Der Kriegsverbrecher als Kronzeuge:
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Was Kundus-Gouverneur Mohammad Omar mit der Vertrauenskrise der Bundesregierung zu tun hat –
Von THOMAS WAGNER, 4. Dezember 2009 –
Auch drei Monate nach dem von Bundeswehroberst Klein zu verantwortenden Luftangriff auf zwei entführte Tanklastwagen im afghanischen Kundus lässt die Bundesregierung die deutsche Bevölkerung weiterhin darüber im Dunkeln, welche „Fehler“ vor Ort zu dem Massaker an 179 Zivilpersonen (1) geführt haben und auf welche Weise das Verteidigungsministerium die Öffentlichkeit seit den schrecklichen Ereignissen vom 04. September 2009 hinters Licht geführt hat.
Zwar musste der damals verantwortliche Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) nun auch von seinem neuem Posten als Bundesarbeitsminister zurücktreten und sein Nachfolger im Verteidigungsministerium Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) hat am Donnerstag im Deutschen Bundestag entgegen seiner früheren Bewertung des Vorgangs nun endlich eingeräumt, dass der Luftangriff nicht „militärisch angemessen“ gewesen ist.
Doch weder er noch Jung, noch die Bundeskanzlerin haben bisher erläutert, um welche „Fehler“ es sich denn konkret gehandelt habe. Dabei hatte die Bundeskanzlerin bereits in ihrer Regierungserklärung vom 08. September 2009 angekündigt: „Die lückenlose Aufklärung des Vorfalls vom letzten Freitag und seiner Folgen ist für mich und die ganze Bundesregierung ein Gebot der Selbstverständlichkeit. Die Bundeswehr wird mit allen zur Verfügung stehenden Kräften genau dazu beitragen.“ Sie selbst „stehe dafür ein, dass wir nichts beschönigen werden“.
Zentraler Vertuschungsbaustein
Ein zentraler Baustein der vom Bundesverteidigungsministerium sehr ungeschickt ins Werk gesetzten Desinformationsstrategie sind Aussagen des Gouverneurs der Provinz Kundus, Mohammad Omar. Dieser hatte laut verschiedener Agenturmeldungen noch am Morgen des Luftangriffs zunächst von 90 Getöteten, darunter 45 Zivilisten gesprochen.
Erst gegen Mittag des gleichen Tages nannte er Zahlen, die denen der Bundeswehr und des Verteidigungsministerium nahe kamen. Plötzlich hieß es, zwischen 50 und 60 Menschen seien getötet worden. Die meisten davon seien bewaffnete Taliban. In der Folge haben sich Franz Josef Jung und die Sprecher des Verteidigungsministeriums immer wieder auf die Aussagen Mohammad Omars berufen, wenn sie vor der deutschen Öffentlichkeit zu rechtfertigen versuchten, warum sie zunächst von keinen, später von wahrscheinlich nur wenigen zivilen Opfern gesprochen haben.(2) Sind diese Zahlen zwischen der Bundeswehr, dem Bundesverteidigungsministerium und dem Provinzgouverneur möglicherweise abgesprochen gewesen? Der Verdacht erscheint jedenfalls nicht unbegründet. Karim Popal, der Anwalt der Opferfamilien sagte gegenüber Hintergrund am 03. Dezember 2009: „Ich habe leider nicht nachweisen können, dass es eine solche Zusammenarbeit gegeben hat. Ansonsten wäre ich der erste gewesen, der es an die Presse gebracht hätte. Aber es sprechen viele Anhaltspunkte dafür.“
Mohammad Omar war und ist bis heute für die Rechtfertigungs- und Vertuschungsstrategie des Bundesverteidigungsministerium der wichtigste Kronzeuge. Er wird als authentische, ortskundige afghanische Stimme zitiert, deren Worten die deutsche Öffentlichkeit Glauben schenken soll. Dabei hatte die Bundesregierung noch im Mai seine Absetzung gefordert, berichtete die junge Welt. (3)
Wie ist es also um die Glaubwürdigkeit des afghanischen Kronzeugen der Merkel-Regierung bestellt?
Kriegsverbrecher
Bevor Omar sich den neuen Verhältnissen anpasste, habe er der aus Saudi-Arabien finanzierten fundamentalistischen Organisation Ittehad-e-Islami angehört, die im afghanischen Bürgerkrieg der 90er Jahre eine üble Rolle gespielt hatte, so die junge Welt.(4)
Für Karim Popal ist der Gouverneur von Kunduz der Parteigänger eines Kriegsverbrechers: „Er hat 1990 bis 1993 im Bürgerkrieg an der Seite des Warlords Saiaf gekämpft, aus meiner Sicht ein Kriegsverbrecher. Er hat viele Menschen erschossen. Heute ist er Gouverneur, weil er ein paar bewaffnete Leute auf seiner Seite hat. Weder ist er vom Volke gewählt, noch möchten ihn die Leute aus Kundus als ihren Gouverneur haben. Er gilt als eigenmächtig, eigenwillig und korrupt.“
Führende Beamte des Verteidigungsministeriums und der damalige Außenminister Frank Walter Steinmeier (SPD) scheinen diese Einschätzung Popals kurz vor dem NATO-Bombardement noch uneingeschränkt geteilt zu haben.
In einem Medienbericht heißt es, Steinmeier habe bei seinem Besuch in Kabul Ende April (2009) signalisiert, dass die Deutschen mit dem Provinzgouverneur nicht mehr zusammenarbeiten wollten. Ganz offen habe Steinmeier dem afghanischen Innenminister Mohammed Hanif Atmar gesagt, man wünsche die Abberufung des Provinzfürsten. (5)
Dem seien Berichte des Bundesnachrichtendienstes (BND) vorausgegangen, nach denen Omar lokalen Talinban-Größen vertrauliche Informationen weitergab. Außerdem wird er bezichtigt, tief in den Drogenhandel verstrickt zu sein.
Bevor Omar im März 2004 Gouverneur von Kundus geworden war, hatte er das gleiche Amt in der benachbarten Provinz Baghlan ausgeübt, die ebenfalls zur deutschen Besatzungszone gehört. Diesen Posten musste er aufgeben, weil viele Bezirksverantwortliche sich weigerten, mit ihm zusammenzuarbeiten. Mohammad Omar sei beschuldigt worden, ein Privatgefängnis zu unterhalten. Er habe Folter angewendet, Land und anderes fremdes Eigentum bestohlen sowie andere Menschenrechtsverletzungen begangen.
In den Augen von Karim Popal, der in den vergangenen zwei Monaten zwei aufwendige Recherche-Reisen nach Afghanistan unternommen hat, ist Mohammad Omar eine höchst unglaubwürdige Person mit einer hohen Affinität zu gewaltsamen Lösungen: „Er bezeichnet die Deutschen als feige, weil sie sich bislang an die Regeln von ISAF gehalten haben. Er sagte, wenn sie nicht so Krieg führen wollten wie die Amerikaner, dann sollten sie aus Kundus rausgehen.
Geschönte Opferzahlen
Die von Omar genannten Opferzahlen halten, laut Popal, einer Überprüfung nicht stand: „Deshalb haben sich die Opfer des Bombardements ja an uns gewandt und nicht an den Gouverneur Omar. Er hatte nach dem Luftangriff von nur dreißig zivilen Opfern gesprochen, der Rest waren nach seiner Ansicht Taliban-Kämpfer. Unter den Menschen, die er als Taliban bezeichnet hat, waren aber fünfjährige Kinder, Schüler, Wähler der Karzai-Regierung und Leute, die für internationale Organisationen gearbeitet haben. Das allein spricht schon dafür, dass es sich bei diesen Menschen eben nicht um Taliban gehandelt hat. Die lehnen das nämlich ab.“
Auch die kurz nach dem Bombenangriff von den Agenturen lancierten Meldungen, dass unter den unter den getöteten Taliban hochrangige Kommandeure gewesen seien, lassen sich laut Popal nicht verifizieren. „Das ist absoluter Quatsch“, sagt Popal. „Ich bestreite diese Aussage. Bei dem Bombardement ist kein einziger hochrangiger Kommandeur verletzt, geschweige denn getötet worden. Bei den bewaffneten Taliban, die die Tanklastwagen bewachten – es waren nur fünf an der Zahl – handelt es sich um einfache Menschen, keine Kommandeure. Das haben mir Augenzeugen berichtet. Alle Kommandeure sind am Leben geblieben.“
Zur Zeit des Fastenbrechens seien diese Taliban ins Dorf gegangen, so Popal, und haben die Bewohner eingeladen, sich etwas von dem Benzin abzuzapfen, damit die im Schlamm feststeckenden Fahrzeuge leichter würden.
Seine Recherchen in Afghanistan wurden dort misstrauisch beäugt. Bei seinem letzten Aufenthalt in Afghanistan hat er sogar die Morddrohung eines ominösen Mulla Hassan erhalten, vorgeblich ein Taliban.
Popal selbst vermutet dagegen, dass kein geringerer als Gouverneur Omar hinter dieser rabiaten Einschüchterungsmaßnahme stecken könnte. Popals Handynummer sei nur ihm oder seinen Mitarbeitern bekannt gewesen. (6)
„Ich habe ihn im Verdacht“, sagte Popal gegenüber Hintergrund. „Vor Ort ist ein Taliban-Kommandant namens Mullah Hassan nämlich nicht bekannt. Selbst der Leiter der Sicherheitsabteilung zur Terrorismusbekämpfung in Kundus kennt keinen Mullah Hassan. Vermutlich hat sich der Gouverneur irgend einen Phantasienamen ausgedacht, damit ich so schnell wie möglich aus Kundus ausreise. Ich habe zwei Monate in Kundus gegen seine Aussagen recherchiert. Er möchte aber nicht als unglaubwürdig dargestellt werden. Bei meiner ersten Reise nach Kundus, die ich noch allein, ohne meinen Anwaltskollegen unternahm, sagte er mir: ‚Herr Popal, ihr Leben ist in Gefahr. Wir können ihnen nicht helfen.’ Er wollte, dass ich so schnell wie möglich wieder weggehe.
Er wusste damals nicht, dass ich bereits ein Team gebildet hatte. Er wusste nicht, dass ich vor Ort Leute habe, die für mich arbeiten. Ich habe meinen Leuten dann gesagt, dass ich nicht lange bleiben kann und sie in meinen Namen recherchieren sollen. Ich habe ihnen Vollmachten erteilt, damit ihnen die Menschen vertrauen. Mein Team setzt sich zusammen aus Parlamentsabgeordneten, Vertreterinnen von Frauenorganisationen und Angehörigen von Menschenrechtsorganisationen, die völlig unabhängig sind. Sie haben nichts zu tun mit Warlords, der afghanischen Regierung, dem Gouverneur von Kundus oder den Amerikanern. Weil diese Leute unparteiisch sind, ehrlich, ohne jede Befangenheit, habe ich sie beauftragt, für mich zu recherchieren.“
Regieren gegen die Bevölkerung
An dieser Stelle konnte nur ein, wenn auch zentraler Baustein der Desinformationspolitik der Bundesregierung in Sachen Kundus-Massaker näher beleuchtet werden.(7)
Deutlich geworden ist, dass die Bundeskanzlerin und ihr Kabinett vor und nach der Bundestagswahl ihrem vollmundigem Versprechen nach rückhaltloser Aufklärung vom 08. September dieses Jahres nicht gerecht geworden sind.
Drei Monate später wird allmählich deutlich, dass Angela Merkel ihr Amt nachhaltig beschädigt hat. Die Mehrheit der Bevölkerung fühlt sich von ihrer Regierung betrogen und belogen.
Der Rücktritt von Verteidigungsminister Jung und die Selbstkorrektur seines Nachfolgers Guttenberg haben eine tiefgreifende „Vertrauenskrise“ (Michael Strempel, ARD, 03.12.2009) der Bundesregierung nicht mehr abwenden können.
Von und zu Guttenberg, aber auch Angela Merkel hätten nun, auch unabhängig vom Walten des Untersuchungsausschusses zum Kundus-Massaker, allen Grund darüber nachzudenken, selbst die politische Verantwortung für das informationspolitische Versagen ihrer Regierung zu übernehmen.
Denn mittlerweile glauben laut einer von der ARD in Auftrag gegebenen und am 03. Dezember in den „Tagesthemen“ veröffentlichten Umfrage nur noch 19% der Bevölkerung daran, dass es sich bei den vom Verteidigungsministerium und der Bundesregierung gestreuten „Fehlinformationen“ um Ausnahmen handelt. Die überwiegende Mehrheit, 72 Prozent, geht davon aus, dass es sich nicht um Einzelfälle gehandelt habe.(8)
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Nur noch 27 Prozent meinen, dass die Bundeswehr in Afghanistan bleiben sollen. 69 Prozent sind für einen möglichst raschen Abzug der deutschen Truppen.
Anscheinend gänzlich unbeeindruckt von der Meinung der überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung beschlossen die Parlamentarier des deutschen Bundestages am Donnerstag (3.12.2009) mit einer satten Mehrheit von 445 der abgegebenen 593 Stimmen erneut die Verlängerung des blutigen Kriegseinsatzes der Bundeswehr in Afghanistan um ein weiteres Jahr. Allein die Fraktion der Linken stimmte nach wie vor geschlossen dagegen.
Anmerkungen:
(1) So die gründlich vor Ort recherchierten und nach Altersklassen differenzierten Angaben der deutschen Opferanwälte. Vgl.http://www.hintergrund.de/20091127540/politik/inland/tats%C3%A4chliche-opferzahlen-des-massakers-von-ku ndus-bekanntgegeben-179-zivile-opfer-und-5-taliban.html
Die veröffentlichten Zahlen des überwiegend geheimen Berichts der NATO-Untersuchung sind dagegen denkbar ungenau und zudem widersprüchlich. Die Rede war von 17 bis 142 Toten. Davon wiederum sollen bis zu 30 Personen zivile Opfer gewesen sein.
(2) Vgl. zu diesem Strang der Vertuschungsstrategie ausführlich: http://www.hintergrund.de/20091127540/politik/inland/tats%C3%A4chliche-opferzahlen-des-massakers-von-kundu s-bekanntgegeben-179-zivile-opfer-und-5-taliban.html
(3) Mellenthin, Knuth: „Der Ertrinkende und sein Strohhalm“, in junge Welt, 09.09.2009,http://www.knutmellenthin.de/artikel/aktuell/aktuelle-artikel/der-ertrinkende-und-sein-strohhalm-9920 09.html
(4) Ebd.
(5) Ebd.
(6) So Popal im Interview mit der jungen Welt am 01. Dezember 2009.
(7) Weitere Analysen in Hintergrund, Heft 4, 2009, seit Anfang Dezember am Kiosk.
(8) http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video614268.html