder mit anderen Worten: Die Arbeiter und Angestellten finanzieren die Senkung ihrer Löhne und Gehälter, während sich die politische Klasse ob des vermeintlichen Jobwunders selbst auf die eigenen Schultern klopft.

(mit dpa)

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Anmerkungen

(1) http://www.zeit.de/wirtschaft/2013-04/hartz-iv-sanktionen-zunahme

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